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Kapitel 8
ОглавлениеIndes halb frustriert, halb entschlossen machte sich Friedemann auf den Weg zurück ins Haus. Schleppenden Schrittes ging er durchs Vestibül in den hinteren Teil der Bibliothek, um schließlich vor einer mannshohen Vitrine stehen zu bleiben. Seine Augen huschten unruhig hin und her und Friedemann spürte, wie ihm die Hände vor lauter Aufregung feucht wurden. Zu seiner Verwunderung steckte der kleine silberne Schlüssel. Normalerweise trug den Gerhard stets bei sich. Offenbar hatte ihn das Erscheinen der beiden Frauen zu einiger Gedankenlosigkeit verleitet. Kein Wunder, dachte Friedemann, wo dieser geile Bock mit seinen Gedanken heute Nachmittag hing, kann man sich an allen Fingern ausrechnen. Und dann: Umso besser. Er schob erleichtert den lächerlichen Kupferdraht, mit dem er gehofft hatte, das Schloss unversehrt öffnen zu können, zurück in seine Hosentasche, zögerte noch einen Augenblick und drehte dann beherzt den Schlüssel um. Sofort strömte ihm der Geruch von altem, staubigem Papier entgegen. Noch einmal holte er tief Luft, weil sich nun zu seinen feuchten Händen auch noch ein Klopfen in der Brust gesellte. In der Vitrine lagerten Unmengen loser Blätter. In erster Linie waren es Federzeichnungen. Amateurhafte Versuche Wälle, Burgen und kleinere Heiligtümer zu rekonstruieren, von denen in natura höchstens noch Partikel der Fundamente übrig geblieben waren. Auch fanden sich mehrere Exemplare verschiedener Phantasieentwürfe Rethras, einer utopischer als der andere. In den untersten drei Fächern der Vitrine stapelten sich Atlanten und Kartographien der verschiedensten Zeitepochen. Couleur und Zeitepochen. Doch all diese Dinge beachtete Friedemann gar nicht. Er suchte nach etwas anderem. Es gab mehrere Übersetzungen des Thietmarschen Textes und natürlich jede Menge Kopien des Urtextes. Und weil Gerhard ihn heute auf einen Gedanken gebracht hatte, und er dazu so nahe wie möglich an die Urfassung herankommen musste, suchte Friedemann eben eine dieser wertvollen Kopien. Und wie er vermutete, befand sich eine davon im Besitz von Gerhard Voßkuhl. Nicht nur einmal hatte dieser sich mit vagen Andeutungen gebrüstet. Sei es aus Intuition oder närrischer Kombination, Friedemann wähnte dieses wichtige Schriftstück in der Vitrine. Soll er sich doch seine angeberische Klugheit aus seinem beschissenen Gehirn vögeln, dachte Friedemann, ich weiß etwas Besseres. Fiebernd durchblätterte er Stapel um Stapel, kramte in einer kleinen Kiste herum, in der Voßkuhl aber nur mehrere Handvoll perlmuttschimmernder Muscheln aufbewahrte und durchforstete zuletzt eine zerschlissene Ledermappe, mit einem defekten Reißverschluss. Fehlanzeige. Aufkommende Wut dämpfte seine Hoffnungen und schließlich befiel ihn nur noch blinde Verzweiflung. Um seiner aufkommenden Ohnmacht Herr zu werden, trat er einen energischen Schritt zurück und stieß dabei mit voller Wucht gegen die geöffnete Vitrinentür. Das altehrwürdige Scharnier gab ächzend nach, knirschte und mit einem gedämpften Knall flog die Glasscheibe auseinander. Friedemann erfasste Panik. Angstschweiß trat auf seine Stirn. Ein Strom heißen Blutes zirkulierte durch seine Adern und sammelte sich im Kopf. Und so als wäre ihm der Leibhaftige auf den Fersen, rannte er über die Scherben aus der Bibliothek. Erst auf der Veranda kam er wieder zu sich.
Dass Gerhard mit seinem hormonfördernden Anhang nicht vor dem Morgen zurückkäme, war unbestritten, also blieb ihm, so überlegte Friedemann nun endlich gefasst, noch genügend Zeit, um das kleine Malheur zu beseitigen. Erklärungen für den Bruch der Scheibe gab es in seinem Kopf en masse. Und endlich stieg in ihm auch die Vernunft auf, seine lächerliche Suche zu beenden. Inzwischen hatte schwarze Nacht den See verschlungen. Friedemann atmete einige Male tief durch, wartete eine Weile, bis er sich vollständig beruhigt hatte und knipste dann eine kleine Lampe an, welche die Veranda in schummriges Licht tauchte. Langsam gewann Gelassenheit die Oberhand. Nur sein Blick huschte noch immer unruhig hin und her, als gäbe es irgendwo eine versteckte Kamera, die seinen Verrat gefilmt haben könnte. Auf einem Liegestuhl lag ein Feldstecher, auf dem Boden eine dunkelblaue Short und neben einem stinkenden Whiskyglas ein kleiner Stapel Papier. Und weil Friedemann sich naturgemäß mehr für Papiere als für all die anderen Dinge interessierte, blieb sein Blick auf dem kleinen Stapel hängen. Gedankenlos betrachtete er das verschnörkelte Deckblatt und schob es zur Seite. Dann erbleichte er:
„Est urbs quaedam in pago Riedierum Riedegost nomine, tricornis ac tres in se continens portas, quam undiquie silva ab incolis intacta es venerailiscircumdat magna...“, sprangen ihm die Buchstaben entgegen. Da lag Thietmarsche Text in seiner Urfassung.
Jetzt gab es kein Halten und kein Zurück mehr. Mit sinnlicher Andacht ergriff Friedemann die wertvollen Papiere und tat sie vorsichtig in den nächstbesten Umschlag. Dann schnappte er sich seine Sachen und enteilte hinaus in die Dunkelheit in Richtung Feldberg.
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Genau in dem Augenblick als Gerhard Voßkuhls Assistent, beziehungsweise ehemaliger Assistent, von der Nacht verschluckt wurde, flammte eines der vielen Hügelgräber im Schlichter Wald in einem seltsam bläulich leuchtenden Licht auf. Dieses merkwürdige Licht kam nicht plötzlich. Dieses Licht züngelte langsam auf. Es war, als ob das gesamte Grab von innen her beleuchtet würde. So, als hätten die darin liegenden Gebeine einstiger slawischer Fürsten sich zu einem Kartenspiel versammelt und dafür ein bisschen kosmisches Licht entzündet.
Eine kleine Spitzmaus, die ganz in der Nähe Samenkörnchen einsammelte, richtete sich erschrocken auf, verharrte einen Augenblick geblendet und witterte dann in die Richtung, aus der ein ätzender Schwall fremden Geruchs über sie hereinbrach. Wäre sie ihrem Instinkt gefolgt und hätte sogleich die Flucht ergriffen, wie normalerweise bei allem Fremden, wäre sie vielleicht mit dem Leben davon gekommen. Doch das bläuliche Licht lähmte all ihre lebensnotwendige Ängstlichkeit. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Vorderpfötchen tanzten, als könnten sie den Geruch greifen. Kurz darauf war es zu spät. Das Schwefelgemisch hatte ihre Lungen erreicht und einen Moment später krümmte sich der kleine Leib. Die großen Augen wirbelten Bruchteile von Sekunden wie toll im Kreis herum, Schleimhäute verbrannten und die rechte zierliche Vorderpfote scharrte noch einmal reflexhaft den Waldboden. Dann war es vorbei.
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„Hast du das gesehen?“, flüsterte Tanja erschrocken ihrer Freundin Susanne zu. Die beiden saßen bei Kerzenlicht in Wolldecken gehüllt auf dem Deck und starrten ins Schwarze. Gerhard Voßkuhl schlief bereits, gepeinigt von üblen Träumen.
„Was denn?“, antwortete Susanne schläfrig und ein wenig gelangweilt. Den Abend jedenfalls hatte sie sich anders vorgestellt. Außerdem grübelte sie seit einiger Zeit darüber, ob sie sich nicht einfach zu Gerhard legen sollte, um ihn mit ihrem warmen Körper zu trösten. Tanja hatte ihr erzählt, dass es ihm nicht gut ginge, hatte aber verschwiegen, was sie selbst noch nicht glauben konnte.
„Da war ein blaues Licht im Wald!“
„Hm, wohl ein Stelldichein geschlechtsreifer Glühwürmchen“, antwortete Susanne und kicherte.
„Nein, da war ein blaues Licht, ganz deutlich. So eine Mischung zwischen grün und blau.“
„Ach, komm, du hast Halluzinationen. Lass uns schlafen gehen. Ich bin müde.“ Susanne kroch aus ihrer Decke, blickte noch einmal gedankenversunken in die Nacht und kletterte dann mit einem letzten vergeblichen Hüsteln in Gerhards Richtung die kleine Holztreppe hinunter. Tanja starrte noch eine Weile zu der Stelle, wo sie das seltsame Licht gesehen hatte und versuchte die Dinge zu ordnen, die ihr durch den Kopf gingen. Arme Vittoria, seufzte sie, dann dachte sie darüber nach, ob ihre Vermutung nicht nur ein Hirngespinst war. Trotzdem beschloss sie, Vittoria davon zu erzählen. Und weil sie diese Gedanken derart in Anspruch nahm, glaubte sie nach einer Weile tatsächlich, dass sie eine Art Halluzination gehabt hatte. Möglicherweise, sagte sie sich, kommt das von der Sonne oder der Konzentration auf die vergangenen Ereignisse, die ihr bereits Kopfschmerzen bereiteten. Eine halbe Stunde später umschloss auch sie der Bauch des Schiffes. Sie kuschelte sich an den Rücken von Susanne, gähnte zweimal und war im nächsten Augenblick eingeschlafen.