Читать книгу Sag niemals, das ist dein letzter Weg - Jetta Schapiro-Rosenzweig - Страница 10

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Im Kloster ist kein Platz für Männer

Ich zog ein Kopf­tuch an und mach­te mich auf den Weg nach Wil­na. Der Weg zog sich in die Län­ge. Ich hat­te Angst vor je­dem, der mir be­geg­ne­te, Angst, dass man mich als Jü­din er­kann­te. Ich ging zur Woh­nung der Tan­te und hat­te wie­der Angst, dass ich mei­ner Toch­ter be­geg­nen wür­de und, dass wir uns bei der Be­geg­nung nicht be­herr­schen könn­ten.

Zu mei­nem gro­ßen Glück kam die Tan­te ge­ra­de aus dem Haus. Sie er­schrak, als sie mich sah, und bat mich, drau­ßen zu war­ten. Sie ging ins Haus zu­rück und brach­te zu­erst mei­ne Toch­ter zur Nach­ba­rin, da­mit wir uns auf kei­nen Fall be­geg­ne­ten.

Im Haus er­zähl­te ich Jan­ni­na zu­erst, was wir al­les durch­ge­macht hat­ten. Sie be­rich­te­te da­ge­gen, dass sie mei­ne Schwes­ter Mi­zia und ih­ren Sohn Samek im Klos­ter un­ter­ge­bracht hat­te. Sie hat­te die bei­den aus dem Ghet­to in Wil­na he­raus­ho­len kön­nen. Auch mich woll­te sie ins Klos­ter brin­gen; al­ler­dings hat­te sie für mei­nen Mann und Jo­nas, den Mann mei­ner Schwes­ter, noch kei­ne si­che­re Blei­be ge­fun­den.

Zu­nächst be­rei­te­te Jan­ni­na mir eine war­me Mahl­zeit und half mir, mich et­was hin­zu­le­gen und zu ent­span­nen. Aber das war mir un­mög­lich. Ich be­dach­te den Plan, den mein Mann sich aus­ge­dacht hat­te. Er woll­te mich im Klos­ter in Si­cher­heit brin­gen – aber das be­deu­te­te Tren­nung – und ich woll­te lie­ber mit mei­nem Mann zu­grun­de ge­hen als ihn al­lein zu las­sen. Ich lag da und wein­te, und Jan­ni­na sprach mir gut zu. Sie woll­te ver­su­chen, die Klos­ter­frau­en zu über­re­den, dass Ja­scha bei mir blei­ben dür­fe. Auch Mi­zias Ehe­mann hat­te dar­um ge­be­ten, mit ins Klos­ter kom­men zu dür­fen. Aber im Klos­ter gab es kei­nen Platz für Män­ner. Trotz­dem hoff­te Jan­ni­na, dass die gut­her­zi­gen Non­nen ihr hel­fen würden, für die Män­ner auch eine Blei­be zu schaf­fen. Am Abend mie­te­te Jan­ni­na eine Kut­sche und wir fuh­ren zum Klos­ter, das sich in der Wil­na­er Stra­ße be­fand. Wir be­tra­ten zu­erst die Kir­che. Mei­ne Tan­te wies mich an, nie­der­zu­kni­en. Sie selbst ver­schwand in den dunk­len Gän­gen. Ich blieb al­lein zu­rück. Schon schmerz­ten mei­ne Knie vom lan­gen kni­en, da be­rühr­te mich Jan­ni­na an der Schul­ter. Müh­sam er­hob ich mich und trat aus der Kir­che in die Ig­naz­gast­raße. Vor ei­nem schwe­ren Ei­sen­tor läu­te­te Jan­ni­na an ei­nem Ei­sen­kreuz, das ne­ben dem Tor hing. Eine Glo­cke er­tön­te im In­ne­ren, das Tor öff­ne­te sich und eine Non­ne stand uns ge­gen­über, ganz schwarz ge­klei­det, nur mit ei­nem wei­ßen Schal über dem Kopf. Sie nahm mei­ne Hand und führ­te mich, wäh­rend Jan­ni­na zu­rück­blieb. Wir durch­quer­ten vie­le Gän­ge: ein Gang, ein zwei­ter, drit­ter und vier­ter; Gän­ge ohne Ende, lang und dun­kel. Mir kam es vor, als ob ich nie wie­der aus die­sem La­by­rinth he­raus­fin­den wür­de. Dann stan­den wir vor ei­ner Tür, sie öff­ne­te sich und da stand Mi­­zia vor mir. Wir um­fass­ten uns und wein­ten zu­sam­men; ich merk­te nicht ein­mal, dass wir nicht al­lein bei­-ei­n­an­der wa­ren. Mi­­zias Sohn schlief ge­ra­de. Das war im Sep­tem­ber 1941.

Mei­ne Schwes­ter er­zähl­te mir, dass sie sich im Ghet­to von un­se­rer Mut­ter ge­trennt hat­te. Sie hat­te die Mut­ter ge­drängt und an­ge­fleht, mit ihr zu kom­men, aber die Mut­ter hat­te ge­ant­wor­tet: »Ihr Kin­der seid noch jung und müsst auch für eure Kin­der sor­gen und je­den Weg zur Ret­tung ver­su­chen. Ich selbst will nicht weg, ich will mit eu­rem Va­ter zu­sam­men­blei­ben.«

Nun ver­stand ich, was das be­deu­te­te: un­ser gu­ter, lie­ber Va­ter war nicht mehr am Le­ben. Nur we­ni­ge Zeit da­nach ist auch un­se­re Mut­ter ge­stor­ben.

Jetzt, wo ich die­se Zei­len schrei­be, er­hebt sich wie­der vor mir die Ge­stalt mei­ner lie­ben, barm­her­zi­gen und klu­gen Mut­ter, de­ren See­le aus den Vernichtungswäldern Po­nars zu der un­se­res Va­ters auf­stieg. So zu ster­ben hat­te sie sich in den gu­ten Jah­ren vor­her nicht vor­stel­len kön­nen.

Wir wein­ten die gan­ze Nacht. Schließ­lich ver­sieg­ten un­se­re Trä­nen. Am Mor­gen ka­men zwei Non­nen zu uns he­rein. Die äl­te­re war die Obe­rin oder Klos­ter­mut­ter, die an­de­re ihre jün­ge­re Schwes­ter, sie war sehr hübsch. Ihr Name war Schwes­ter Lisa. Sie brach­ten uns Früh­stück und woll­ten von den Er­eig­nis­sen in Po­nar hö­ren. Wie sie uns be­rich­te­ten, wur­den neu­er­dings auch vie­le christ­li­che Geist­li­che nach Po­nar zur Zwangs­ar­beit he­ran­ge­zo­gen. Sie wie­sen uns an, dass wir uns, au­ßer dem Gang zur Toi­let­te, mög­lichst nur in un­se­rem Ver­steck auf­hal­ten und dass wir auch die Nähe der Fens­ter mei­den soll­ten. Nur vier Schwes­tern wussten von un­se­rer Exis­tenz. Das wa­ren die Obe­rin Ma­tusch­ka, Schwes­ter Lu­cia, Schwes­ter Be­ne­dik­ta und Schwes­ter Mal­vi­na, die vom Ju­den- zum Chris­ten­tum über­ge­tre­ten war und nun schon seit vier­zig Jah­ren im Klos­ter leb­te. Ich er­zähl­te ih­nen von mei­nem Mann, der sich im­mer noch in dem lee­ren Haus in Po­nar in­mit­ten von Mör­dern ver­ste­cken musste. Die Schwes­tern hör­ten mit Trä­nen in den Au­gen zu und ver­lie­ßen lei­se das Zim­mer.

Mit­tag- und Abend­es­sen brach­te uns Schwes­ter Be­ne­dik­ta. Am nächs­ten Mor­gen beim Früh­stück sag­te ich Schwes­ter Be­ne­dik­ta, dass ich lei­der nicht blei­ben kön­ne. Ich be­dank­te mich für die herz­li­che Auf­nah­me im Klos­ter. Da mein Mann in so gro­ßer Ge­fahr sei, müsste ich zu ihm zu­rück. Ich hat­te mei­ne Schwes­ter und ih­ren Sohn ge­se­hen, vom Tode mei­nes Va­ters er­fah­ren und jetzt müsste ich zu­rück. Ich konn­te nicht dort schla­fen und es­sen, wäh­rend mein Mann Hun­ger litt und sich ver­ste­cken musste. Wenn wir ster­ben müssten, dann woll­ten wir zu­sam­men sein.

In der Mit­tags­zeit ka­men Ma­tusch­ka und Schwes­ter Lu­cia und über­brach­ten eine fro­he Nach­richt. Es war be­schlos­sen wor­den, dass un­se­re Män­ner auch ins Klos­ter ge­bracht wer­den soll­ten. Vol­ler Freu­de küss­ten wir den Schwes­tern die Hän­de.

Nun war zu über­le­gen, wie das zu be­werk­stel­lig­en war. Da wusste mei­ne Schwes­ter Rat. Sie hat­te ei­nen Nach­barn, ei­nen from­men Chris­ten, der uns be­hilf­lich sein konn­te. Er woll­te mit Tan­te Jan­ni­na nach Po­nar fah­ren. Sein Name war Wla­dek.

Jan­ni­na brach­te ihn zu uns, und wir mach­ten ge­mein­sam Plä­ne, wie man die Män­ner ins Klos­ter brin­gen könn­te. Herr Wla­dek soll­te am Abend mit dem Fahr­rad nach Po­nar fah­ren und bei Frau Ka­schio­zo­wa über­nach­ten. Früh am Mor­gen soll­ten sie mei­nen Mann als Bahn­ar­bei­ter ver­klei­den und mit dem Fahr­rad ins Klos­ter brin­gen. Nachts, wäh­rend der Sperr­stun­de, durf­te man nicht fah­ren.

Al­les hat­te sehr gut ge­klappt – am nächs­ten Mor­gen um 11 Uhr war mein Mann bei mir im Klos­ter. Un­se­re Be­geg­nung war für alle so rüh­rend, dass so­gar die Schwes­tern wein­ten.

Die nächs­te, viel schwie­ri­ge­re Auf­ga­be war es, den Mann mei­ner Schwes­ter her­zu­brin­gen. Das war eine gro­ße He­raus­for­de­rung. Er ar­bei­te­te in ei­nem Werk un­ter Auf­sicht der deut­schen Po­li­zei. Dort wur­den Ver­bren­nungs­stof­fe her­ge­stellt.

Er be­kam ei­nen Brief von Wla­dek, dar­in stand, er sol­le sich nach der Ar­beit im Feld ver­ste­cken und nachts ver­su­chen, ei­nen be­stimm­ten Ort im Wald zu er­rei­chen, wo Wla­dek auf ihn war­ten woll­te. Am nächs­ten Mor­gen in der Frü­he woll­ten sie ge­mein­sam ver­su­chen, das Klos­ter zu er­rei­chen. Das al­les war ein sehr ri­si­ko­rei­ches Un­ter­neh­men, aber zum Glück ging al­les gut. Für ei­nen Mann mit schwar­zem Voll­bart war es nicht ein­fach, ins Klos­ter zu ge­lan­gen. Die Stun­den, die wir war­tend ver­brach­ten, zo­gen sich sehr schwer hin – jede Mi­nu­te kam uns wie eine Ewig­keit vor. Da­mals dach­ten wir, dass es nicht schlim­mer wer­den könn­te, aber es ka­men Tage über uns, wo wir an die­se Klos­ter­zeit weh­mü­tig zu­rück­dach­ten.

Wir wohn­ten zu fünf Per­so­nen in ei­nem Zim­mer mit zwei Fens­tern, die mit Vor­hän­gen ver­hüllt wa­ren. Zwei ei­ser­ne Bet­ten stan­den dar­in. Es war ein bisschen wie eine Ka­ser­ne, aber für uns war es ein Pa­ra­dies des Frie­dens. In der Die­le be­fand sich eine Toi­let­te mit Dusch­ge­le­gen­heit, noch aus der Zeit der Be­ne­dik­ti­ner­schu­le. Der Win­ter 1941/42 war sehr kalt, und die Toi­let­te fror häu­fig zu. Ich hat­te das Amt des In­stal­la­teurs, koch­te täg­lich Was­ser auf und goss es in die Toi­let­te, so dass man sie im­mer be­nut­zen konn­te. Über­haupt hat­ten wir alle un­se­re Be­schäf­ti­gun­gen. Mein Mann und mein Schwa­ger wa­ren mit der Pfle­ge der Bib­lio­thek be­schäf­tigt. Die Bib­lio­thek des Klo­s­ters war sehr um­fang­reich, und vie­le Bü­cher wa­ren be­schä­digt. Die­se Ar­beit leis­te­ten sie gern, be­trach­te­ten sie als Un­ter­hal­tung und als Ent­gelt für den Auf­ent­halt im Klos­ter. Mei­ne Schwes­ter be­schäf­tig­te sich mit Nä­hen und flick­te die gan­ze Un­ter­wä­sche der Schwes­tern. Ich strick­te sämt­li­che Ja­cken und Pull­over der Non­nen. Die­se Ar­beit war an­ge­nehm, und wir ver­brach­ten täg­lich wohl zehn Stun­den da­mit. An den ein­sa­men Aben­den sa­ßen wir zu­sam­men und er­zähl­ten uns aus un­se­ren Er­in­ne­run­gen.

Ich er­in­ne­re mich, wie mein Mann von der Zeit er­zähl­te, die er al­lein in dem ver­las­se­nen Haus ver­bracht hat­te. Ge­gen Abend ging er stets zu Frau Ka­schio­zo­wa. Sie gab ihm Es­sen und be­rich­te­te, was al­les ge­sche­hen war. In un­se­rer Zeit in Po­nar hat­ten wir ei­nen Hund ge­habt. Beim Ver­las­sen un­se­res Hau­ses hat­ten wir ihn weg­ge­ge­ben. Ei­nes Ta­ges sah mein Mann ei­nen Hund, der ihm jau­lend ent­ge­gen­kam. Es war un­ser al­ter Hund. Im Fins­te­ren sa­ßen sie bei­de zu­sam­men und bei­de wein­ten sie. Der Hund ging ihm nach bis zum Haus von Frau Ka­schio­zo­wa und woll­te nicht von sei­ner Sei­te wei­chen. Die Frau er­schrak und sag­te, es sei zu ge­fähr­lich. Durch den Hund könn­te die Ges­ta­po auf sei­ne Spur kom­men und auch sie sei dann ge­fähr­det. So musste sie den Hund an ei­nen an­de­ren Ort brin­gen.

Samek, mein Nef­fe, leb­te in sei­ner ei­ge­nen Welt. Er mal­te und zeich­ne­te. Die Non­nen wa­ren be­geis­tert, sie ver­schaff­ten ihm Pa­pier und Far­ben. Ei­nes der Bil­der ist mir in Er­in­ne­rung ge­blie­ben: es zeigt Je­sus nicht als weh­mü­ti­gen, son­dern als zor­ni­gen Gott, vol­ler Zorn we­gen al­lem, was auf der Welt ge­schieht. Die Non­nen häng­ten die­ses Bild im Klos­ter auf. Es wirk­te nicht wie das Werk ei­nes klei­nen Jun­gen, son­dern wie das ei­nes fer­ti­gen Ma­lers. Die Ruhe im Klos­ter und die Or­gel­mu­sik hat­te eine ei­gen­ar­ti­ge At­mo­sphä­re um uns ge­schaf­fen, und das kam in sei­nen Bil­dern zum Aus­druck. Auch das, was sich drau­ßen, hin­ter der Ku­lis­se des Klos­ter­frie­dens er­eig­ne­te, hin­ter­ließ tie­fe Spu­ren in sei­nem Her­zen.

So leb­ten wir ein hal­bes Jahr. Täg­lich ka­men Hor­ror-Nach­rich­ten aus dem Ghet­to. Am Jom Kip­pur ist, wie wir hör­ten, un­se­re Mut­ter und auch die Mut­ter von Ja­nusch um­ge­kom­men. Wir wa­ren ganz ver­zwei­felt, aber wir wag­ten kein lau­tes Wort zu sa­gen.

Ei­nes Ta­ges kam die Obe­rin Ma­tusch­ka zu uns und er­zähl­te, dass sie noch vier jun­ge Mäd­chen auf­ge­nom­men habe, die aus dem Ghet­to ent­kom­men konn­ten. Eine da­von war Lol­ka Feld­stein, die Toch­ter ei­nes be­kann­ten Zahn­arz­tes. Die Obe­rin war sehr ängst­lich, sie er­zähl­te, dass die Deut­schen neu­er­dings auch sämt­li­che Klös­ter durch­such­ten. So ka­men wir zu dem Ent­schluss, uns eine an­de­re Blei­be zu su­chen. Jo­nas und Ja­scha gin­gen mit der Obe­rin, etwas Geeignetes für uns zu fin­den. Au­ßer den vier er­wähn­ten Non­nen wusste nie­mand von un­se­rem Ver­bleib. Was sie al­les für uns ge­lei­stet ha­ben, kön­nen wir nicht ge­nug an­er­ken­nen. Sie setz­ten ihr Le­ben für uns aufs Spiel und wir konn­ten ih­nen nichts da­für zu­rück­ge­ben. Die Nah­rung war knapp und sie musste für neun Per­so­nen rei­chen. Drei­mal am Tag be­ka­men wir un­ser Es­sen, vier­mal in der Wo­che so­gar mit Fleisch, sonst mit Milch. So wa­ren wir alle satt, wir konn­ten uns sau­ber hal­ten, wa­ren warm und ge­schützt. Auch Auf­merk­sam­keit und Lie­be wur­de uns zu­teil; je­den Abend kam die Obe­rin zu uns he­rein, und wir konn­ten ihr viel über un­ser Le­ben er­zäh­len, von der Zeit vor dem Krieg, un­se­ren Ver­wand­ten und al­lem an­de­ren. An al­lem war sie sehr in­te­res­siert. Au­ßer ihr kam auch manch­mal Schwes­ter Lu­cia. Sie war in ih­ren mitt­le­ren Jah­ren und sehr schön. Da­her frag­ten wir sie, wa­rum sie ins Klos­ter ge­gan­gen war, und sie er­zähl­te uns, dass dies seit ih­rer Kind­heit ihr in­nigs­ter Wunsch ge­we­sen war. Ihre Fa­mi­lie war ganz da­ge­gen und sie musste kämp­fen, um ihr Ziel zu er­rei­chen. Ihre äl­te­re Schwes­ter war be­reits im Klos­ter, sie war ih­rer Schwes­ter und ihr selbst ein Vor­bild. Es war nicht leicht, die­ses Ziel zu er­rei­chen, es ge­hör­te eine ge­wis­se Bil­dung dazu und vor al­lem eine gro­ße Lie­be zu Je­sus. Drei Jah­re musste sie eine stren­ge Pro­be­zeit in ei­nem frem­den Klos­ter durch­ma­chen. Aber sie be­stand alle Prü­fun­gen mit Bra­vour, und der glück­lichs­te Tag in ih­rem Le­ben war der, an dem sie zu ih­rer Schwes­ter ins Klos­ter ge­hen durf­te. Jetzt wa­ren es be­reits zehn Jah­re, dass sie in die­sem Klos­ter leb­te. Wir ha­ben sie be­wun­dert und ge­liebt, und je­der ih­rer Be­su­che war für uns wie ein Fei­er­tag.

Wir hat­ten we­nig Kon­takt nach au­ßen. Au­ßer Wla­dek sa­hen wir nur Lol­ka Feld­stein, die je­den Abend zu uns kam. Sie hat­te ei­nen Bru­der im Ghet­to, aber sie durf­te es nicht wa­gen, mit ihm Kon­takt auf­zu­neh­men. Durch sie wa­ren wir von der äu­ße­ren Welt nicht ganz ab­ge­schnit­ten und wussten, was um uns he­rum pas­sier­te. Am wich­tigs­ten war uns na­tür­lich die Lage im Ghet­to.

In der Fa­mi­lie war Tan­te Jan­ni­na un­ser ein­zi­ger Trost. Durch sie hör­ten wir al­les über mei­ne klei­ne Ta­mar, ihre Ap­pe­tit­lo­sig­keit, ihre Schlag­fer­tig­keit und über­haupt über ihre Ent­wick­lung. Au­ßer für sie sorg­te Tan­te Jan­ni­na noch für ein jü­di­sches Mäd­chen, dem sie ari­sche Pa­pie­re be­sorgt hat­te, und de­ren Schwes­ter, die in ei­nem Dorf leb­te.

Die­se bei­den Mäd­chen wa­ren ei­gent­lich un­se­re Tan­ten. Das kam so: Un­ser Opa war sein gan­zes Le­ben lang ein Bau­er und führ­te ein ar­beits­rei­ches, schwe­res Le­ben. Als sei­ne Frau starb war er schon 74 Jah­re alt. Sei­nen Wei­zen ließ er im­mer im Nach­bar­ort mah­len, der Bau­er dort war ein from­mer Jude. Die­ser hat­te eine viel jün­ge­re Frau. So jung und schön sie war, hat­te sie doch ei­nen schlech­ten Ruf und man sag­te, ihre Kin­der hät­ten vie­le Vä­ter. Mein Opa mied sie und spuck­te bei ih­rem An­blick ver­ächt­lich auf den Bo­den. Als nun aber ihr Mann ge­stor­ben und sie eine Wit­we war, fing mein Opa an, sie zu be­su­chen und er brach­te Ge­mü­se und Obst von ihr mit. Ei­nes Ta­ges er­hiel­ten wir von ihm durch Bau­ern aus dem Dorf eine Fuh­re Kar­tof­feln für den gan­zen Win­ter, Ge­mü­se und Obst. Durch sie er­fuhr mein Va­ter, dass der Opa in sei­nem Al­ter die­se Frau ge­hei­ra­tet hat­te. Das brach­te mei­nen Va­ter in Rage und er woll­te von Opa gar nichts mehr an­neh­men. Es stell­te sich aber he­raus, dass die Wit­we all ihre Kin­der gut un­ter­ge­bracht hat­te. Mit 45 Jah­ren hei­ra­te­te sie un­se­ren Opa und be­kam noch zwei Kin­der mit ihm, zwei Mäd­chen. Das eine hieß Sara Guta, das an­de­re Meit­ke Guta. Das Ver­hält­nis zum Opa wur­de wie­der bes­ser. Er bat auch mei­ne Mut­ter, sich der Mäd­chen et­was an­zu­neh­men, da­mit sie keine Gojim würden und da­mit sie et­was lern­ten. Zu­min­dest Le­sen und Schrei­ben soll­te man ih­nen bei­brin­gen. Er bat sie so lan­ge, die Kin­der zu sich zu neh­men, bis sie ein­wil­lig­te. Mei­nem Va­ter war das gar nicht recht, da er im­mer noch über den Opa ver­är­gert war. Aber ei­nes Ta­ges kam ein Bau­er und brach­te uns die bei­den blon­den Mäd­chen. Mut­ter sag­te: »Kin­der, seid doch nett zu ih­nen, es sind doch ei­gent­lich eure Tan­ten.«

Sie hat­ten so­gar eine ge­wis­sen Ähn­lich­keit mit uns. Doch sie stan­den in der Ecke und wa­ren ziem­lich ver­stört. Mei­ne Schwe­ster Mi­zia um­arm­te sie gleich und gab ih­nen auch von un­se­ren Spiel­sa­chen ab. Sie wa­ren bei­de sehr schüch­tern und spra­chen nur un­ter­ei­nan­der. Vor uns hat­ten sie Angst und blie­ben am liebs­ten in der Kü­che. Dort un­ter­hiel­ten sie sich mit den Dienst­bo­ten. Mut­ter be­stell­te für sie Pri­vat­leh­rer, um sie für die Schu­le vor­zu­be­rei­ten, aber sie woll­ten gar nichts ler­nen, wir fan­den sie rich­tig »ver­na­gelt«. Wir Kin­der ver­such­ten ih­nen bei­zu­brin­gen, dass sie ler­nen soll­ten und woll­ten mit ih­nen dis­ku­tie­ren. Doch es half al­les nichts. Mut­ter gab sie dann zu ei­ner kin­der­lo­sen Fa­mi­lie, die sie be­treu­te – ge­gen Zah­lung na­tür­lich. Als sie 12 und 13 Jah­re alt wa­ren und im­mer noch nicht ler­nen woll­ten, be­schloss mei­ne Mut­ter, dass sie ei­nen Be­ruf er­ler­nen soll­ten. Wir Kin­der sa­hen sie jetzt nur noch ge­le­gent­lich am Sonn­tag und hat­ten kei­nen ver­trau­li­chen Ton mehr mit ih­nen, schließ­lich wa­ren wir ja auch er­wach­se­ner ge­wor­den.

Als mein Opa 84 Jah­re alt ge­wor­den war, er­krank­te er – zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben. Der Arzt sag­te, das Le­ben im Dorf sei zu schwer für ihn ge­wor­den. Also kam er zu uns. Va­ter hat ihm ver­zie­hen und er blieb bei uns woh­nen. Zwi­schen ihm und dem Per­so­nal kam es we­gen der jü­di­schen Spei­se­ge­set­ze öf­ter zu Un­stim­mig­kei­ten. Von mei­ner Mut­ter be­kam er jede Wo­che Geld, aber das trug er im­mer so­fort auf die Bank, als Aus­steu­er für sei­ne Töch­ter. Sie be­such­ten ihn re­gel­mä­ßig an je­dem Schab­bat3. Da sie ja Tan­te Jan­ni­nas Stief­schwes­tern wa­ren, be­sorg­te die­se ih­nen ari­sche Pa­pie­re. Eine von ih­nen be­schäf­tig­te sie als Dienst­mäd­chen bei sich, die an­de­re wur­de im Dorf auf ihre Kos­ten un­ter­ge­bracht.

Das Dienst­mäd­chen hieß He­lene (Ha­linka), sie war im­mer sehr gut zu un­se­rer Toch­ter in der Zeit, als die­se bei Tan­te Jan­ni­na un­ter­ge­bracht war. Sie hat den Krieg über­lebt und lebt jetzt in Schau­len und wir sind noch im­mer mit ihr in brief­li­cher Ver­bin­dung. Die an­de­re Schwes­ter ha­ben wir nach dem Krieg nicht mehr ge­se­hen.

Un­ser Opa ist mit 90 Jah­ren ge­stor­ben. Bis zu sei­nem Tod brauch­te er kei­ne Bril­le und hat auch nie ei­nen Stock be­nutzt. Bis zu­letzt hat­te er sei­ne ei­ge­nen Zäh­ne. Er trug al­ler­dings eine Bril­le, je­doch ohne Glä­ser. Wenn man ihn frag­te wa­rum, so ant­wor­te­te er: »Um mei­ne Au­gen zu schüt­zen.« Wenn die Leu­te herausbekämen, dass er noch sein gu­tes Seh­ver­mö­gen habe, so dach­te er, würden sie ihm Bö­ses wün­schen und das könn­te schlecht für ihn aus­ge­hen. Er ver­göt­ter­te un­se­re Mut­ter und ist mit ih­rem Na­men auf den Lip­pen ge­stor­ben.

Nun wen­de ich mich wie­der un­se­rem Le­ben im Klos­ter zu. Je­den Tag er­reich­ten uns neue schlech­te Nach­rich­ten. Es hieß, die Klös­ter würden durch­sucht. Die Bau­ern wur­den dar­an ge­hin­dert, ihre Le­bens­mit­tel ins Klos­ter zu brin­gen, sie wur­den durch­sucht und ihre Wa­ren wur­den ih­nen ab­ge­nom­men. Trotz­dem mussten wir nicht Hun­ger lei­den, denn die Schwes­tern teil­ten mit uns je­den Bis­sen. Schwes­ter Lu­cia pfleg­te im­mer op­ti­mis­tisch zu sa­gen: »Kin­der, nur die Hoff­nung nicht ver­lie­ren, wir wer­den Hit­ler noch über­le­ben!«

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