Читать книгу Hunnen und Rebellen - Jessica Mitford - Страница 11

SECHS

Оглавление

Nach Dianas Heirat senkte sich in Swinbrook wieder die vertraute Atmosphäre drückender Monotonie auf uns herab – das erstickende Gefühl, daß Umgebung, Familie, Lebensführung für immer und ewig dieselben sein würden. Es wirkte auf uns drei im Schulzimmer auf verschiedene Weise. Boud ertrug alles in drohendem Schweigen. Sie überredete meine Mutter, ihr im obersten Stock einen Raum als privates Wohnzimmer zu überlassen – bekannt als WZA, das Wohnzimmer außerhalb –, und dorthin zog sie sich mit ihrem Malkasten und den anderen Kunstmaterialien zurück, um ihre eigenen Phantasien zu erschaffen. Debo, die Swinbrook liebte und sich niemals nach London oder dem Ausland sehnte, war kein Problem. Sie warf sich energisch auf die Aktivitäten des Upperclass-Landlebens. Sie war eine hervorragende Reiterin, lebte für die Jagdausritte an den Samstagen und verbrachte Stunden mit den Hühnern oder beim Flohen ihres Dackels Jacob.

Für mich wurde im Alter von dreizehn Jahren das unveränderliche Einerlei des Lebens mit einem Mal unerträglich. Der einzige mildernde Umstand war es, daß gelegentlich Tuddemy da war, der zuhause für seine Prüfungen lernte. Manchmal ließ er mich Abschnitte aus großen muffigen Rechtsfolianten lesen und aus dem, was ich gelesen hatte, mögliche Examensfragen konstruieren, um ihn zu testen. Obwohl er zehn Jahre älter war, erinnerte er sich vielleicht noch an das Unbehagen der frühen Jugend und hielt harte Arbeit für die beste Kur. Er setzte mich auf Milton an, auf Balzac und auf Boswells Leben Johnsons – Bücher, die ich ohne sein Insistieren nie gelesen hätte.

Mir wurde schuldbewußt klar, daß die äußeren Umstände nicht ausschließlich verantwortlich waren für meine unklare Malaise, denn objektiv betrachtet war das Leben höchst abwechslungsreich. Tatächlich plante meine Mutter nun, da wir alle heranwuchsen, ständig irgendwelche Aktivitäten zu unserer Unterhaltung. Wir wurden zum Wintersport in die Schweiz mitgenommen, nach Schweden, um die schönen Städte und Strände zu sehen, im Sommer an die englische Küste. Doch selbst diese Exkursionen blieben, so sehr ich mich zunächst immer auf sie freute, unbefriedigend. Es war, als sei ich auf meinen Reisen eine kleine Figurine in einer dieser Glashalbkugeln, in denen ein künstlicher Schneesturm anhebt, wenn man die Kugel schüttelt – und ganz gleich, wo ich war, in einem Zugabteil, auf einem Schiff, in einem Hotel im Ausland, es gab aus dem Glas kein Entrinnen. Unsichtbare Grenzen sperrten mich ab vom wirklichen Leben anderer Leute, wie es überall um mich her stattfand – es gab feste Regeln, nicht mit fremden Leuten zu sprechen, in keinen Film zu gehen, wenn Muv ihn nicht zuerst gesehen und gebilligt hatte, nirgendwo ohne erwachsene Begleitung hinzugehen; es gab ausschließlich die Gesellschaft meiner Familie; es gab vor allem das vernichtende Bewußtsein meiner eigenen Beschränktheit.

Die Bibel behauptet ohne weiteres: »Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war« – als ob das so einfach wäre, und ohne ein Wort zu der unruhigen Übergangsphase, der nervösen Suche nach der eigenen Persönlichkeit, der Sehnsucht nicht nur einfach nach Unabhängigkeit, sondern nach jener besonderen Form der Unabhängigkeit, die sich – wie man dunkel empfindet – mit der Selbsterkenntnis einstellen wird.

Ich maß mich an Figuren aus der Welt der Bücher und probierte sie innerlich an, so wie eine Frau, die eine Modezeitschrift durchblättert, sich bei jedem Kleid vorstellt, wie sie darin aussehen würde. Doch selbst mein neuerworbener Busen blieb weit hinter den Busen der Literatur zurück! Er trug lediglich zu meiner allgemeinen Pummeligkeit bei. »Schaut euch Deccas knospende Brust an!« sangen Boud und Debo spöttisch – aber ach! eine Taille gab es nicht dazu. Im Gegensatz zu den »schneeigen Hügeln, blaugeädert« der elisabethanischen Lyrik war der Effekt eher der eines Plateaus, besonders wenn ich in das »Korsett« gezwängt wurde, das Nanny bei heranwachsenden Mädchen für angemessen hielt, und ein ausgesessenes Tweedkostüm trug.

Eine Dreizehnjährige ist ein Kaleidoskop verschiedener Persönlichkeiten, wenn nicht in vieler Hinsicht überhaupt nur ein Erzeugnis ihrer eigenen Phantasie. In diesem Alter hängt es weitgehend von dem gerade gelesenen Buch ab, was und wer man ist. Man ist die blonde, magere kleine Heldin von The Secret Garden, die sich langsam an die strenge Disziplin des englischen Lebens auf dem Land gewöhnt, nachdem sie in Indien von der treuen Ayah verzogen worden war. Man ist eine Brontë-Schwester (nicht Anne, nicht Charlotte, wahrscheinlich Emily), die ihr wildes Genie auf der einsamen Torfheide verströmt. Man ist Elizabeth Barrett Browning auf dem Krankenlager, die großen leuchtenden Augen starren aus dem abgezehrten Gesicht, man ist das hilflose Opfer eines engstirnigen, rachsüchtigen Vaters – aber der eigene eiserne Wille wird am Ende über diese kleinliche Tyrannei obsiegen. Man ist Jane Eyre, elend, dünn und blaß, aber unbeugsam, und man kann der Grausamkeit der hassenswerten Reeds widerstehen und ihnen am Ende nach ihrem Sturz verzeihen. Ein oder zwei Tage lang ist man vielleicht eine hochgewachsene, ernste, dunkeläugige Präfektin der sechsten Klasse aus einer von Angela Brazils Schulgeschichten, angebetet von den jüngeren Mädchen und – obwohl voller kleiner menschlicher Schwächen – der Stolz und die Freude der Rektorin. Manchmal ist man sogar Clara Bow, das Girl mit dem gewissen Etwas, das Tausende mit seiner warmen Schönheit und kehligen Stimme in Bann schlägt, oder die mysteriöse schwedische Zauberin Greta Garbo.

Doch wenn man sich dann im Spiegel erblickt, bemerkt man traurig, daß all diese Frauen äußerst schlank sind, man selbst aber rund und gesund; sie sind entweder außergewöhnlich schön oder von attraktiver Häßlichkeit, man selbst aber ist nur durchschnittlich hübsch. (Ärgerlicherweise hätte sich Debo, so wie sie aussah, als fast jede beliebige Heroine fühlen können, tragisch oder romantisch, die sie hätte sein wollen. Sie hatte die richtige Figur, wunderbar schmal und langbeinig, die Blässe, die großen Augen, das glatte blonde Haar, sie hätte sich’s von der Jungfrau von Orleans über National Velvet bis Anna Karenina aussuchen können – aber da sie außer Sporting Life niemals etwas las, war ihr offenbar nicht klar, was sie versäumte.)

Plötzlich wird man sich bewußt, daß die Hundertschaften von Menschen, die man im Lauf eines Tages in London sieht – Männer mit Regenschirmen und im Wind flappenden Mänteln, Damen, die mit ihren Paketchen im grauen Regen einherhasten – genauso wirklich sind wie man selber, alle mit einer eigenen Individualität, einer Vergangenheit, sogar einer Kindheit im Hintergrund. Bis dahin waren die Leute außerhalb der Familie zweidimensionale Halbmenschen gewesen, nur ein Teil der Lebenskulisse. Mit dem aufdämmernden Bewußtsein der eigenen Person ist die Realität anderer Menschen – über fünfzig Millionen allein in England! – etwas, das man von Zeit zu Zeit erfassen kann, dann entzieht es sich wieder, die Weite ist unübersehbar, es gelingt einem nicht.

Man entdeckt das Leid – nicht nur das eigene, von dem man weiß, daß man weitgehend selbst daran schuld ist, auch nicht die Kindheitsschmerzen, die man wegen Black Beauty, David Copper­ field oder Blakes kleinen Schornsteinfegern ausgestanden hat; man erhascht beunruhigende, grelle Blicke auf die wahre Bedeutung von Armut, Hunger, Kälte, Grausamkeit.

Die Eisenbahnfahrt nach London führte meilenweit durch Reihen riesiger Mietskasernen, auf allen Seiten umgeben von dichtbestückten Wäscheleinen, die in der dreckigen Luft Londons hingen. Manchmal konnte man vom Zug aus Trupps bleicher, zerlumpter Kinder sehen oder hagere junge Frauen mit Männermützen, die blasse Babys daherschoben. Die Zeitungen brachten immer wieder Meldungen über Härtefälle – eine ganze Familie, die in einem einzigen Raum lebte, Kinder, die im Winter erfroren waren, Rentner, die sich keinen Zucker in den Tee leisten konnten.

Was konnte man gegen all das tun? Ich quälte und ärgerte mich wegen meiner Unfähigkeit, eine Lösung zu finden. Nanny dachte, es wäre hübsch, wenn ich einer Organisation namens »Sonnenstrahlen« beitreten würde. Die Idee war, daß ein reiches Kind die Adresse eines armen Kindes bekam, daß sie Brieffreunde wurden und daß das reiche Kind von Zeit zu Zeit alte Kleider oder Spielsachen schickte. Nancy hatte der Organisation einst angehört, als sie klein war, aber sie hatte die Adresse ihres Sonnenstrahls verloren und ihren Brief kurzerhand mit der Anschrift »Tommy Jones, Im Slum, London« versehen, zum Zorn von Nanny, die das gar nicht nett fand. Ich schrieb mich enthusiastisch als Mitglied ein.

Mein Sonnenstrahl war ein Mädchen namens Rose Dickson, ein Jahr älter als ich. Ich verbrachte Stunden damit, alte Strickjacken und Röcke zu aufregend aussehenden Paketen zusammenzuschnüren, und gab mein ganzes Taschengeld für Rose zugedachte Geschenke aus. Ich stellte mir vor, wie meine Briefe – die einen stark romantisch überhöhten Bericht über mein Leben in Swinbrook enthielten – viel Freude in ihr ansonsten ödes Leben brachten. Ich schilderte mich als eine Art Kreuzung aus Little Lord Fauntleroy und Sarah in The Little Princess. Meine täglich erfolglosen Versuche, den rüden kleinen Joey zu bemeistern, der es gewöhnlich fertigbrachte, mich abzuwerfen, wurden zu furchtlosen Galoppaden durch Wald und Flur auf meinem Rassepferd. Mein Spaniel Tracy erschien als mächtiger Mastiff von ungewöhnlicher Intelligenz und Sensibilität, treu und sanft zu seiner Herrin, aber eine wahrhaft gefährliche Bestie, wenn ein Fremder ihm zu nahe trat.

Rose schienen die Briefe zu gefallen. Die ihren an mich waren in einem höchst blumigen Stil und in strikt phonetischer Schreibweise gehalten, und ich fand sie faszinierend. Sie war eines von sechs Kindern, und sie beschrieb in herzzerreißendem Detail die elenden Bedingungen, unter denen sie lebten – alle sechs schliefen in zwei Betten in einem kleinen Raum.

Ich war nachgerade besessen von der Idee, wir müßten Rose um jeden Preis aus London wegholen. Ich bettelte bei meine Mutter, sie zu Besuch kommen zu lassen. »Ich glaube wirklich nicht, daß das ginge, kleine D.«, sagte Muv vorsichtig. »Stell dir vor, wie furchtbar unbehaglich sie sich fühlen würde.« Nach einer wochenlangen Kampagne meinerseits hatte meine Mutter eine Idee. Sie würde Rose, die jetzt vierzehn war und die Schule hinter sich hatte, einstellen – als sogenannte Tweeny (die Bezeichnung für die between maid, welche der Köchin wie dem Stubenmädchen zur Hand gehen muß).

Ich war angesichts dieser Entscheidung überglücklich und schrieb sofort an Rose. »Es ist wie ein Meerchen das war wird!« schrieb Rose in ihrer von Dank erfüllten Antwort. »Ich fürchte, als Tweeny zu arbeiten ist nicht unbedingt wie ein Märchen«, bemerkte meine Mutter, aber natürlich glaubte ich ihr das nicht. Im Gegenteil, dies schien mir ein sehr angemessenes Bild dafür, daß jemand aus den Slums von London auf einen wunderschönen Landsitz versetzt wurde. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Rose aussehen mochte – wahrscheinlich Haut und Knochen, mit großen, innigen braunen Augen.

Endlich nahte der Tag ihrer Ankunft, und ich durfte mit dem Chauffeur zum Bahnhof fahren, um sie abzuholen. Zu meiner Überraschung war sie dick, doch hatte sie die käsigen, scharfen Gesichtszüge der sonnenlosen Londoner Kinder. Nachdem wir einander begrüßt hatten, brachten wir beide kein Wort mehr heraus und saßen auf der ganzen Fahrt nach Hause schweigend da. Die Beredsamkeit unserer Korrespondenz war auf unerklärliche, schmerzliche Weise dahin. Ich war erleichtert, als wir in Swinbrook ankamen und Rose an das oberste Hausmädchen Annie weitergereicht wurde, um über die Pflichten einer Tweeny instruiert zu werden.

Danach sah ich nicht mehr viel von ihr. Ein-, zweimal kam ich auf dem oberen Treppenabsatz an ihr vorüber, da trug sie Abwassereimer und Staubwedel und sah in ihrer Tracht anders aus. Zwei Tage nach ihrer Ankunft teilte meine Mutter mir die traurige Nachricht mit – Annie hatte gemeldet, daß sich Rose jede Nacht in den Schlaf weinte und nichts essen wollte. Annie vermutete, daß sie Heimwehqualen litt. Als man sie fragte, ob sie lieber wieder nach Hause gehen wollte, lächelte sie zum ersten Mal seit ihrer Ankunft, und meine Mutter sorgte dafür, daß sie mit dem nächsten Zug nach London zurückfuhr.

Die ganze Episode verwirrte mich und beschäftigte mich lange. War es mein Fehler? Hätte ich voraussehen sollen, daß Rose ihre Familie vermissen würde? Heimweh war mir nicht nur unbekannt – ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie sich so etwas anfühlte. Meine wenigen Wochen, die ich alleine von zuhause fortgewesen war (bei Cousinen, wenn Nanny ihren vierzehntägigen Urlaub nahm), waren für mich immer herausragende Ereignisse, kostbare Erinnerungen. Ob es vielleicht etwas mit Roses Elend zu tun hatte, daß sie als Tweeny arbeitete? Ich schlug die Pflichten dieses Berufs in Mrs. Beetons Wie man den Haushalt führt nach und las: »Die Between Maid ist vielleicht die einzige ihrer Klasse, die wirklich des Mitleids würdig ist; ihr Leben ist einsam, und in manchen Häusern geht ihre Arbeit nie zu Ende …« Vielleicht hatte es daran gelegen …

Während die Monate vergingen und die Jahre sich langsam dahinschleppten (nach dem Prinzip, daß das Wasser, dem man ungeduldig zusieht, niemals zu kochen beginnt), trat die traurige und peinliche Erinnerung an Rose langsam in den Hintergrund; sie sollte wesentlich später ersetzt werden durch neue und revolutionäre Vorstellungen, wie man die Übel der Welt beseitigen könnte. Inzwischen trat ein Ereignis ein, das so aufregend war, daß kein Raum für Bedauern und melancholische Selbsterforschung blieb. Debo und ich wurden schließlich tatsächlich einige Monate lang auf eine Schule geschickt – die Erfüllung meines innigsten Wunsches.

Wir wohnten damals im Old Mill Cottage, da die beiden anderen Häuser vermietet waren. »Von Batsford Mansion über Asthall Manor und Swinbrook House ins Old Mill Cottage« lautete unser Slogan, um den Niedergang des Familienvermögens seit Großvaters Zeiten zu beschreiben. Das Cottage war ein schönes kleines Haus am Rand von High Wycombe, und Oakdale war eine private Tagesschule für Mädchen, besucht vor allem von den Töchtern der Ladenbesitzer, Ärzte und Geschäftsleute der Stadt. Debo haßte die Schule derart erbittert, daß Muv, die einen weiteren Anfall radikalen Schmollens befürchtete, ihr abzugehen erlaubte. »Die Rektorin hat mich beim Abschied geküßt! Blöde alte Lesbe«, erklärte sie zornig. »Ach Darling, das ist äußerst ungezogen, solche Wörter darfst du nicht sagen. Und es ist auch ziemlich unfair, sie wollte gewiß nur nett sein.«

Ich andererseits genoß jede Minute in der Schule während der wenigen Monate, als ich dort war. Das Geklapper, wenn Hunderte von Mädchen durch die Gänge rannten, der ganz neue Reiz, in den Schulstunden in einen Wettbewerb mit den anderen zu treten, die riesenhaften, stark riechenden Mahlzeiten in einem enormen Speisesaal mit einer endlosen Auswahl von Mädchen, mit denen man reden konnte, das große Vergnügen, »anzugeben« und die Lehrerinnen vor den anderen Schülerinnen herauszufordern – sogar die unsinnigen Regeln gegen das Pfeifen auf dem Korridor oder das Legen der Füße auf die Bänke: all dies stieg mir zu Kopf wie Wein.

Ich hatte rasch eine »beste Freundin« in meiner Klasse. Sie hieß Viola Smythe, und eigentlich mochte ich sie nur gut leiden, sie aber verehrte mich hingebungsvoll. Wir beschlossen, einen Klub zu gründen; ich würde Präsidentin sein und Viola Vizepräsidentin. Wir legten ausführliche Regeln nieder, und die wichtigste war, daß wir uns jeden Samstag im Haus eines der Mitglieder treffen würden. Das erste Treffen sollte bei mir stattfinden. Ich fragte meine Mutter, ob ich kommenden Samstag ein paar Mädchen zum Tee einladen konnte.

»Zum Tee? O nein, Darling, natürlich nicht. Wenn du sie zum Tee hierherholst, laden sie dich wieder zum Tee bei sich ein, und du kannst dann nicht hingehen. Ich kenne ja keine von ihren Müttern, verstehst du.«

Es nützte nichts, herumzuargumentieren oder eine Begründung zu verlangen. Diese Art von Diskussion löste bei den Erwachsenen immer einen kalten, grimmigen Ärger aus, wie ansonsten Witze über den lieben Gott oder Gerede über Sex. Weshalb Viola nicht eingeladen werden konnte, das ließ sich keinesfalls offen erörtern. Die vorausgesetzte Formulierung »unpassender Umgang« wäre bereits selbst eine unpassende Äußerung gewesen. Die viktorianische Offenheit früherer Zeiten bei solch vertrackten Fragen war dahin. »Ist sie eine von uns, mein Kind?« hätte meine Großmutter einfach gefragt, um den Status der Person, um die es ging, zu bestimmen. Meine Mutter schloß sich unserem Amüsement angesichts dieser ungeheuerlichen Frage diskret an. Mittlerweile war die Klassenzugehörigkeit ein delikates Problem, ein Thema, bei dem es auf Intuition ankam und nicht auf irgendwelche Argumente, einer jener Gegenstände an der Grenze, bei denen man starke Gefühle hat, über die man aber niemals ein Wort verliert.

Es war eine sehr komplizierte Angelegenheit. Meine Eltern wären weniger schockiert als schlicht verständnislos verblüfft gewesen, hätte man ihnen Snobismus vorgeworfen. Snobismus war ja per Definition etwas, das ausschließlich in der Mittelschicht vorkam; er drückte sich in einem ungesunden Begehren aus, höher aufzusteigen, als es die eigene soziale Stellung zuließ, dorthin vorzudringen, wo man nicht erwünscht war, und dann wiederum hochmütig auf die herabzusehen, die auf der sozialen Stufenleiter unter einem kamen. Meinen Eltern wäre es nicht im Traum eingefallen, auf irgendjemanden herabzusehen; sie zogen es vor, immer stur geradeaus zu schauen, auch wenn dies ihr Gesichtsfeld begrenzte. Sie wollten auch gesellschaftlich keineswegs weiter nach oben, die »smarte«, feine Gesellschaft mißfiel ihnen eher.

Die Unterklasse war ein viel geringfügigeres Problem als die Viola Smythes der Mittelschicht. Wie der alte Choral »All Things Bright and Beautiful« es so konzis formulierte: »Der reiche Mann in seinem Schloß, / Der arme Mann an dessen Tor, / Gott schuf sie hoch und niedrig, / Er sorgt für alle vor.« Während die Smythes dieser Welt, die so unbequem zwischen den beiden fixen Polen saßen, die schleichende Gefahr des Bourgeois verkörperten.

Im Geschichtsbild meiner Eltern waren die Oberklasse, die Mittelklasse und die Arbeiterklasse dazu geschaffen, ewig auf harmonisch parallelen Schienen durch die Epochen zu reisen, auf vorgegebenen Wegen, die sich niemals begegnen oder kreuzen konnten. Doch kam es nun zu Zusammenstößen; in Rußland hatte es einen häßlichen Unfall gegeben, ein weiterer drohte in Deutschland, und jetzt im Jahre 1931 gab es zunehmende Erschütterungen selbst in England.

Hunnen und Rebellen

Подняться наверх