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Die Cotswolds, diese alte, malerische Landschaft voller Geister und Legenden, sind heute Teil der Touristenroute. Hat man Oxford abgehakt, wäre es doch schade, wenn man nicht noch die zwanzig Meilen oder so weiter fahren würde, um ein paar der historischen Dörfer mit den pittoresken Namen zu besehen – Stow-onthe-Wold, Chipping Norton, Minster Lovell, Burford. Die Dörfer selbst haben brav versucht, sich dieser Aufmerksamkeit würdig zu erweisen. Burford ist in der Tat so etwas wie ein kleines Stratfordon-Avon geworden, und seine alten Wirtshäuser sind sorgfältig renoviert und verbinden modernen Komfort mit einer gewissen Tudor-Atmosphäre. Man bekommt sogar Coca-Cola dort, wenn es wohl auch mit Zimmertemperatur serviert wird, und die kleinen Läden sind voller »Andenken an das Historische Burford« mit dem unauffälligen Schriftzug Made in Japan.

Aus irgendeinem Grund ist Swinbrook, das nur drei Meilen entfernt liegt, dem Tourismus entronnen und liegt noch genauso da, wie ich es vor über dreißig Jahren gekannt habe. In dem winzigen Dorfpostamt werden immer noch die vier gleichen Süßigkeiten – Toffee, saure Drops, Edinburgh Rock und Butterscotch – in denselben vier großen Kristallglasbehältern im Schaufenster angeboten. Hinten im Laden hängen wie schon seit zwei Generationen zwei gerahmte Drucke von viktorianischen Schönheiten, die eine eine zarte junge Dame mit goldenem Haar und leuchtend blauen Augen, um die weichen weißen Schultern irgendetwas Präraffaelitisches drapiert, die andere im Kontrast ein neckisch-hübsches Zigeunermädchen, dessen unglaublich dichtes schwarzes Haar in großen runden Locken herabfällt. Als Kind fand ich immer, daß die beiden eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Nancy und Diana hätten, meinen älteren Schwestern. Daneben schauen die unnatürlich rosigen und weißen Gesichter von König George V. und Königin Mary immer noch freundlich in die Welt.

Die einzigen anderen öffentlichen Gebäude sind das Schulhaus mit seinem einen großen Raum und die Kirche. Drumherum liegt ein Dutzend kleiner Häuser aus grauem Stein, dichtgedrängt wie Cotswold-Schafe, ruhig und zeitlos. In der Kirche machen die Reihen der lackierten Sitzbänke – eine davon von meinem Vater nach dem Ersten Weltkrieg infolge einer erfolgreichen Wette beim Grand-National-Rennen gestiftet – immer noch einen recht modernen Eindruck, verglichen mit den mittelalterlichen steinernen Bodenplatten, den Strebepfeilern, Säulen und Bögen. Das Wappen der Redesdales mit dem lakonisch selbstgefälligen Motto »Gott sorget fuer uns«, das über dem Chorgestühl der Familie hängt, sieht immer noch ein wenig zu zeitgenössisch und glänzend aus neben den verwitterten grauen Steindenkmälern einer vormals in Swinbrook ansässigen Familie, deren Grabstatuen vierhundert Jahre lang starr dagelegen haben.

Zwei Meilen vom Dorf den Hügel hinauf steht ein großes rechteckiges graues Gebäude mit drei Geschossen. Sein Stil ist weder modern noch traditionell zu nennen und simuliert auch keine historische Epoche – es hat eher das utilitaristische Aussehen einer Institution und könnte eine kleine Kaserne sein, ein Mädcheninternat, eine private Irrenanstalt (oder in Amerika ein Country Club). Alle diese Funktionen haben sich in seiner kurzen Geschichte durchaus angedeutet. Es handelt sich um Swinbrook House, das mein Vater für die Bedürfnisse – nach damaliger Auffassung – einer Familie mit sieben Kindern hatte bauen lassen. Wir zogen 1926 dort ein, als ich neun Jahre alt war.

Swinbrook hatte viele Züge einer Festung oder Zitadelle aus dem Mittelalter. Vom Standpunkt der Insassen aus betrachtet war das Haus autonom – in dem Sinne, daß es weder notwendig noch (im allgemeinen) möglich war, das Gebäude zum Zweck irgendwelcher Aktivitäten des menschlichen Lebens zu verlassen. Ein Schulzimmer mit Gouvernante für die Erziehung, Reitställe und Tennisplatz für den Sport, wir sieben Kinder als Gesellschaft, die Dorfkirche für spirituelle Tröstungen, unsere jeweiligen Schlafräume als Krankenzimmer, selbst wenn Operationen notwendig waren – alles war da, entweder im Hause selbst oder in geringer Entfernung zu Fuß zu erreichen. Von draußen betrachtet war der Zutritt – in dem recht unwahrscheinlichen Fall, daß jemand ihn versucht hätte – für Außenseiter unmöglich. Zu den Außenseitern zählte mein Vater nicht nur Hunnen, Froschfresser, Amerikaner, Schwarze und sämtliche Ausländer, sondern auch Kinder anderer Leute, die Mehrheit der Bekannten meiner älteren Schwestern, nahezu sämtliche jungen Männer – tatsächlich die ganze wimmelnde Bevölkerung des Planeten, ausgenommen ein paar (gewiß nicht alle) unserer Verwandten und einige wenige rotgesichtige, in Tweed gekleidete Nachbarn, die mein Vater aus irgendeinem Grund schätzte.

Er war auf seine Art frei von »Vorurteilen« im modernen Sinne. Seit den dreißiger Jahren versteht man hierunter die Konzentration eines leidenschaftlichen Hasses auf eine bestimmte Rasse oder einen Glauben – Neger, Orientalen, Juden; das Wort »Diskriminierung« ist mittlerweile schon fast ein Synonym für »Vorurteil«. Mein Vater diskriminierte in keiner Weise, tatsächlich war er sich gewöhnlich irgendwelcher Unterschiede zwischen diversen Ausländern gar nicht bewußt. Als eine unserer Cousinen einen Argentinier spanischer Herkunft zum Mann nahm, bemerkte er: »Hat Robin also einen Schwarzen geheiratet.«

Es fand ein unablässiges Tauziehen zwischen »Farve« und Nancy, Pam und Diana statt, den älteren Töchtern, die gerne ihre Freunde eingeladen hätten. Da meine Mutter Besuch ganz gerne hatte, war sie oft ihre Verbündete, und die Schlachten wurden gewonnen. Die Freunde meines Bruders Tom – kräftig gebaute junge Männer mit hellem Haar, die Nancy »die dicken Blonden« nannte – bildeten eine Ausnahme; sie durften immer kommen.

Für die drei jüngeren Kinder, Unity, Debo und mich, galt die Gesellschaft, die wir aneinander hatten, als völlig ausreichend. Von sehr seltenen Besuchen von Cousins und Cousinen abgesehen, wuchsen wir in vollkommener Isolation von Gleichaltrigen auf. Meine Mutter hielt die Anwesenheit weiterer Kinder für unnötig, sie würde uns nur überreizen. Trotzdem hatte es eine Zeit gegeben, da wir bei seltenen Anlässen zu Geburtstagsfeiern oder Ostereiersuchen in die Häuser benachbarter Familien gebracht wurden.

Selbst dieses eingeschränkte Gesellschaftsleben kam jedoch abrupt zum Erliegen, als ich neun war, und sollte nie wieder beginnen – und der Grund dafür war ich selbst, ahnungsloserweise. Ich wurde in einen Tanzkurs eingeschrieben, der sich wöchentlich traf, immer in einem anderen der großen Häuser der Nachbarschaft. Kleine Mädchen in Organdykleidchen und Kaschmirstolen, von gestärkten Nannies begleitet, wurden vom Chauffeur im vereinbarten Hause abgeliefert und warteten auf den Lehrer, der mit dem Bus aus Oxford kam. Eines verhängnisvollen Nachmittags verspätete er sich um eine Stunde, und ich ergriff die Gelegenheit, die anderen Mädchen aufs Dach zu führen und ihnen dort reizvolle Informationen über Zeugung und Geburt von Babys mitzuteilen, die ich kürzlich erfahren hatte. »Und – sogar der König und die Königin machen das!« sagte ich mit eindrucksvoller Betonung. Es war ein großer Erfolg, insbesondere weil ich nicht widerstehen konnte, während des Erzählens einige Ausschmückungen zu erfinden. Alle baten mich, ihnen doch noch mehr zu erzählen, und schworen feierlich auf die Bibel, nie einer Menschenseele etwas zu verraten. Einige Wochen später ließ mich meine Mutter kommen. Ihr Gesicht war eine Gewitterwolke; und ich wußte sofort, was geschehen war. Bei der fürchterlichen Schelte, die nun erfolgte, erfuhr ich, daß eines von den kleinen Mädchen Nacht für Nacht schreiend aus Alpträumen aufgefahren, blaß und dünn geworden war und am Rand einer Nervenkrise schien. Schließlich hatte ihre Gouvernante ihr die Wahrheit über die entsetzliche Sitzung auf dem Dach entlockt (glücklicherweise enthüllte die Kleine nicht, daß ich auch das Königspaar mit hineingezogen hatte). Die Vergeltung folgte auf dem Fuße. Meine Teilnahme am Tanzkurs wurde beendet; es war allen – selbst mir – klar, daß ich fortan keine Gesellschaft für anständige Kinder mehr war. Die Ungeheuerlichkeit meiner unvorsichtigen Handlungsweise, ihr Gewicht und ihre Folgen waren derart, daß ich Jahre später – als ich mit siebzehn unter den Debütantinnen bei Hofe war – von einer älteren Cousine erfuhr, zwei jungen Männern der Nachbarschaft sei es immer noch verboten, sich mit mir abzugeben.

Unity, Debo und ich waren also auf unsere eigenen Möglichkeiten zurückgeworfen. Wie ein isolierter Eingeborenenstamm, getrennt von der übrigen Menschheit, nach und nach ganz eigene Charakteristika in Sprache, Benehmen und Weltbild ausformt, so entwickelten wir Idiosynkrasien, die auf andere Kinder unseres Alters recht exzentrisch gewirkt hätten. Selbst nach englischen Maßstäben in den fernen Zeiten der Mittzwanziger war unsere Erziehung einigermaßen ungewöhnlich. Unsere Fähigkeiten, Hobbys und Vergnügungen nahmen deutlich eigene Formen an. So verbrachte Debo (in einem Alter, wo sich andere Kinder mit Puppen, Sport, Klavierunterricht oder Ballettstunden befassen) lange stumme Stunden im Hühnerhaus und lernte, den Ausdruck schmerzhafter Konzentration präzise nachzuahmen, der auf das Gesicht eines Huhns tritt, wenn es ein Ei legt; außerdem sah sie jeden Morgen methodisch die Familiennachrichten in der Times durch und notierte die Zahl der Totgeburten in einem kleinen Buch. Ich vergnügte mich, indem ich mit meinem Vater Tatterichübungen durchführte, die darin bestanden, daß ich sanft sein Handgelenk schüttelte, während er Tee trank: »In ein paar Jahren, wenn du richtig alt bist, bekommst du wahrscheinlich den Tatterich. Ich muß jetzt vorher schon ein wenig mit dir üben, damit du dann nicht alles fallen läßt.«

Unity und ich erfanden eine vollständige Sprache namens Boudledidge, die für alle anderen unverständlich war, und übersetzten verschiedene unanständige Lieder (die sich auf diese Weise gefahrlos vor Erwachsenen singen ließen) sowie große Teile des Oxford Book of English Verse. Debo und ich organisierten die Sozietät der Honnen, deren Vorsitzende und einzige Mitglieder wir waren. Bei den Sitzungen der Society of Hons wurde Honnisch gesprochen, die offizielle Sprache der Sozietät, ein Englisch, gefärbt mit einer Art Mischung aus nordenglischen und amerikanischen Akzenten. Der Hinweis, den eine kürzlich erschienene Studie zum Ursprung der Honnen gibt, trifft nicht zu – der Name kam nicht von dem Umstand, daß Debo und ich den Titel Honourables führen konnten, sondern von den Hennen, die in unserem Leben eine so große Rolle spielten. Diese Hennen waren tatsächlich die Grundlage unserer Privatökonomie. Wir hielten Dutzende von ihnen, wobei meine Mutter das Futter lieferte und uns die Eier abkaufte – eine Art wohlwollender Variante des Erntepachtsystems. (Das H in »Honnen« wird natürlich – wie in »Hennen« und im Gegensatz zu »Honourables« – ausgesprochen.)

Die Hauptaktivität der Honnen bestand in Plänen, die Abstoßenden Anti-Honnen zu überlisten und zu besiegen, deren Hauptrepräsentant Tom war. »Tod den Abstoßenden Anti-Honnen!« war unser Schlachtruf, während wir ihn mit selbstgefertigten Speeren durchs ganze Haus jagten. Wir entwickelten und spielten endlos ein honnisches Spiel namens »Hure, Hare, Hure, und jetzt der Anfang« (des unerträglichen Schmerzes), ein Wettbewerb, bei dem ermittelt wurde, wer es am besten aushalten konnte, richtig fest gekniffen zu werden. »Hure, Hare, Hure« war die Weiterentwicklung eines früheren Spiels, das als »Langsam dran arbeiten« bekannt war. Das langsame Arbeiten bestand darin, daß man unbemerkt die Hand eines Älteren (gewöhnlich war es Tom) nahm, während er ein Buch las. Zuerst ganz sanft und mit unendlicher Geduld kratzte man die Haut an ein und demselben Punkt. Das Ziel war es, Blut fließen zu lassen, ehe das Opfer merkte, was vor sich ging. »Hure, Hare, Hure« andererseits brauchte zwei aktive Mitspieler. Der erste Spieler kniff den Arm des zweiten und verstärkte stetig den Druck, während er viermal langsam und rhythmisch psalmodierte: »Hure, Hare, Hure, und jetzt der Anfang«. Der Spieler, der es schweigend bis zum vierten Mal aushielt, hatte gewonnen. Uns schien das ein wunderbares Spiel, und wir baten Tom (der Jura studierte) unablässig, doch nachzuschlagen, ob man es nicht patentieren lassen und kommerziell nutzen konnte – jedesmal, wenn es jemand irgendwo spielte, müßte eine Schutzgebühr in die Honnen-Kasse wandern.

Tom, unser einziger Bruder, hatte im Familienleben einen besonderen Platz inne. Wir nannten ihn Tuddemy, einerseits, weil dies die Boudledidge-Übersetzung von »Tom« war, andererseits, weil wir glaubten, das reime sich mit dem Wort für Ehebruch: adultery. »Nur ein Bruder und sechs Schwestern! Wie ihr den liebhaben müßt! Der muß ja völlig verwöhnt sein«, sagten Fremde meist. »Ihn liebhaben? Ihn verabscheuen!« war die honnische Standardantwort. Debo erwiderte auf die Frage eines Volkszählers, aus wem die Familie bestehe, wütend: »Drei Riesen, drei Zwerge und ein Vieh!« Die Riesen waren Nancy, Diana und Unity, alle ungewöhnlich groß, die Zwerge Pam, Debo und ich, und das Vieh war der arme Tuddemy. Meine Mutter besitzt bis zum heutigen Tage ein aus Pappe ausgeschnittenes Abzeichen mit der sorgfältigen Aufschrift: »Liga gegen Tom. Oberhaupt: Nancy«.

Tatsächlich war die Anti-Tuddemy-Kampagne, die während unserer ganzen Kindheit tobte, nur Ausdruck unserer Zuneigung für ihn, gemäß den Regeln der merkwürdigen honnischen Spiegelwelt. Über Jahre war er das einzige Familienmitglied, mit dem keines der anderen je den Kontakt abgebrochen hätte; alle sprachen mit ihm.

Trotz häufiger, nicht besonders dauerhafter Allianzen – zu Boudledidge-Zwecken oder wegen honnischer Projekte oder gegen einen gemeinsamen Feind (gewöhnlich eine Gouvernante) – waren die Beziehungen zwischen Unity, Debo und mir nicht ganz einfach und von gegenseitigen Ressentiments geprägt. Wir waren wie allzu verschiedene Tiere, die mit ihren Leinen am selben Pfahl angebunden sind.

Gelegentlich taten Unity und ich uns zu dem verbotenen Vergnügen zusammen, »Debo zu plagen«. Dies mußte weit außer Hörweite meines Vaters geschehen, denn Debo war sein erklärter Liebling, und es konnte fürchterliche Folgen haben, wenn wir sie zum Weinen brachten. Sie war ein ungewöhnlich weichherziges Kind, und es war leicht, ihre großen blauen Augen von Tränen übergehen zu lassen – im Familienkreise als »Überlauf« bekannt.

Unity erfand eine tragische Geschichte mit einem kleinen Pekinesen. »Das Telephon klingelte«, hieß es da. »Großvater erhob sich aus seinem Sessel und ging hinüber, um den Hörer abzuheben. ›Babette im Bett?‹ rief er aus …« Babette lag auf dem Totenbett, Opfer einer Lungenentzündung. Der letzte Wunsch der Sterbenden war es, daß Großvater für den armen kleinen Pekinesen sorgen sollte. Doch in der ganzen Aufregung des Begräbnisses vergaß man den Hund, und er wurde mehrere Tage später am Grab seiner Herrin gefunden, gestorben vor Hunger und an gebrochenem Herzen.

Diese Geschichte ließ Debo jedesmal in schrecklichem Kummer versinken, ganz gleich, wie oft sie schon erzählt worden war. Uns wurden dafür Monate unseres Taschengelds konfisziert, und oft wurden wir noch dazu ins Bett geschickt. Ein Grenzfall war es, wenn man lediglich mit tragischem Vibrato sprach: »Das Telephon klingelte …!«, worauf Debo so laut heulte, als hätten wir die Geschichte bis zum bitteren Ende erzählt.

Seltsame Beschäftigungen in der Tat, und kein Wunder, daß der Refrain meiner Mutter stets lautete: »Ihr seid wirklich sehr alberne Kinder.«

Meine Mutter plante und überwachte unsere Erziehung persönlich, und bis wir acht oder neun waren, unterrichtete sie uns selbst. Danach kamen wir ins Schulzimmer, wo eine rasch wechselnde Serie von Gouvernanten herrschte. Sicherlich diskutierten damals auf der ganzen Welt die Pädagogen den Streit zwischen den Anhängern von John Dewey und den Traditionalisten; sicherlich strömten Tausende zu den Vorträgen über die neue »Kinderpsychologie«. Wenn jedoch irgendwo – als Teil der das Jahrhundert prägenden Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung – der Kampf um die weibliche Bildung geführt wurde, so erreichten uns in Swinbrook davon keinerlei Signale. Tom war natürlich mit acht ins Internat geschickt worden und dann nach Eton, aber meine Mutter war der Meinung, für Mädchen wäre diese Art Schulbildung überflüssig, wahrscheinlich schädlich, und auf jeden Fall viel zu teuer. Sie war stolz darauf, daß sie unsere gesamte Erziehung aus den Erträgen ihres Hühnerhofs finanzieren konnte, der nach Abzug aller Kosten (darunter der Lohn des Hühnermanns, der sinnvollerweise »Lay« hieß) etwa hundertzwanzig Pfund im Jahr abwarf, damals in etwa der Jahreslohn einer Gouvernante.

Die Lektionen bei »Muv« im Wohnzimmer sind in meiner Erinnerung immer noch viel klarer umrissen als irgend etwas, das ich später von den Gouvernanten gelernt habe. (Der Name Muv, schwarz auf weiß niedergeschrieben, mag übrigens das Bild einer zierlichen, zärtlichen Mutti beschwören, umgeben von Kindern, die sie als »meine Küken« bezeichnet. Ebenso läßt Farve vielleicht an einen jovial-gemütlichen Daddy denken. Für mich bestimmt nicht. In meinen frühesten Erinnerungen sind Muv und Farve himmelhoch groß und breit wie der Marble Arch, und mächtiger als König und Parlament zusammen.)

Muv lehrte englische Geschichte aus einem großen illustrierten Buch mit dem Titel Unsere Insel und mit einem wunderschönen Bild von Königin Victoria als Frontispiz. »Seht ihr, England und alle unsere Besitzungen im Empire sind auf der Karte ein wunderschönes Rosa«, erklärte sie. »Deutschland ist von einem häßlichen, schlammfarbenen Braun.« Die Illustrationen, der Text und Muvs erläuternde Kommentare ließen eine Reihe eindringlicher Szenen entstehen: Königin Boadicea, die furchtlos ihrem Heer voranritt … die armen kleinen Prinzen im Tower … Karl der Große, von Großvater unter seine Ahnen gezählt … der verhaßte öde Cromwell … Charles I., der Märtyrerkönig … die heroischen Erbauer des Empire, wie sie tapfer die schwarzen Horden Afrikas niederzwangen, zum Ruhme Englands … die bösen Inder und das Schwarze Loch von Kalkutta … die Amerikaner, die aus dem Empire hinausgeworfen worden waren, weil sie dauernd Unruhe stifteten und auf der Weltkarte ihr Anrecht auf das schöne Rosa verwirkt hatten … die dreckigen Hunnen, die im Krieg Onkel Clem umgebracht hatten … die russischen Bolschewisten, die eiskalt die Hunde des Zaren erschossen hatten (tatsächlich auch den kleinen Zarewitsch und die Zarewnas, nur schien deren Schicksal nicht ganz so traurig wie das der unschuldigen Hunde) … die Guten, die so unglaublich gut waren, die Bösen, die so unglaublich böse waren. Die Geschichte, wie Muv sie lehrte, war mir, alles in allem, sehr klar.

Muv hatte eine Lehrmethode ausgedacht, die alle Prüfungen überflüssig machte. Wir lasen einfach den Abschnitt durch, um den es ging, dann machten wir das Buch zu und erzählten, was uns davon im Gedächtnis haften geblieben war. »Ich bin der Meinung, ein Kind muß sich nur an das erinnern, was ihm wichtig vorkommt«, erklärte sie ein wenig vage. Manchmal funktionierte das System nicht so gut. »Also, kleine D., ich hab dir jetzt ein ganzes Kapitel vorgelesen. Erzähl mir, woran du dich noch erinnerst.« »Ich fürchte, ich erinnere mich an gar nichts.« »Komm schon, kleine D., kannst du dich denn an gar kein einziges Wort mehr erinnern?« »Also gut – ›die‹.« Fataler Satz! Noch nach Jahren konnte es mich zum Weinen bringen, wenn Schwestern und Cousinen im Chor riefen: »Also gut – ›die‹.«

Als ich neun war, rückte ich ins Schulzimmer auf. Dieser Raum – groß und luftig, mit Erkerfenstern, einem kleinen Kamin für Kohle und chintzbezogenen Möbeln – lag im ersten Stock von Swinbrook House, neben dem Zimmer der Gouvernante. Von den Besuchsschlafzimmern und den Räumen meiner Eltern war er im Korridor durch eine grünbespannte Zwischentür getrennt. Hier verbrachten wir den größten Teil unserer Zeit. Wir aßen mittags und manchmal abends drunten mit den Erwachsenen zusammen, nur nicht, wenn Besuch kam; dann wurde das Essen für uns nach oben geschickt, und wir aßen in der langweiligen Gesellschaft der Gouvernante und malten uns wütend aus, was es drunten für köstliche Dinge geben mochte.

Unity – »Bobo« für den Rest der Familie, aber für mich »Boud« – war das einzige andere Kind im Schulzimmeralter; Debo war erst sechs und bekam ihre Lektionen noch von Muv und ansonsten im Kinderzimmer unter der Jurisdiktion der Nanny. Nancy und Pam waren schon lange erwachsen, Tom lebte gerade eine Zeitlang im Ausland, und Diana war in Paris, innerlich unruhig zwischen dem Schulzimmer und ihrer ersten Ballsaison in London schwebend.

Boud war ein hochgewachsenes, übergroßes Kind von zwölf Jahren. Ich mußte bei ihr immer an den Ausdruck »großes Mädchen« in viktorianischen Kinderbüchern denken. »Ach je, die gute Bobo, sie ist schon enorm groß«, klagte Muv, wenn die halbjährlichen Kartons von Daniel Neal in London mit Kinderkleidern zur Auswahl bei uns eintrafen, anprobiert und im Falle Boud unweigerlich zurückgeschickt und gegen etwas Größeres umgetauscht wurden. Nancy gab ihr den groben Spitznamen »Miss Scheußlich«, aber das war sie nicht. Ihre großen, drohenden blauen Augen, die langen, unbeholfenen Gliedmaßen, das völlig glatte flachsblonde Haar, manchmal in sauberen Zöpfen, meist lose herabströmend, ließen sie aussehen wie einen struppigen Wikinger oder wie Little John. Sie war der Fluch aller Gouvernanten, von denen wenige längere Zeit ihrer unerbittlichen Ungezogenheit gewachsen waren, und es blieb deshalb kaum eine über einen nennenswerten Zeitraum hinweg. Sie kamen und gingen in verwirrender Folge, und jede brachte eine neue Perspektive auf das Wissen der Menschheit mit.

Miss Whitey lehrte uns, zu wiederholen: »a-Quadrat minus b-Quadrat gleich a-Quadrat minus 2ab plus b-Quadrat«, doch blieb sie nicht lange genug bei uns, um zu erklären, warum das so war. Boud fand heraus, daß sie Todesangst vor Schlangen hatte, und ließ eines Morgens ihre Lieblingsringelnatter Enid säuberlich um die Ziehkette im WC geringelt zurück. Wir warteten atemlos auf das Ergebnis, das sich rasch einstellte. Miss Whitey schloß sich ein, dann ertönte ein markerschütternder Schrei, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Die bewußtlose Frau wurde schließlich mit Hilfe diverser Brechstangen befreit, und Boud wurde entsprechend ausgescholten und angewiesen, Enid künftig in ihrer Schachtel zu lassen. Auf Miss Whitey folgte Miss Broadmoor, die uns beibrachte, mensa, mensae, mensam und so weiter bis zum Schluß zu sagen. Nancy, die schon in diesen frühen Tagen ein gespitztes Ohr für klassenspezifische Aussprache hatte, machte ein Gedicht, das die hauptsächlichen Züge von Miss Broadmoors »gepflegter« Redeweise illustrierte: »Ich schätt-ze ganz besondahs Botter, besondahs die von meiner Motter, wwwenn ich nur meine Botter haabe, die wwwundahbare Gottesgaabe!« Wir konnten der Versuchung nicht widerstehen, es jeden Morgen herzusagen, wenn die Schulstunden näherrückten. Miss McMurray zog Bohnen auf Stückchen von feuchtem Flanell und brachte uns die Namen verschiedener Teile dieser heranwachsenden Bohnen bei – Plumula, Radix, Embryo.

Auf sie folgte dann Miss Bunting, deren hauptsächlicher Beitrag zu unserer Erziehung darin bestand, daß sie uns eine maßvolle Form des Ladendiebstahls beibrachte. Miss Bunting war eine liebe, kleine, runde, ständig kichernde Frau, geformt wie ein Milchkrug, und sie stand dem Leben mit einer sorglosen und unorthodoxen Haltung gegenüber, die wir sehr attraktiv fanden. Boud überragte sie weit, und manchmal hob sie die Gouvernante hoch und setzte die Aufquiekende auf das Schulzimmerklavier.

Gelegentlich machten wir Ausflüge nach Oxford. »Wie wär’s mit ein bißchen Allotria, Kinder?« schlug Miss Bunting vor. Es gab zwei hauptsächliche Methoden – die Einkaufstaschenmethode, bei der man eine Komplizin brauchte, wurde bei größeren Gegenständen eingesetzt. Die Komplizin übernahm es, das Ladenfräulein einen Augenblick lang abzulenken, während die Diebin – oder, in Miss Buntings Idiom, Fräulein Allotria – ihre Tasche mit Büchern, Unterwäsche oder Pralinenschachteln vollstopfte, je nach Angebot des betreffenden Geschäfts. Die Methode des fallengelassenen Taschentuchs war bei Lippenstiften und kleinen Schmuckstücken angemessen. Miss Bunting in ihrem beigen Gouvernantenmantel und mit Handschuhen, Boud und ich in identischen Panamastrohhüten – so stolzierten wir hochmütig an den servilen Angestellten vorbei, um uns rasch in die Sicherheit von Fuller’s Tea Room zurückzuziehen, wo wir begeistert vor Tassen dampfendheißer Schokolade die Beute des Tages durchsahen.

Mit den Lektionen nahm Miss Bunting es leicht. Erst wenn wir den leicht zu erkennenden Schritt meiner Mutter sich dem Schulzimmer nähern hörten, gab sie uns ein Zeichen, uns über die Arbeit zu beugen. Von Algebra, Latein oder den Elementen der Bohne hatte sie keine Ahnung, all das war ihr vollkommen gleichgültig; selbstverständlich mochten wir sie viel lieber als ihre Vorgängerinnen. Wir taten, was wir konnten, um ihr das Leben einigermaßen erträglich zu machen, und so blieb sie einige Jahre.

Hunnen und Rebellen

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