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VIER

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Diana, das jüngste der vier erwachsenen Mitford-Kinder, war traditionell meine Lieblingsschwester gewesen. Wir waren sieben Jahre auseinander, so daß wir einander im Schulzimmer nur knapp verpaßt hatten; Diana war etwa zu der Zeit, als meine Schulzimmertage begannen, zum Lernen nach Paris geschickt worden. Boud, Debo und ich waren zu nahe beisammen, als daß wir hätten Freundinnen werden können. Wir waren uns beim wilden, konkurrierenden Kampf, erwachsen zu werden, gegenseitig im Wege. Boud, drei Jahre älter als ich, haßte es, zusammen mit mir und Debo zu »den Kleinen« gezählt zu werden; ich wiederum protestierte unter Tränen dagegen, daß ich mit der zwei Jahre jüngeren Debo »die Babys« abgeben sollte. Nancy war zu scharfzüngig und sarkastisch, um längere Zeit irgendjemandes Lieblingsschwester zu sein. Plötzlich spürte man den durchdringenden Blick ihrer Smaragdaugen und hörte sie sagen: »Jetzt aber rauf ins Schulzimmer, wir haben alle genug von dir«, oder sie bemerkte, wenn man sich besondere Mühe gegeben hatte, das Haar in Löckchen zu legen: »Du siehst aus wie die älteste und häßlichste der Brontë-Schwestern.« Pam ging, auch nachdem sie die Hoffnung aufgegeben hatte, ein Pferd zu werden, zu sehr im sturen Landleben auf, ohne die ruhelose, unausgedrückte Sehnsucht nach Veränderung, die in der einen oder anderen Form den Rest von uns gepackt hatte. Aber Diana hatte, was es für eine Lieblingsschwester brauchte. Sie war gelangweilt und rebellisch genug, sie folgte Nancys Spuren. Wenn sie keine Streiche ausheckte, so lachte sie doch laut darüber; und sie war geneigt, sich für mich zu interessieren.

Die Wahl der Namen, die meine Mutter für ihre Kinder getroffen hatte, schien in einigen Fällen von großer Hellsichtigkeit. Nancy war nach den Nancys der Matrosenballaden benannt, und ihr dichtes dunkles Lockenhaar, das sie (nach dem notorischen Pagenschnitt) recht kurz und nach oben trug, ihre hochgewachsene, modisch knabenhafte Figur und ihre Neigung zum Exotischen gaben ihr in der Tat das Aussehen einer eleganten Piratenbraut. Boud, auf »Unity Valkyrie« getauft (eine sehr seltsame und deshalb offensichtlich prophetische Namenwahl für ein drei Tage nach Ausbruch des Kriegs mit Deutschland geborenes Mädchen), entsprach der Vorhersage schon in frühem Alter und nahm immer mehr das Aussehen einer flachshaarigen Kriegsjungfrau an. Diana wirkte wie die Jagdgöttin auf einem Titelbild von Vogue mit ihrer großen, recht athletischen Gestalt, dem blonden Haupt und vollkommen regelmäßigen Zügen, eher modern als griechisch.

Diana war diejenige, die geduldig versuchte, mir das Reiten beizubringen. Tag um Tag zogen wir in Reithosen aus, sie auf ihrer grauen Stute, ich auf meinem grobschlächtigen kleinen Pony Joey; Tag um Tag las sie mich geduldig vom Stoppelacker auf, wenn ich wieder hinuntergefallen war. »Versuch doch diesmal, dich festzuhalten, Darling. Du weißt, wie böse Muv wird, wenn du dir wieder den Arm brichst.« (Ich konnte schon vor dem zehnten Geburtstag stolz auf zwei Armbrüche zurückschauen. »Arme kleine D., elastisch ist sie wirklich nicht«, seufzte meine Mutter.) Diana half mir beim Klavierüben und ermunterte mich, Französisch zu lernen. Sie präsentierte mich, wenn Besuch da war. »Komm, Decca, sing doch mal ›I’m Sex Appeal Sarah‹ auf Boudledidge« – und mit wild rollenden Augen und der obligatorischen Boudledidge-Grimasse legte ich los:

»Eem dzegs abbidle Dzeedldra, / Me buddldy grads beedldra / Idge deedem ee abeedldron ge dzdedge.« Diana übersetzte und sah sich dabei vorsichtig um, ob meine Eltern auch nicht in Hörweite waren: »I’m Sex Appeal Sarah, / My body grows barer / Each time I appear on the stage.«

Unvermeidlicherweise war ich, als Diana während ihrer ersten Londoner Saison sich mit Bryan Guinness verlobte, leidenschaftlich auf »ihrer Seite«. Daß man hinsichtlich dieses Ereignisses verschiedene Seiten wählte, gehörte zum traditionellen Muster unserer Familienstreitigkeiten. Jegliche Veränderung – ein neuer Haarschnitt, ein neuer Hund, das Mitbringen eines neuen Freundes – führte in Swinbrook zu einer wütenden Auseinandersetzung, gefolgt von einer unbehaglichen Periode der Streitereien, ehe wieder ein Waffenstillstand erfolgte. Sich zu verloben, das war die kühnste, aufrührerischste Tat, die je eines von uns Kindern begangen hatte, eine, die unweigerlich ein Ruf zu den Waffen war. Es war ein ehernes Gesetz, daß meinem Vater sämtliche jungen Männer mißfielen und Monate der Feindseligkeit jeglicher Ehe vorausgehen würden, die eine von uns eingehen wollte.

Boud, Debo und ich blieben wie üblich von dem drunten tobenden Streit ausgeschlossen. Doch es gelang uns, aus zweiter Hand vieles über diese Verlobung zu erfahren, und wir fügten unsere eigenen Spekulationen hinzu. Bryan schien viele gute Eigenschaften zu besitzen. Er war jung, ein paar Jahre älter als Diana, sah gut aus, war einigermaßen intellektuell, war jedoch in dieser Richtung nicht allzuweit gegangen (bis jetzt war er weder ein Schriftsteller noch ein Künstler), ritt gerne, war offensichtlich wahnsinnig in Diana verliebt … Trotzdem reihten sich die erwachsenen Verwandten einmütig hinter Farve in die Abwehrphalanx gegen diese Heirat ein. Tanten und Onkel wiesen mit zungenschnalzender Mißbilligung darauf hin, daß Diana erst achtzehn war – »kaum aus dem Schulzimmer raus«. Wir bekamen mit, daß Muvs hauptsächlicher Einwand sich auf die Tatsache bezog, daß Bryan »so fürchterlich reich« war. »Wahrscheinlich ist es deswegen, weil Bryans Familie ihr Geld mit Geschäften gemacht hat«, meinte ich zu Debo. »Sie stellen sich vor, daß die arme Diana dann auf Plakaten erscheint, ›Guinness is Good For You‹, du weißt schon.«

Der Reichtum der Familie Guinness mag tatsächlich etwas mit dem Widerstand meiner Mutter zu tun gehabt haben. Sie selbst hing mit starken Gefühlen an der Tugend der Sparsamkeit – die bei einer achtzehnjährigen Braut kaum gefördert würde, wenn sie plötzlich über eines der größten Vermögen Englands verfügte. Muv betrieb immer einigermaßen überflüssige Einsparungsmaßnahmen an seltsam ausgewählten Stellen. Einmal rechnete sie die Kosten für das Waschen und Bügeln von neun Servietten bei drei Mahlzeiten am Tag an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr aus, kam auf eine unerhörte Summe und verbannte die Servietten für immer aus unserem Eßzimmer. Papierservietten waren natürlich undenkbar und individuelle Serviettenringe unsäglich abstoßend. Zu ihrem Ärger brachte der Daily Express die Geschichte von unseren serviettenlosen Mahlzeiten unter der Schlagzeile »Adlige Pfennigfuchser«. Muv ließ nichts unversucht, uns für das Thema sparsamer Hauswirtschaft zu interessieren, und setzte einmal einen Preis von einer Halfcrown für das Kind aus, welches für ein junges Ehepaar mit einem Jahreseinkommen von £ 500 das klügste Budget entwerfen konnte. Nancy ruinierte den Wettbewerb, indem sie ihre Ausgabenliste mit dem Eintrag »Blumen – £ 490« begann.

Dianas Methode, ihr Ziel zu erreichen – vielleicht die einzige außer einer glatten Entführung durch den Verlobten, die Erfolg versprach –, bestand darin, den ganzen Winter lang zu trotzen. Sie blieb die meiste Zeit auf ihrem Zimmer und wahrte, wenn sie ins Wohnzimmer herabkam, ein störrisches Schweigen, während sie mit leerem Blick aus dem Fenster schaute. Diese Strategie, einen Wunsch durchzusetzen, war mir nicht völlig unbekannt. Vor einigen Jahren hatte Debo erfolgreich um einen Pekinesen geschmollt und die eherne Familienregel umgeworfen, daß niemand unter zehn einen Hund besitzen durfte.

»Ich frage mich, ob Diana sich wirklich in Sehnsucht verzehrt oder ob sie bloß übt, wie es sich anfühlt, wenn man fürchterlich reich ist«, sagte ich zu Debo.

Der Anblick der sich verzehrenden – oder aber die Existenz im Reichtum übenden – Diana rückte mir wie kaum etwas anderes die Monotonie des Lebens in Swinbrook ins Bewußtsein, seiner Ferne zu allem, was irgendwie aufregend war. Wie Gefangene in ihren Zellen einander ihre unerträgliche Unruhe mitteilen und so mit der Zeit einen Massenaufruhr auszulösen vermögen, so gelang es Diana, ihre Langeweile auszustrahlen. Mitfühlend ging mir fast obsessiv mein Von-Zuhause-Fort-Konto durch den Kopf, und ich schickte jeden Shilling und jeden Penny, den ich zusammenkratzen konnte, an die sehr geehrten Herren bei Drummond’s.

Diana machte mit ihrer Kampagne, die Erlaubnis zur Heirat mit Bryan zu bekommen, langsame, aber stetige Fortschritte, und nach ein paar Monaten zogen meine Eltern zögernd ihre Einwände zurück.

Ich konnte inzwischen in diesem Winter durch einen glücklichen Zufall einen unerwarteten Zuwachs auf meinem Konto verbuchen. Ein außerordentlich scharfer Schmerz überkam mich eines Morgens mitten beim Frühstück. Da ich noch nie irgendwelche Bauchschmerzen gehabt hatte, wußte ich sofort, daß es der Blinddarm war. »Arme kleine D., ich nehme an, du hast zuviel gegessen«, sagte Muv mitfühlend. »Wenn du wirklich so schreckliche Schmerzen hast, sollten wir wohl den Doktor holen« – doch statt dessen begab sie sich auf ihre tägliche Inspektionstour zu den Hühnern. Der Schmerz plagte mich weiter, also rief ich Dr. Cheattle in Burford an: »Wären Sie so freundlich, vorbeizukommen und mir den Blinddarm herauszunehmen?« fragte ich ihn. Er war in überraschend kurzer Zeit da. Muv kam von den Hühnern zurück, und sie und Nanny deckten auf Dr. Cheattles Anweisung alle Möbel im Kinderzimmer mit weißen Laken ab. Farve wurde aus dem Schließzimmer geholt, um seine übliche Rolle als selbsternannter Oberaufseher der Operation zu übernehmen. Dr. Cheattle bedeckte mir das Gesicht mit einem chloroformgetränkten Taschentuch.

Da er ein ungewöhnlich verständnisvoller Arzt war, überreichte er mir den Blinddarm, sobald ich aus der Narkose erwachte, in einem alkoholgefüllten Glas. Debo drückte sich neidisch im Zimmer herum. »Was hast du für ein Glück, hast so einen süßen kleinen Blinddarm in einer Flasche«, sagte sie. Es war gar nicht schwierig, ihr dafür ein Pfund abzuschwatzen, das sie seit ihrem letzten Geburtstag gespart hatte. Ein paar Wochen später spülte Nanny den Blinddarm die Toilette hinunter. »Ekelhaftes Ding, und außerdem fing’s an zu riechen.« Debo weinte bitterlich, aber das Pfund war sicher bei Drummond’s deponiert.

Operationen waren so ziemlich die einzige Form ärztlicher Behandlung, die meine Mutter »erlaubte« – mit der Begründung, daß die Bibel sie in dem Vers »Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiße es dir aus« sanktionierte. Nach einer Blinddarmoperation galt in jener Zeit wochenlange strikte Bettruhe als unumgänglich, aber meine Mutter ließ mich heimlich sogleich im Zimmer umhergehen, nachdem das Betäubungsmittel verflogen und Dr. Cheattle gegangen war. Sie mißtraute grundsätzlich allen Ärzten und allem, was sie taten. Dr. Cheattle wurde nur bei seltenen Gelegenheiten geholt, und selbst dann befolgte man seine Instruktionen niemals. War er außer Sicht, goß Muv rasch sämtliche Medikamente in den Ausguß. »Fürchterliches Zeug! Der gute Körper schüttelt die Krankheit ab, wenn man ihn sich selbst überläßt.«

Muv sah in mir den lebenden Beweis ihrer Gesundheitstheorie. In meiner Kindheit kam der Doktor fünfmal – öfter als bei allen anderen Kindern zusammen –, und jeder Besuch war eine erneute Herausforderung für die Theorie vom guten Körper, die sich gegen die medizinische Orthodoxie durchzusetzen hatte, eine neue Gelegenheit, dem vielgeprüften Dr. Cheattle ein Schnippchen zu schlagen. Er kam mit seiner schwarzen Tasche voller Pillen, Chloroformflaschen, Schienen und Bandagen. Die Untersuchung fand gewöhnlich im Wohnzimmer statt, wo Eltern, Schwestern, Onkel, Tanten und jeder, der gerade zufällig anwesend war, ihm genau auf die Finger sehen konnten.

Als ich mir das erste Mal den Arm brach, schläferte mich Dr. Cheattle auf dem Wohnzimmersofa mit dem üblichen chloroformgetränkten Taschentuch ein und richtete den Knochen mit einer komplizierten Anordnung von Bandagen und Schlingen. Er sagte meiner Mutter, man solle den Verband bis zu seinem nächsten Besuch nicht verändern. Muv aber nahm noch in derselben Nacht alle Bandagen ab und ließ mich mit dem gebrochenen Arm Übungen machen, »um zu verhindern, daß er steif wird«. Da sie die Bandagen nicht wieder wie vorher anbringen konnte, sagte sie Dr. Cheattles zweiten Besuch ab, weil sie befürchtete, er könnte verärgert sein, weil sie seine Anweisungen nicht befolgt hatte. Einigermaßen überraschend triumphierte der gute Körper, wie Muv zuversichtlich prophezeit hatte: Der Arm heilte nicht nur von selbst, ich hatte nun sogar interessanterweise ein Gummigelenk, zum Neid von Debo und Boud.

Dr. Cheattle verschrieb bei einem Fall von Typhus, als ich fünf war, eine Minimaldiät, die aus nichts als aus kleinen Schlucken Wasser bestand. Er erklärte, Thyphus perforiere den Magen des Kranken, und jegliche feste Nahrung würde herausfallen und den sicheren Tod herbeiführen; Muv aber schmuggelte Stückchen Schokolade und Butterbrot unter den Augen der Krankenschwester ein, und wieder obsiegte der gute Körper.

Möglicherweise hatte der totale Krieg meiner Mutter gegen die Bazillentheorie (zusammen mit meiner tolldreisten Aufklärung der Tanzstundenmädchen) zu unserer völligen Isolation von allen anderen Kindern beigetragen. Die Familien der Nachbarschaft waren zutiefst schockiert gewesen, als auf dem Höhepunkt meiner Typhusinfektion und wider alle Anweisungen des Arztes Nancys erster Ball wie geplant in dem bazillenverseuchten Haus abgehalten worden war. Anschließend wies Muv triumphierend darauf hin, daß keiner der Gäste erkrankt war: »Wenn man’s bekommen soll, dann bekommt man’s, das ist alles. Offensichtlich waren am Typhus von der kleinen D. gar keine Bazillen schuld, es hat ja meilenweit keine anderen Fälle gegeben.« Krankheiten, auch wenn sie allgemein als überaus ansteckend galten, änderten niemals irgendwelche Pläne der Familie. Wir wurden – mit Windpockenschorf bedeckt oder würgend vor Keuchhusten – zu Hochzeiten, Geburtstagen, Weihnachtsfeiern mitgenommen, zur großen Empörung anderer Mütter. »Diese alberne Bazillentheorie ist was ganz Neues«, sagte Muv gelassen. »In Wirklichkeit haben die Ärzte keine Ahnung, woher die Krankheiten kommen, deshalb erfinden sie immer irgendeine neue Theorie.«

Alles in allem hatte sich die Blinddarmentzündung gelohnt; ich hatte nun noch eine wunderbare achtzöllige Narbe zu meinem Gummigelenk und ein weiteres Pfund für den Tag, an dem ich fortlaufen würde. Und die schöne lange Rekonvaleszenz gab eine nette Abwechslung vom täglichen Einerlei ab.

Kurz nach meiner Genesung fuhren wir alle nach London, ausreichend lange vor Dianas Hochzeit.

Hunnen und Rebellen

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