Читать книгу Sag niemals, das ist dein letzter Weg - Jetta Schapiro-Rosenzweig - Страница 8
ОглавлениеDie Geschichte von Tante Jannina
Wer ist Tante Jannina? Von ihr muss jetzt erzählt werden.
Jannina war die Schwester meines Vaters. Unser Opa – der Vater meines Vaters – lebte in einem Dorf, wo er einen Hof gepachtet hatte. Alle seine Söhne schickte er nach Wilna, damit sie dort studieren konnten. Die älteste Tochter wanderte in die USA aus. Die kleinste, Chanale, blieb zu Hause, ihr Vater sorgte für sie, lehrte sie die jüdischen Gebete zu lesen und jüdisch zu beten. Ihre Freunde und Freundinnen waren allerdings Christenkinder. Mit ihnen spielte sie in Wald und Feld. Gott hatte ihr ein schönes Gesicht und eine schöne Stimme beschert, sie sang und tanzte wunderschön. Der reichste Mann im Dorf, der die größten Äcker gepachtet hatte, fand Gefallen an ihr und lockte sie oft mit Süßigkeiten und Geschenken in sein Haus. Eines Tages war Chanale verschwunden. Man suchte sie überall und glaubte schließlich, sie sei im Teich ertrunken oder im Wald verschwunden.
In Wahrheit aber hatte der Pächter sie entführt und in das Benediktinerinnen-Kloster von Wilna gebracht. Dort wurde sie getauft und bekam den Namen Jannina. Neun Jahre vergingen, da begegnete mein Vater einer Schar junger Mädchen, einer Schulklasse in langen schwarzen Kleidern, die von Nonnen vorbeigeführt wurde. Er dachte: »Solche hübschen Mädchen sollen Nonnen werden?« Er schaute sie aufmerksam an und merkte, dass auf einmal ein Mädchen aus der Gruppe ins Kloster zurücklief. In diesem Augenblick erkannte er seine Schwester und schrie: »Chanale, Chanale!« Aber sie verschwand im Kloster. Damals war sie schon in der achten Klasse des Gymnasiums und besuchte gleichzeitig das Konservatorium.
Diese Begegnung beunruhigte meinen Vater sehr. Er fuhr zu Opa ins Dorf und erzählte ihm, was er erlebt hatte. Danach fuhr Opa ins Kloster, aber dort stritt man alles ab. Er ging sogar mit der Polizei hin, aber das war auch umsonst. In den Listen, die man ihm zeigte, wurde sie unter einem anderen – adligen – Namen geführt. Man berichtete uns, dass sie an dem Tag, als mein Vater sie erkannte, zu einer reichen adeligen Familie in Kafkas verbracht worden war. Es war die Familie des Gutsbesitzers aus unserem Dorf. Sie heiratete dort einen Ingenieur aus dieser Familie, der bei Ölbohrungen arbeitete. Er war viel älter als sie und ein edler, anständiger Mann.
Auch sie hatte ein trauriges Schicksal. Während der russischen Revolution, als sie schon Mutter von drei Söhnen war, sperrte man alle Aristokraten ein, dabei auch ihren Mann. Sie blieb mit den Kindern allein zurück. Doch sie war eine unerschrockene Frau und es gelang ihr schließlich, ihren Mann zu befreien. Sie kaufte ihn mit ihrem wertvollen Schmuck frei. Mit der Eisenbahn flüchteten sie von Ort zu Ort. Eine Typhus-Epidemie nahm ihnen ihre drei Söhne. Nach vielen Irrwegen erreichten sie schließlich Kowna in Litauen. Dort konnten sie sich niederlassen; ihr Mann bekam eine gute Stellung, sie konnten eine Zeit lang ein normales Leben führen und sie bewohnten ein schönes Haus.
Die Sehnsucht, ihre Familie wiederzufinden war groß, aber Kowna und Wilna waren durch eine »eiserne« Grenze getrennt.
Auf einer Reise nach Paris lernte sie einen Priester kennen, der ein Freund der Juden war. Sie zeigte ihm Fotos aus ihrer Kindheit. Auf einem dieser Bilder war mein Vater in einer Werkstatt für Textilmaschinen abgebildet. Zu ihm kam eines Tages der Priester in die Werkstatt. Er befragte ihn über seine Familie und er erzählte ihm von seiner verschollenen Schwester Chanale, die jetzt in Kowna wohne und versuchte, etwas über ihre Familie zu erfahren. Damals war sie wieder Mutter eines Sohnes, den sie in Kowno geboren hatte. Mein Vater war voller Freude, auf diese Weise wieder eine Spur von seiner Schwester erhalten zu haben. Er erzählte dem Priester alles über seine Familie. Wir Kinder erfuhren nichts von diesen Tatsachen, aber unsere Mutter war genau informiert.
Damals waren wir in unserer Sommerwohnung, nicht weit von Wilna entfernt. Unser Opa wohnte bei uns, alle seine Kinder außer meinem Vater waren nach Amerika ausgewandert. Vater erzählte uns, dass eine Jugendfreundin zu uns auf Besuch gekommen sei. Freitags um fünf Uhr erschienen meine Eltern in Begleitung einer eleganten Frau. Ihren Sohn hatte sie bei dem befreundeten Priester zurückgelassen. Alles war für den Sabbath vorbereitet. Auf dem Tisch lag eine weiße Sabbathdecke, die Sabbathkerzen brannten, die Chalot (zwei geflochtene Hefeweißbrote) waren mit einem weißen Tuch bedeckt, und, nicht zu vergessen, da stand der Wein zum Kiddusch2, dem Sabbathsegen. Alles wartete auf Opa. Endlich kam er aus der Synagoge.
Alles saß um den Tisch herum, Jannina zwischen uns, sie war wie versteinert. Sie beobachtete ihren Vater und konnte sich kaum zurückhalten. Opa war mit dem Ritual beschäftigt und schaute gar nicht in ihre Richtung. Auf einmal hörten wir, wie unser Gast bitterlich weinte. Opa wandte sich ihr zu und fragte: »Warum weinen Sie denn?«
Da stand sie plötzlich auf, kniete vor ihm nieder und sagte auf polnisch immer wieder: »Vater, verzeihe mir!« Ihre Muttersprache Jiddisch hat sie inzwischen vergessen.
Opa war wie versteinert. Er hatte Tränen in den Augen, legte seine Hände auf ihren Kopf und sagte: »Mein Kind, ich verzeihe Dir! Alles das, was geschehen ist, war nicht deine Schuld. Gott wird Dir verzeihen, ich habe es schon getan. Das war Schicksal. Dich trifft keine Schuld. Böse Menschen haben das auf ihrem Gewissen. Du warst damals noch ein Kind.«
Jetzt hatten wir alles begriffen, und von diesem Moment an war die Verbindung zwischen uns und Jannina wieder hergestellt. Sie besuchte uns dann noch dreimal; beim dritten Mal war unser Opa nicht mehr am Leben, er starb im Alter von 90 Jahren. Sein Tod hat uns sehr mitgenommen. Jannina beteiligte sich an der Errichtung seines Grabsteins.
1939 brach der Krieg aus, und1940 übergaben die Russen Wilna den Litauern. Damals verkaufte Jannina ihr Haus in Kowna und übersiedelte nach Wilna. Dort wohnte sie mit ihrer Familie in der Schwurzinaistraße. Ihr einziger Wunsch war nun, in der Nähe ihrer Familie zu sein.
Eines Tages kam sie nach Ponar und besuchte uns. Sie bat uns, unsere Tochter Tamar in ihre Obhut zu geben. Sie meinte, dass wir es ohne das kleine Mädchen leichter haben würden davonzukommen.
Um es uns leichter zu machen, erzählte sie von ihren eigenen Schicksalsschlägen, vor allem, wie sie ihre drei Söhne verloren hatte. Es fiel uns sehr schwer, eine Entscheidung zu treffen; wir glaubten, dass wir uns nicht von unserem Kind trennen könnten, aber der Verstand sagte uns, dass Tante Jannina recht hatte. Sie nahm Tamar mit. Am nächsten Tag schickte sie eine Kutsche, um Tamars restliche Sachen abzuholen. Wir versuchten unserer Tochter einzuprägen, dass sie jetzt den Namen Teresa hatte und dass ihre Mutter jetzt Jadwiga und ihr Vater Joseph Scharwinski hießen.