Читать книгу Hunnen und Rebellen - Jessica Mitford - Страница 8

DREI

Оглавление

In England auf dem Lande heranzuwachsen schien ein endloser Vorgang. Der eisige Winter wich dem frostigen Frühling und dieser einem kühlen Sommer – aber nie geschah irgend etwas. Die lyrisch sanfte Schönheit des Jahreszeitenwechsels in den Cotswolds ließ uns – buchstäblich – kalt. »Wär ich jetzt in England, / Jetzt wird es April …« oder »Narzisse, holde, wie es schmerzt, / Sinkst du so früh dahin …« – die Worte hatten eine gewisse Beschwörungsgewalt, aber ich nahm nicht viel vom April wahr, und Narzissen interessierten mich nicht. Es kam mir nie in den Sinn, mit meinem Schicksal zufrieden zu sein. Da ich kaum Kinder meines Alters kannte, mit denen ich vergleichend über ihr Leben hätte reden können, beneidete ich die Kinder in der Literatur, denen ständig interessante Dinge zustießen: »Oliver Twist hat wirklich Glück gehabt mit diesem interessanten Waisenhaus!«

Immerhin gab es gelegentliche Ablenkungen. Manchmal fuhren wir nach London in die Mews-Wohnung in Rutland Gate, wegen der Weihnachtseinkäufe (beziehungsweise der weihnachtlichen Ladendiebstähle, je nachdem, ob uns Nanny begleitete oder Miss Bunting), und manchmal, wenn Swinbrook House ein paar Monate lang vermietet war, kam es zu einer kompletten Völkerwanderung mit Nanny, Gouvernante, den Hausmädchen, den Hunden, Enid, Miranda, meiner Taube und uns allen ins Haus meiner Mutter am Rand von High Wycombe. Diese kleinen Exkursionen unterstrichen aber nur die Langweiligkeit des Alltagslebens in Swinbrook.

Es war, als seien wir in einem Winkel der Welt gefangen, wo die Jahre nicht vergingen, »Ziehkinder« wenn schon nicht »des Schweigens«, so doch gewiß »der langsamen Zeit«. Schon die Landschaft selbst, vollgestellt mit Geschichte, lieferte den bestürzenden Beweis, daß die Dinge alle unveränderlich waren. Die Straße nach Oxford, vor zweitausend Jahren von Julius Caesar erbaut, war lediglich durch einen modernen Belag zur größeren Bequemlichkeit der Autofahrer ein wenig verändert worden; römische Münzen, die der Pflug so beiläufig aufwarf, als wären sie gestern verlorengegangen, brauchte man nur aufzusammeln. Als Teil unseres Schulunterrichts legten wir Hundertjahreshefte an, eine Seite pro Jahrhundert, wo wir die Daten der hauptsächlichen Schlachten, der Könige und Königinnen, der wissenschaftlichen Erfindungen eintrugen. Die menschliche Historie schien beim Umblättern dieser Seiten so deprimierend kurz. Die Französische Revolution lag nur zwei Seiten zurück, und husch! war man mit einem Fingerschnipp im einundzwanzigsten Jahrhundert, wo wir alle tot und begraben sein würden – und was hatte es dann gebracht? Wenig genug, dachte ich melancholisch, wenn wir das ganze Leben lang hier in Swinbrook festhingen.

Das große golden umglänzte Ziel jeder Kindheit – einmal ein Erwachsener zu sein – schien endlos weit entfernt. Es gab für uns keine Etappenziele, die den langen, langweiligen Abstand ausgefüllt hätten, keinen Wechsel von einer Stufe der Erziehung zur nächsten, keine »ersten Partys« der Jugend, auf die man sich gefreut hätte. Man war ein Kind und lebte in allen Beschränktheiten des Kindlichen, von der Geburt bis zum Alter von siebzehn oder achtzehn Jahren – je nachdem, wie der Geburtstag im Verhältnis zur Londoner Ballsaison fiel. Das Leben reduzierte sich auf eine endlose Reihe zusammenhangloser Einzelheiten, die Tage wurden von Schulstunden, Mahlzeiten und Spaziergängen gegliedert, die Wochen durch gelegentliche Besuche der Freunde der älteren Geschwister, die Monate und Jahre vom Unerwarteten …

Onkel und Tanten kamen häufig zu längeren Besuchen. Da mein Vater eins von neun Kindern war und meine Mutter eins von vieren, erstreckte sich ein Netzwerk von Verwandten kreuz und quer durch England, von der schottischen Grenze bis nach London. Ganz gelegentlich wurde eine Tante oder ein Onkel auf ewig aus dem Gesichtskreis meines Vaters verbannt und in seiner Gegenwart niemals mehr erwähnt, wegen eines Vergehens wie einer Scheidung oder einer Heirat mit einem Ausländer oder einer Ausländerin, aber das waren Ausnahmen.

Die Tanten zerfielen grob in zwei Kategorien. Es gab die verheirateten Tanten, Mütter großer Familien, Aufseherinnen über umfangreiche Dienstbotenscharen, energische Treiber aller Kinder. Diese unbezähmbaren Frauen mit strengen Zügen, eisengrauem Haar, abgetragenem Tweedkostüm und rauher Haut stöberten einen an den kältesten schneeregendurchwehten Tagen des Jahres am Zufluchtsort vor dem Schließzimmerkamin auf. Bewaffnet mit einem massiven Spazierstock gab eine solche Tante einem einen derben Schlag aufs Hinterteil: »Lesen? In diesem muffigen Haus? Komm schon, komm schon, raus mit dir, mach einen schönen langen Gang, du faules kleines Ding.« Nanny deutete an, daß diese Tanten von einer unkontrollierbaren Macht angetrieben wurden, nämlich den körperlichen und psychischen Qualen des Klimakteriums, denn wenn man bemerkte: »Warum ist Tante Soundso nur so fürchterlich blöd?«, gab sie immer in bedeutungsvollem Ton zur Antwort: »Das sind jetzt eben diese Jahre bei ihr, Darling.« (Folgte man Nanny, dann war das Lebensalter einer Person die Quelle so gut wie aller persönlichen Schwierigkeiten, und sie gab stets dieselbe Antwort, wenn wir uns über jemanden beklagten, ob es sich nun um eine dreijährige Cousine, eine Schwester von siebzehn oder eine Großmutter handelte: »Du mußt bedenken, Darling, sie ist jetzt eben in diesen Jahren.«)

Andererseits gab es die altjüngferliche Tante, einen sanfteren, verhuschten Typus; die unverheiratete Tante lebte mit einem einzigen Dienstmädchen in einer kleinen Wohnung in London. Der Status der alten Jungfer hatte sich seit den Tagen Königin Viktorias eigentlich nicht verändert. Sie lebte von einer durch die Familie ausgesetzten Rente, die sorgfältig kalkuliert war, um ein notwendiges Minimum sicherzustellen, eine Summe, die man als ausreichend und nicht übertrieben hoch für die unverheirateten Töchter und jüngeren Söhne eines Peers ansah. Während es den jüngeren Söhnen freistand, ihr Einkommen durch einen freien Beruf, den Militärdienst, den Ausbau des Empire oder vielleicht sogar eine kaufmännische Tätigkeit aufzubessern, blieben solche Wege den unverheirateten Töchtern streng verschlossen, die dann im Lauf der Zeit in das Dämmerleben der Tantenschaft versanken.

Die jungfräuliche Tante war oft von der Aura einer Legende umgeben, die umso geheimnisvoller war, als diejenigen ihrer Generation, die wie meine Mutter Bescheid wußten, niemals dazu bewegt werden konnten, die ganze Geschichte zu erzählen. Die Andeutungen, die Muv gelegentlich machte, vertieften das Geheimnis nur und machten es um so beunruhigender. »Warum hat sie denn nie geheiratet?« Muvs Gesicht verdüsterte sich angesichts dieser impertinenten Neugier auf ein fremdes Privatleben. »Nun, Darling, es geht dich ja eigentlich nichts an, aber wenn du es unbedingt wissen mußt, als sie ein junges Mädchen war, da ist etwas Fürchterliches mit ihren Zähnen passiert.« »Was war das denn Fürchterliches?« »Ich glaube, das heißt Pyorrhoe. Jedenfalls fingen sie an, auszufallen, und monatelang ist es ihr noch gelungen, sie mit so kleinen Stückchen Brot anzukleben, aber es hat nicht funktioniert … Jetzt lauf, mehr sage ich dir nicht.« Wie entsetzlich! Ich konnte diese Tante niemals wieder anschauen, ohne ein junges Mädchen vor mir zu sehen (mit einer aufwendigen edwardianischen Frisur), wie es auf seinem Zimmer panisch versucht, die ruinierten Zähne notdürftig zu reparieren.

Einer anderen Tante war ein noch seltsameres Mißgeschick zugestoßen. Bei ihrem ersten Ball war ein junger Mann ihr auf den Fuß getreten. Sie mußte einige Zeit das Bett hüten, und als sie sich wieder erholt hatte, war es zu spät zum Heiraten. »Kann man denn nicht heiraten, auch wenn man zahnlos und fußlos ist?«, fragte ich Muv, aber sie runzelte die Stirn und wechselte das Thema.

Onkel Tommy, der Bruder meines Vaters, lebte nur ein paar Meilen entfernt, und deshalb sahen wir ihn öfter als alle anderen Verwandten. Ein pensionierter Kapitän der Royal Navy mit hellrosigem Gesicht und schneeweißem Haar, schien er mir wie eine fast übertriebene Bilderbuchdarstellung eines Onkels, der zur See gefahren ist. Einer von Nancys jungen Männern machte den Fehler, in Hörweite meines Vaters zu sagen: »Darling, dein Onkel ist bei weitem der schönste Mann, den ich je im Leben gesehen habe«, was bei Farve einen ungeheuerlichen Wutanfall und bei uns Kindern herzliches Gelächter auslöste.

Onkel Tommy präsidierte als Friedensrichter des örtlichen Polizeigerichtshofs und teilte in dieser Eigenschaft an die Anwohner jene Gerechtigkeit aus, die seinen Vorstellungen entsprach. Er war besonders stolz darauf, daß er eine dreimonatige Gefängnisstrafe über eine Frau verhängt hatte, die in dunkler Nacht mit ihrem Auto gegen eine Kuh gefahren war. »Einfach hinter Gitter! So kriegt man diese verdammten Weiber wieder von den Straßen runter!«

Dieses Magistratsamt brachte die Pflicht mit sich, daß er anwesend war, wenn in Oxfordshire jemand gehängt wurde. Einer erwähnte die Möglichkeit, daß ein Magistrat sich dieser Verpflichtung entledigen konnte, falls er einem berufsmäßigen Zeugen ein Honorar zahlte. »Jemand bezahlen, daß er ins Theater geht?« röhrte Onkel Tommy. »Kommt überhaupt nicht in Frage!«

Er tischte uns gerne Geschichten aus seiner Zeit zur See auf und behauptete, er habe Menschenfleisch gekostet, in Form von schwarzen Säuglingen, die als Ragout in den Häfen der südlichen USA serviert wurden. Ich fand seine Geschichten widerlich und unkomisch. Einmal wurde ich ins Bett geschickt, weil ich dem Wunsch Ausdruck gegeben hatte, die Kannibalen hätten ihn fangen und zu einer schmackhaften Suppe verkochen sollen.

Die Verwandten meiner Mutter waren sehr verschieden von den Mitfords. Ihr Bruder, Onkel Geoff, der oft auf Besuch nach Swinbrook kam, war ein kleiner, schmaler Mann mit nachdenklichen blauen Augen und zurückhaltendem Gebaren. Verglichen mit Onkel Tommy war er ein Intellektueller höchsten Ranges, und tatsächlich widersprach seine giftige Feder dem milden Aussehen. Er verbrachte den größten Teil seiner wachen Stunden damit, Briefe an die Times sowie andere Veröffentlichungen zu verfassen, in denen er seine durchaus eigenwillige Theorie vom Verlauf der englischen Geschichte darlegte. Für Onkel Geoff standen die Erfolge und Rückschläge Englands im Lauf der Jahrhunderte in direkter Beziehung zu dem Ausmaß, in welchem natürlicher Dünger oder Kompost in der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Die Pest von 1348 war die Folge des nach und nach eingetretenen Verlusts von fruchtbarem Humus unter den zusehends abgeholzten Waldbäumen. Der Aufstieg der Elisabethaner zwei Jahrhunderte später war dem verbreiteten Gebrauch von Schafdung zuzuschreiben.

Viele von Onkel Geoffs Briefen an den Herausgeber haben sich glücklicherweise in einem privat gedruckten Band mit dem Titel Schriften eines Rebellen erhalten. Einer der dort abgedruckten Briefe faßt seine Ansichten über den Zusammenhang von Dünger und Freiheit am besten zusammen. Er schrieb:

Wenn man alte Dokumente vergleicht, zeigt sich, daß unsere nationale Größe mit der lebendigen Fruchtbarkeit unseres Bodens steigt und stürzt. Und heute haben viele Jahre des erschöpften und chemisch gemordeten Erdreichs unseren Körper und, schlimmer noch, unseren Nationalcharakter schlaff werden lassen. Es ist eine schlichte Tatsache, daß der Charakter in starkem Maße ein Produkt des Erdbodens ist. Viele Jahre gemordeter Nahrung aus abgetöteter Erde haben uns allzu zahm gemacht. Die Chemikalien haben ihren giftigen Einfluß ausgeübt. Jetzt ist die Stunde gekommen, da der Wurm Englands Mannheit wiederherstellen muß! Unsere Durchschlagskraft, unseren Charakter, unsere verlorenen Tugenden und mit ihnen die Freiheit, die Inselbewohnern natürlich ist, können wir nur wiedergewinnen, wenn wir den Untergrund unserer Äcker lockern und sie so kompostieren, daß Schimmelpilze, Bakterien und Regenwürmer wieder lebendiges Erdreich herstellen, das den englischen Körper und den englischen Geist nähren kann.

Das englische Gesetz, das die Pasteurisierung von Milch vorschreibt, war ein bevorzugtes Angriffsziel von Onkel Geoff. Er liebte Alliterationen und sprach dementsprechend stets vom »Mord an der Milch«, und er gründete die »Liga zur Wiederherstellung der Freiheit«, deren Hauptquartier sich in seinem Haus in London befand und die den erklärten Zweck hatte, in dieser Angelegenheit zum Gegenangriff überzugehen. »Freiheit und nicht Doktorheit!« lautete der stolze Slogan der Liga. Eine nachgeordnete, aber doch ebenfalls wichtige Aktivität der Liga war der Einsatz für eine Rückkehr zum »unaufgeschlitzten, langsam geräucherten Hering« und zu einem Brot, hergestellt aus »englischem steingemahlenem Mehl, Hefe, Milch, Meersalz und Rohrzucker.«

Wo er ging und stand, trug Onkel Geoff Stapel von Kopien seiner Briefe an die Times und den Spectator mit sich, zusammen mit gedruckten Anweisungen zur Herstellung von unaufgeschlitzten, langsam geräucherten Heringen und hausgebackenem Brot. Meine Mutter unterstützte seine Ideen zum gesunden Leben rückhaltlos und fügte noch ein paar eigene hinzu. Sie machte sich strafbar, indem sie sich weigerte, irgendeines ihrer Kinder impfen zu lassen (»widerliche tote Keime in den guten Körper hineinpumpen!«). Es war uns nicht nur strikt untersagt, irgendwelche Konservennahrung zu essen – das mosaische Gesetz wurde so strikt wie in irgendeinem orthodox jüdischen Haushalt befolgt. Schweinefleisch, Schalentiere, Kaninchen wurden für die Schulzimmerernährung mit der Begründung verboten, daß Moses diese Nahrungsmittel als ungesund für die Israeliten betrachtet hatte, und weil meine Mutter einer Theorie anhing, daß Juden niemals Krebs bekamen.

Da ich nicht in einem Alter war, in dem man das Exzentrische zu schätzen wüßte, war ich von den Onkeln nur gelangweilt. Auch die Aussicht, den Weg entweder der verheirateten oder der unverheirateten Tanten gehen zu sollen, war nicht sehr erhebend. Unterhaltung und Lebensweise der älteren Generation erfüllten mich mit unruhiger Abneigung und dem starken Wunsch, in andere Bezirke zu fliehen.

Ich sehnte mich leidenschaftlich danach, auf eine der üblichen Internatsschulen zu gehen. Die warme, leuchtende Utopie, weit weg von zuhause mit Mädchen meines Alters zusammenzuwohnen und alle möglichen faszinierenden Dinge zu lernen, beherrschte jahrelang meine Gedanken. Aber keines der von mir vorgebrachten Argumente konnte meine Mutter in diesem Punkt umstimmen. Außerdem hatte sie das alles schon von ihren älteren Töchtern gehört, die, Pam ausgenommen, sämtlich darum gebettelt hatten, fortzudürfen. Pam war die einzige unter den vier älteren Kindern, die es stets geliebt hatte, zuhause auf dem Land zu wohnen. Als Kind wäre sie am liebsten ein Pferd gewesen, und sie verbrachte lange Stunden mit Übungen, bei denen sie realistisch mit den Hufen scharrte, den Kopf zurückwarf und wieherte.

»Ich möchte auf die Universität gehen, wenn ich groß bin«, wiederholte ich.

»Nun, Darling, wenn du groß bist, dann kannst du ja machen, was du willst.«

»Aber man kann nur auf die Universität, wenn man die Prüfungen besteht, und wie kann ich denn dafür genug lernen bei einer dummen alten Gouvernante?«

»Das ist sehr unhöflich dahergeredet. Wenn du auf eine Schule gehen würdest, wärst du wahrscheinlich kreuzunglücklich. Tatsache ist, daß Kinder immer etwas anderes wollen, als sie gerade tun. Die Kindheit ist eben ein arges Alter, ich weiß noch, daß ich mich als Kind immer elend gefühlt habe. Das kommt alles in Ordnung, wenn du achtzehn bist.«

Das also war das Leben: ein düsteres Bergmassiv wie von Doré, steil, dunkel und mühsam zu besteigen, dornenbewachsen, voller spitzer Stolpersteine – aber auf der anderen Seite würde dann, wenn man mit achtzehn den Gipfel erreichte, ein leicht zu durchwanderndes Land voller Vergnügungen liegen … Es hörte sich gut an, aber würde man je zum Gipfel emporkommen?

Doch gab es immerhin zwei große Ereignisse in den späteren zwanziger Jahren. Gut, sie fanden beide in der anderen, hellerleuchteten Welt der Erwachsenen statt, und wir Schulzimmerkinder waren nur Zuschauerinnen, die immer im interessantesten Moment unter lautem Protest aus dem Wohnzimmer gezerrt oder gescheucht wurden. Trotzdem blieben wir nicht unbeeinflußt. Diese Ereignisse, die das Leben zumindest zeitweilig über das öde, unveränderliche Einerlei emporhoben, waren das Erscheinen von Nancys erstem Roman und Dianas Heirat mit Bryan Guinness.

Über Monate hinweg hatte Nancy, hilflos-unwillkürlich kichernd, am Wohnzimmerkamin gesessen, und ihre eigenartig dreieckigen grünen Augen hatten gefunkelt vor Vergnügen, während ihre dünne Feder die Linien eines Kinderschulhefts entlangflog. Manchmal las sie uns Passagen vor. »Das kannst du nicht unter deinem Namen veröffentlichen«, sagte meine Mutter stets empört, denn die Seiten von Highland Fling waren nicht nur von lediglich oberflächlich umgezeichneten Tanten, Onkeln und Freunden der Familie bevölkert, es fand sich dort auch überlebensgroß und unter dem glücklich erfundenen Namen General Murgatroyd niemand anderer als Farve. Doch Nancy brachte das Buch unter ihrem eigenen Namen heraus, und die Leihbibliothek in Burford dekorierte sogar ihr Schaufenster mit dem handgeschriebenen Plakat »Nancy Mitford – eine Autorin von hier«.

Der General wurde dargestellt als leidenschaftlicher Organisator von Jagdgesellschaften, als ein Mann von vulkanischem Temperament, Schrecken aller Hausmädchen und Wildhüter, der den größten Teil seiner Zeit mit Tiraden gegen die Hunnen verbrachte und damit, diverse schlaff-künstlerische junge Männer mit pastellfarbenen Seidenhemden wütend anzuknurren, die immer wieder unerwartet auftauchten. Das private Argot meines Vaters – »Kloake, verdammte!« oder »Stinkt die ganze Hölle aus!« – und sein Abscheu vor allem und jedem, was irgendwie etwas Literarisches oder Ästhetisches hatte, waren lebensecht wiedergegeben.

So wurde Farve – fast über Nacht – eher eine Romanfigur als eine des wirklichen Lebens, eine garadezu sagenhafte Gestalt, selbst für uns. Mit den Jahren perfektionierte Nancy ihre Technik, ihn einzufangen und zwischen zwei Buchdeckel zu sperren, manchmal als General Murgatroyd, später als den furchterregenden Onkel Matthew in The Pursuit of Love. Sie war dabei so erfolgreich, daß selbst der Verfasser des Nachrufs in der Times, der Farve kurz nach seinem Tod 1958 schilderte, eine gewisse Unsicherheit erkennen ließ, ob er über den Right Honourable David Bertram Ogilvy Freeman-Mitford oder den »explosiven, lautstarken Onkel Matthew« schrieb.

Trotz des kurzen Streits, den es gab, als Nancy darauf bestand, Highland Fling unter eigenem Namen zu veröffentlichen, stellte sich bald heraus, daß meine Eltern und selbst die Onkel und Tanten recht stolz darauf waren, eine Schriftstellerin in der Familie zu haben. Sie führten eine frühere Miss Mitford an – Mary Mitford, Autorin eines kleinen viktorianischen Romans in der Manier von Mrs. Gaskells Cranford. Sie bemerkten wiederholt, ein solches Talent überspringe oft eine Generation, und wiesen auf die Memoi­ ren von Lord Redesdale hin, Großvaters ungeheuerlich langweilige zweibändige Geschichte des eigenen Lebens.

Was Farve betraf, so liebte er es eigentlich, General Murgatroyd zu sein. Nun, da er sozusagen klassifiziert worden war, fingen seine murgatroydischen Züge an, viel von dem Furchterregenden zu verlieren, sie wurden tatsächlich weitgehend zum Rohmaterial der Fiktion. Tatsächlich war schon zu dem Zeitpunkt, als ich das Kinderzimmer verließ, das entsetzlich lodernde Feuer etwas heruntergebrannt, und Farve war sehr viel abgeklärter als zu der Zeit, als die anderen heranwuchsen.

Das Drama von Nancys, Pams, Toms und Dianas Kindheit war damals schon legendär. Es gab da den schrecklichen Tag, als sie es gewagt hatten, einen bedeutenden deutschen Wissenschaftler zum Tee einzuladen, und Farve hatte auf eine Weise zu toben begonnen angesichts der Zumutung, er solle einen »gottverdammten Hunnen« in seinem Haus empfangen, daß die Kinder gezwungen waren, den Professor anzurufen und zu erklären, es sei wohl besser, er käme nicht. »Eine Woche lang hat niemand auch nur ein Wort gesprochen«, endete die Geschichte. Und selbst ich erinnerte mich noch an die düstere Stille, die über dem Haus hing, in dem die Mahlzeiten Tag um Tag in tränenreichem Schweigen gegessen wurden, als Nancy sich mit zwanzig eine Pagenfrisur hatte schneiden lassen. Nancy, die Lippenstift gebrauchte, Nancy, die auf der modisch gewordenen Ukulele spielte, Nancy in Hosen, Nancy mit Zigarette – sie hatte für uns alle die Pionierarbeit geleistet, aber um den hohen Preis fürchterlicher Szenen, gefolgt von Tränen und verstocktem Schweigen.

Außenseiter mußten noch mehr erleiden. Als Nancy zwei war, wurde ein Arzt gerufen, um ihren schwer entzündeten Fuß zu behandeln. Er stellte fest, daß man den Fuß mit einem Schnitt öffnen mußte, und anästhesierte Nancy mit einem chloroformgetränkten Taschentuch. Farve, bei Operationen immer anwesend (er beaufsichtigte sogar die Geburt aller seiner Kinder), stellte fest, daß Nancy offenbar aufgehört hatte zu atmen. »Was hast du da gemacht?« fragten wir an dieser Stelle der Geschichte. »Ich hab den Doktor im Nacken gepackt und ihn geschüttelt wie eine Ratte.« Nancy überlebte, aber ob der Arzt sich je erholte, erfuhren wir nie.

Nun, da Farve General Murgatroyd war, beteiligten wir uns alle an dem Spiel. Ich entwickelte die Theorie, daß er ein evolutionärer Rückfall in eine frühere Epoche der Menschheitsgeschichte war, das fehlende Zwischenglied, das die Menschenaffen und den homo sapiens verbindet. Meine Mutter behielt mein Taschengeld ein, weil ich ihn »den alten Untermenschen« nannte, aber ihn störte es eigentlich nicht.

»Halt still, ich will mal deinen Schädel messen und schauen, ob das dieselben Maße wie beim Piltdown-Menschen sind.«

»Also gut … Aber was machst du dann mit den Messungen?«

»Ich stelle sie natürlich der Wissenschaft zur Verfügung. Wie möchtest du katalogisiert werden? Würdest du gerne als Swinbrook-Mensch bekannt sein oder lieber als Rutland-Gate-Mensch oder als High-Wybrook-Mensch?«

Die dekorativ schlaffen jungen Ästheten aus Highland Fling tauchten ebenfalls häufig im wirklichen Leben auf, von Nancy als Gäste nach Swinbrook importiert. Die meisten von ihnen versetzten Farve in eine murgatroydische Wut; ein oder zwei gefielen ihm unerwarteterweise. Ob es das schlimmere Schicksal war, verabscheut oder geschätzt zu werden, das war noch die Frage, denn um sich des Vorzugs dauerhaft würdig zu erweisen, mußte man große Opfer bringen – wochenends an Jagdgesellschaften teilnehmen und pünktlich um acht Uhr zum Frühstück erscheinen.

»Hirn zum Frühstück, Mark!« röhrte Farve jovial beim Erscheinen eines seiner kapriziös ausgewählten Günstlinge, der, um seinen Status nicht zu gefährden, Punkt acht ins Eßzimmer gewankt kam, fahl und gebrochen aussehend. Das Standardfrühstück des Ästheten war ein cachet faivre, in jenen Tagen das Äquivalent einer Beruhigungstablette, und gegen Mittag ein Glas Orangensaft oder eine Tasse chinesischer Tee.

Der arme Mark verfärbte sich zu einem zarten Chartreusegrün und entschuldigte sich; gleich darauf hörte man, wie er sich auf der nächstgelegenen Toilette übergab. Auch dieser Vorfall ging in die Mythologie von Farve ein. Um das Ereignis zu feiern, komponierten Debo und ich sogleich ein honnisches Lied, eine Art Leitmotiv für Mark, das immer gesungen wurde, wenn er nach Swinbrook kam, mit dem klagenden Refrain: »Hirn zum Frühstück, Mark! Hirn zum Frühstück, Mark! Kloake, verdammte! Ach, Kloake, verdammte!«

Das seltsam ausgewählte Schlachtfeld von Nancys Generation war der Kampf der Athleten und der Ästheten (gelegentlich the Hearties and the Arties genannt), und die Zeitungen waren voll von den Scharmützeln, die sich diese gegnerischen Kräfte in Oxford lieferten.

Die Athleten waren natürlich ideologisch gesehen die direkten Nachfahren früherer Patrioten, welche europäische Kriege dank dem Training auf den Spielfeldern Etons gewonnen hatten, von Männern mit Krawatten in den Farben der alten Schule und ihren Reithosengattinnen.

Die Ästheten beanspruchten ein exotischeres Erbe für sich … die romantischen Dichter, das England Oscar Wildes, das Frankreich von Baudelaire und Verlaine. Die meisten waren irgendwie für den Sozialismus, waren Pazifisten und (entsetzlich!) Gegner der Fuchs- und Fasanenjagd – mit der Begründung, daß diese geheiligten Sportarten grausam und sadistisch seien. Fröhlich warfen sie die schlichten alten Hausgötter vom Sockel – England, Heimat und Ruhm, das göttliche Recht der Könige (und also auch des Oberhauses), die axiomatische Überlegenheit des Engländers über alle anderen Rassen und Nationen. Blasphemischerweise fanden sie den Burenkrieg, in dem Farve laut Debretts Adelskalender »dreimal verwundet« worden war, langweilig und sagten dementsprechend statt Boer War nur Bore War, und sie zitierten Blakes berühmte Zeile über »England, grün und angenehm« mit der Abwandlung »grün-unangenehm«.

An den Wochenenden fielen sie in fröhlichen Horden aus Oxford oder London bei uns ein, von meiner Mutter mit massiver Mißbilligung begrüßt und von meinem Vater mit wütenden Blicken.

Boud, Debo und ich wurden meist sorgfältig von Nancys Freunden ferngehalten, da meine Mutter diese für einen ganz und gar schlechten Einfluß hielt. »Was ein Haufen«, sagte sie immer, wenn Nancy deren exaltiertere Ideen erläuterte. Sie sprachen im Jargon der Epoche: »Darling, zu und zu hinreißend, macht mich total krank, wie überaus peinlich …« Ich drückte mich fasziniert im Wohnzimmer herum, so lange ich konnte, bis meine Anwesenheit bemerkt und ich ins Schulzimmer zurückgejagt wurde. Manchmal, wenn ich Glück hatte, holten mich Nancy und Diana zu einem Auftritt mit der Übersetzung eines englischen Minderdichters ins Boudledidge oder mit einer Runde »Hure, Hare, Hure, und jetzt der Anfang«. Ein Höhepunkt trat ein, als Evelyn Waugh, »so einer von diesen Schreiberlingen« und für Swinbrook eine der Hauptkloaken, mir versprach, er würde Miranda unsterblich machen, indem er in seinem im Erscheinen begriffenen Roman Vile Bodies das Wort »hinreißend« durch »schäfchenhaft« ersetzte. Ich lebte in höchster Spannung, bis das Buch schließlich erschien, weil ich befürchtete, er könne sein Wort nicht halten. Aber da stand es schwarz auf weiß: »Er hat sein durchaus schäfchenhaftes Haus in der Hertford Street verlassen…« Mit Miss Buntings Hilfe stahl ich in der Buchhandlung in Oxford ein Zweitexemplar und hing es stolz auf Mirandas Wiese an einen Baum.

Da ich keinen Bildungsmaßstab hatte, um Ideen oder Grade von Intelligenz einzuschätzen, und in einer isolierten Welt lebte, wo die Ansichten von Muv und Farve die einzigen waren, die ich je gehört hatte (in der Tat die einzigen, die, soweit ich wußte, überhaupt existierten), machten die respektlos-überschwenglichen Auslassungen dieser attraktiven Leute auf mich einen tiefen Eindruck. Ich klaute »verbotene« Bücher, die ich sie hatte diskutieren hören – Aldous Huxley, D. H. Lawrence, André Gide –, und las sie heimlich bei Taschenlampenlicht unter der Bettdecke. Seltsame, unerhörte Horizonte öffneten sich auf allen Seiten, Dutzende möglicher Varianten einer unswinbrookischen Weltanschauung.

Nancy hing den neuen Tendenzen in der Kunst an. Wir dachten uns, daß dieses Interesse zumindest teilweise mit dem Versuch zusammenhing, »den alten Untermenschen zu provozieren«, und das gelang auch höchst effektiv. Die Plastiken von Jacob Epstein (den Vater unzutreffenderweise einen »verdammten Hunnen« nannte) und die Werke Picassos (»Dreckige Kloake!«) riefen jeweils faszinierende Auseinandersetzungen drunten hervor, von denen wir im Schulzimmer nur gedämpfte Echos vernahmen. Der Höhepunkt war erreicht, als Nancy eine Reproduktion von Stanley Spencers »Auferstehung« mit nach Hause brachte. Dieses Bild, auf dem sich seltsam längliche Menschen in moderner Kleidung langsam aus ihren Gräbern erheben, reizte Farve zu einem seiner klassischen Zornesausbrüche, der das Haus von oben bis unten erschütterte.

Seine Wut verdoppelte sich, als Nancy ihre Absicht verkündete, nach London zu ziehen und dort an der Slade School Kunst zu studieren. Wie üblich hörten wir nur den fernen Widerhall der titanischen Streitereien drunten. Wir kamen zu Mahlzeiten hinunter, die in lähmender Stille eingenommen wurden, und kehrten ins Schulzimmer zurück, um dort hin und wieder den erstickten Donner der väterlichen Stimme zu hören. Muv muß eingegriffen haben, denn Nancy setzte sich schließlich durch und zog in ein möbliertes Zimmer in Kensington. Ich verfolgte ihr Vorgehen mit höchstem Interesse und war furchtbar enttäuscht, als sie nach einem Monat wiederkehrte.

»Wie konntest du nur! Wenn ich je ein möbliertes Zimmer hätte, käme ich nie wieder zurück!«

»Ach, Darling, du hättest es sehen sollen. Nach etwa einer Woche stand ich knietief in meiner Unterwäsche. Ich mußte förmlich hindurchwaten. Niemand da, der sie aufgeräumt hat.«

»Also, ich finde, du bist sehr willensschwach. Ich würde nie wegen einer Kleinigkeit wie der Unterwäsche aufgeben.«

Unklar nahm ich mit den Augen der Kindheit eine andere Welt wahr. Eine Welt mit möblierten Zimmern in London, Kunststudenten, Schriftstellern … eine Welt neuer, ganz anderer Ideen … eine Welt, von der aus betrachtet Swinbrook so archaisch wirken mußte wie eine mittelalterliche Festung. Eine wunderbare Idee überkam mich plötzlich – eine jener Ideen, die man ins Herz schließt, ausspinnt, ausschmückt, bis sie Wirklichkeit werden. Ich beschloß, von zuhause fortzulaufen. Noch nicht gleich – ich wußte, daß eine Zwölfjährige kaum eine Chance hatte, lange zu überleben, ehe man sie entdeckte und wieder ihrer Familie zustellte. Aber eines Tages, wenn ich einen vollkommen zufriedenstellenden Plan ausgearbeitet und genügend Geld gespart hätte, um mich eine Zeitlang durchzubringen. Ich schrieb sofort an Drummond’s Bank; nach ein paar Tagen hatte ich die Antwort.

»Sehr geehrte gnädige Frau, wir erlauben uns, den Eingang von zehn Shilling zur Eröffnung Ihres Von-Zuhause-Fort-Kontos zu bestätigen. Sparbuch Nr. Soundsoviel in der Anlage. Stets zu Diensten verbleiben wir hochachtungsvoll …«

Triumphierend schwenkte ich den Brief überall im Familienkreis. »Schaut mal! Und man stelle sich vor, Drummond’s sind mir stets zu Diensten!«

Muv sagte nur abwesend: »Na, Darling, da mußt du aber tüchtig sparen, du machst dir keine Vorstellung, wie teuer es jetzt ist, in London zu wohnen.« Sie hatte anderes im Kopf: Diana hatte sich soeben verlobt und wollte bald heiraten.

Hunnen und Rebellen

Подняться наверх