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Kapitel 5

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Im Tempel stand ein gewaltiges Götterbild, dem menschlichen Körper an Größe weit überlegen“, las Friedemann Frehse laut vor, während sich Gerhard Voßkuhl einen zweiten Whisky genehmigte und verträumt auf den Breiten Luzin blickte, der von seinem Fenster aus wie ein schwarzer Teppich wirkte, den ein Riese zwischen das dichte Baumwerk abgelegt hatte. Ausgebreitet und dann vergessen. „wunderlich anzusehen durch seine vier Köpfe und ebenso viele Hälse. Zwei der Köpfe schienen nach der Brust und ebenso viele nach dem Rücken zu sehen... Hören Sie mir überhaupt zu?“

„Hm, soll mich doch der Hafer stechen, wenn unser verschwundenes Rethra nicht ähnlich ausgesehen hat“, gab Gerhard grunzend zur Antwort und beleckte mit der Zunge den Rand des Glases. Er hielt den Whisky gegen das Licht, drehte das Glas solange in der Zentrifuge, bis im Inneren des Gefäßes ein Sturm ausbrach und seufzte hörbar. „Ich mache mir darüber Gedanken, ob dieser Schuchardt bei seinen Ausgrabungen 1922 nicht längst grellen Anflügen trüben Wahns gefolgt war. Zudem finde ich es höchst erstaunlich, dass sich in diesem kleinen verschlafenen Städtchen kein Schwein mehr für die Slawen interessiert. Seit den Siebziger Jahren wurde hier nicht mehr eine Erdkrume bewegt. Trotzdem! Auf den ersten Blick glaubt man in der Tat noch das unruhige Scharren von Pferdehufen zu hören, wenn man diesen gottverdammten Berg betritt - aber irgendetwas stinkt da gewaltig zum Himmel... Lesen Sie weiter! Mögen Svantevit, der mächtige Gott der Slawen und alle umherirrenden Seelen der Lutizen uns ihre blutrünstigen Fratzen zeigen, damit wir ihnen ihr Geheimnis entlocken.“ Friedemann blickte kurz auf, schob seine Brille zurecht und tat wie befohlen. Doch Gerhard unterbrach ihn abermals.

„Was meinen Sie? Werden uns diese beiden Täubchen heute Abend einen Besuch abstatten?“

„Welche Täubchen?“

„Die, die ich heute Mittag auf dem Fallada-Friedhof aufgegabelt habe. Standen da, in ihren entzückenden Kleidchen und fanden das alles hier einfach atemberaubend. Erinnern Sie sich nicht mehr? Sie waren gerade damit beschäftigt, Löcher in den wolkenlosen Himmel zu starren. Ich habe den Eindruck, dass die beiden gar nicht wegen unseres großen Erzählers hier gelandet sind, sondern aus ganz anderen Gründen. Wo waren Sie eigentlich die letzten beiden Tage?“

„In Halle, meine Mutter besuchen. Was meinen Sie mit, aus ganz anderen Gründen?“

„Nun, die eine von ihnen kannte mich, bevor ich mich überhaupt vorstellen konnte.“

„Aha.“

„Vielleicht sollten wir eine von ihnen opfern, um die Götter der Wenden zu besänftigen. Die brauchen Blut, um sich zu offenbaren, haha.“ Friedemann rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her griff sich nervös in sein nach allen Seiten auseinanderfliehendes Haar.

„Was ist, soll ich nun weiterlesen oder nicht?“

„Himmelherrgott, lesen Sie! Sie humorloser Klaustrophilier“, antwortete Gerhard unwirsch, obgleich er mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache war. Träumerisch blickte er erneut auf den See und malte sich dabei aus, wie er es am besten anstellen konnte, die von ihm Auserwählte der beiden Frauen zu verführen. Unten am Holzsteg sah er, wie seine kleine Yacht behäbig über die Wellen tänzelte, und Gerhard verfolgte eine Weile aufmerksam das Glucksen des Wassers, wenn es am Schiffskörper leckte.

Ich werde sie auf eine kleine Rundfahrt bei Nacht einladen, dachte er. Auf dem Wasser vögelt es sich am sinnlichsten. Wie ich gehört habe, kommen Frauen schneller, wenn der gesamte Boden unter ihnen schwankt. Mal sehen. Und so wie es aussieht, spannt sich heute Nacht auch noch ein imposanter Sternenhimmel über den See. Die ideale Mischung. Ein bisschen Sekt, ein paar kleine Geschichten, ein bisschen Verständnis, wohlplatzierte Komplimente, banal erscheinende Andeutungen, Fröhlichkeit, flüchtige Berührungen, ohne aufdringlich zu sein, und zack- der Ausflug wird zum Freudentanz.

„Im übrigen schien von den Vorderen wie von den Hinteren der eine nach rechts, der andere nach links zu blicken. Die Bärte waren rasiert dargestellt, die Haare geschnitten, so dass es schien, der Fleiß des Künstlers hätte der Art der Rugianer in der Pflege der Haare nachgeahmt. In der Rechten hielt die Figur ein Trinkhorn aus verschiedenen Metallen gebildet...“, las Frehse wie befohlen.

„Saxo stand dem Bild des Svantevit in Arkona zweifelsfrei gegenüber“, unterbrach Gerhard erneut und stand auf. „Aber das hilft uns nicht weiter. Die Frage ist ja, wurde Rethra nach seiner Zerstörung nach Arkona verlegt, an einen anderen Ort oder hat es überhaupt je existiert? Jetzt nehmen Sie mal unseren geliebten Thietmar zur Hand. Dieser andere Kerl, Adam von Bremen, ist für mich ein Hochstapler. Rethra hat der gewiss nicht gesehen. All das Geschwafel von einer Insel und einem Heiligtum mit neun Toren. Dem Quatsch bin schon ein paar Mal aufgelaufen. Dieser Kerl wollte sich wichtig machen mit seinen fabulösen Übertreibungen!“ Friedemann legte den Bericht des Saxo Grammaticus beiseite und nahm statt dessen eine Übersetzung der Chronica Thietmars von Merseburg zur Hand und zog eine Bussardfeder aus dem sechsten Buch- der gekennzeichneten Stelle, die Gerhard hören wollte.

Im Redariergau liegt eine Burg mit Namen Riedegost, dreihörnig und mit drei Toren, ganz von einem großen Walde, den die Bewohner unversehrt und heilig halten, umgeben. Zwei ihrer Tore stehen allen, die hinein wollen, offen; das dritte, das nach Osten schaut und ganz klein ist, weist den Pfad zum See unmittelbar daneben. Der See war schauerlich anzusehen...“ Gerhard schaute flüchtig zum Lucin, der ebenso träumerisch zwischen den Bäumen leuchtete, wie der Haussee- zwei aneinandergeschmiegte Oasen und schüttelte den Kopf.

Haben Sie schon einmal einen See gesehen, der schauerlich anzusehen ist“, sagte er.

„Ja! Gestern, während des Gewitters!“ antwortete Friedemann Frehse.

„Man merkt, dass Ihnen Ihre Lyrik langsam das Gehirn aufweicht. Spülen Sie doch einfach mal den ganzen geistigen Dünnschiss herunter, mein Gott. Das, was wir hier vor uns haben ist kein Gedicht, sondern der Bericht eines nüchternen Chronisten. Er beschreibt keine Gemütszustände oder das Wetter, sondern ist um relative Objektivität bemüht. Ich habe das merkwürdige Gefühl, dass wir hier noch einige Klippen umsegeln müssen...“ Gerhard hielt plötzlich inne. „Kommen Sie mit. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Friedemann legte achselzuckend das Buch zu den anderen und folgte Gerhard. In der Mitte des Raumes, den sie nun betraten, stand ein wuchtiger Eichentisch, an dem Gerhard für gewöhnlich seine Mahlzeiten einnahm, mit seinen Gästen Konversation betrieb oder die eine oder andere Zecherei veranstaltete. Dieser riesenhaft erscheinende Raum mündete im Süden in einem Balkon, wo zwei monströse Ohrensessel sich schräg gegenüber standen, die von einer Reihe handgeschnitzter Figuren und allerlei Grünpflanzen umlagert waren. An den Wänden türmten sich Mahagoniregale mit Krimskrams und natürlich jeder Menge Bücher. Zwölf hochlehnige Holzstühle mit lederbezogenen Sitzflächen parkten ordentlich aneinandergereiht um den Tisch wie die stummen Wächter einer Verschwörung. Zwei Türen führten hinaus. Die eine ins Vestibül, die andere in den Billardraum. Gerhard schob einen Stuhl zur Seite und wies Friedemann an, Platz zu nehmen. Er verschwand kurz und kam dann mit einer Landkarte zurück. Ihn schien etwas zu beschäftigen. Mit gerunzelter Stirn trat er an den Tisch und sagte:

„Thietmar spricht von einer dreieckigen und dreitorigen Burg, inmitten eines heiligen Waldes. Das östliche Tor öffnete sich auf einen Pfad, der zum benachbarten schauerlich anzusehenden See führte. Habe ich recht?“

„Ja“, antwortete Friedemann und fummelte umständlich an seinen Haaren herum.

„Adam beschreibt eine neuntorige Burg“, fuhr Voßkuhl fort, „die ringsum von einem tiefen See umschlossen war, also auf einer Insel lag. Aber wie gesagt, Adam erscheint mir wenig seriös. Sehen Sie her.“ Gerhard breitete seine Karte aus und Friedemann beugte sich umständlich darüber. „Hier ist Arkona!“ Voßkuhls fleischiger Zeigefinger klopfte auf einen runden Kreis im Norden der Insel Rügen. „Das war, neben oder nach Rethra, die vermutlich wichtigste Kultstätte unserer verehrten Heiden. Hier stand ihr Tempel für Svantevit. Zerstört 1168.“ Friedemann nickte, obgleich er nicht ganz folgen konnte. „Berichten zufolge waren die vier Völkerstämme der Lutizen: die Kessiner, Zirzipanen, Tollenser, Redarier die kämpferischsten und zankten sich nicht nur regelmäßig mit den benachbarten Stämmen der Heveller, Ukranen, Obodriten und wie sie alle hießen, sondern schlugen sich aus Langeweile auch mal gegenseitig die Köpfe ein. Dennoch gab es eine Ausnahme. Sie alle hatten eine religiöse Verbundenheit, die sie nicht nur vereinte, sondern ihnen gewissermaßen ein Heimatgefühl oder so etwas wie ein symbiotisches Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelte. Natürlich gab es jede Menge kleiner Tempelchen, ähnlich verbreitet wie die Dorfkirchen, aber vermutlich nur zwei große religiöse Zentren. Arkona und Rethra! Das ist unser Schlüssel. Diese Christusverächter schlugen sich die Köpfe ein, wie es ihnen gerade einfiel, dennoch verband sie etwas, was ihnen mehr Wert war, als ein bisschen Land zu erobern: der Lutizenbund. In Arkona hält Svantevit ein Füllhorn im Arm, als Zeichen für Fruchtbarkeit und Reichtum. Andere Tempel hatten als Symbole, ein goldenes Schild oder Speere und Lanzen. Schlussfolgern wir einmal daraus, dass jeder dieser Tempel für einen ganz bestimmten Aspekt ihrer Religiosität stand, für eine ganz bestimmte Aufgabe verantwortlich war.“

„Diese Theorie hinkt beträchtlich“, wandte Friedemann vorsichtig ein. „Jedes dieser Kultgegenstände stand für bestimmte Handlungen. Das Füllhorn meinetwegen für eine reiche Ernte, die Lanzen für einen bevorstehenden Feldzug... und so weiter. Sie können aber dort ebenso gleichzeitig aufbewahrt worden sein. Tempel in dieser Größenordnung bedienten mehrere Aspekte eines religiösen Gedankens.“ Gerhard zeigte sich davon wenig beeindruckt. Es war immer so, dass er, wenn er einer fixen Idee nachhing, zunächst jegliche Einwände beiseite schob. Hatte sich dann das Bild, das er sich zurecht gezimmert hatte, als Irrtum erwiesen, schlug er sich ein paar Mal auf die Glatze und fing von vorne an.

„Warten Sie mal“, sagte er deshalb vollkommen überzeugt, „ich bin noch nicht fertig.“ Friedemann lächelte nachsichtig, sagte aber unbeirrt:

„Sie müssen wissenschaftlicher vorgehen. Sonst verstricken Sie sich.“

„Ach, du heilige Scheiße. Ihr klugen Wissenschaftler habt Rethra nie gefunden. Was ist, wenn unsere Tempelhüter nun ihrer eigenen Logik folgten? Also: Hier die kleinen roten Punkte zeigen all jene Orte an, wo Spuren von Kultstätten ausgegraben wurden. Garz, Angermünde, Wolgast, Gützkow, Groß-Raden, Teterow und hier Feldberg.“ Wie ein Kreisel flog sein dicker Zeigefinger von einem Punkt auf den nächsten. „Die grünen Kreise wiederum zeigen die Orte an, wo man bislang Rethra vermutet hat. Der Schlossberg, wie Schuchardt glaubte, die Insel Remus bei Rheinsberg, die Landzunge zwischen Tollensee und Lieps und all die vielen anderen Vermutungen, die man in den letzten hundert Jahren marktschreierisch postulierte, wie beispielsweise hier bei Demmin. Schauerlich anzusehen...“, murmelte Gerhard. Was könnte Ihrer Meinung nach, mein lieber Frehse, schauerlich anzusehen sein?“ Artig begann Friedemann Frehse nachzudenken.

„Beispielsweise ein Fußballspiel“, antwortete er und grinste.

„Hm... Weiter?“

„Der Unrat einer Burg im Mittelalter.“

„Schauerlich, Frehse. Nicht ordinär!“

„Ein Schlachthof vielleicht?“ Frehse war Vegetarier.

„Ah ja. Ein Schlachthof! Wie wäre es mit einer Opferstätte? Einem Schlachthof nicht unähnlich.“ Voßkuhl leckte sich die Lippen und pfiff durch die Zähne. „Was, wenn wir hier gar nicht so falsch liegen? Vielleicht war unser Schuchardt doch auf der richtigen Fährte.“

„Ich verstehe nicht.“

„Nehmen wir einmal an: Die Priester von Rethra ahnten die Auseinandersetzung, die sich zwischen ihrer und der Religion ihrer verhassten Feinde, dem Christentum, ergeben würde. Was würden Sie an ihrer Stelle tun, wenn Sie davon überzeugt wären, dass Sie eines Tages unterlägen?“ Hätte Gerhard einen Vollbart gehabt, hätte er jetzt gewiss daran gezupft oder ihn wenigstens gekratzt. So strich er sich nur verheißungsvoll über die Glatze.

„Hm, ich hätte vermutlich die weiße Fahne gehisst, und mich ergeben.“

„Das sieht Ihnen ähnlich. Versuchen Sie einfach einmal komplexer zu denken.“

„Ich hätte versucht zu retten, was zu retten ist.“

„Aha!“ Gerhard konnte sein Entzücken kaum zügeln.

„Nehmen wir also einmal an, unsere heidnischen Priester haben ganz so gehandelt, wie es... ähm, ihrem Beruf entsprach. Sie haben also versucht zu retten, was zu retten ist. Und das Wichtigste für sie war: Der heilige Ort, mit all seinen Schätzen, der alle ihre so verstrittenen kleinen Haudegen miteinander verband. Nun, dämmert es?“

„Rethra wurde verlegt.“

„Genau! Rethra wurde verlegt. Vielleicht haben die Hüter von Rethra das getan, was bereits die alten Ägypter getan haben? Um ihre gottähnlichen Herrscher vor Grabplünderungen zu schützen, hat man sie samt ihrer Beigaben in der Wüste versteckt. Und wie ermöglicht es man späteren Generationen, einen so wichtigen Ort am ehesten wiederzufinden, wenn man einer allgemeinen Schriftsprache nicht mächtig ist und noch keine Ahnung von Kartographie, Erosion und geographisches Kauderwelsch hat? Richtig, man zieht eine möglichst gerade Linie, hinterlegt irgendwo einen Hinweis, führt ein bisschen in die Irre und macht es ansonsten so einfach wie möglich... Und dann haben wir noch jenen legendären weißen Hengst. Was nichts anderes bedeutet, als dass es irgendwo in der Nähe wenigstens so etwas wie eine Weidemöglichkeit für Pferde geben muss. Dieser Schimmel braucht nämlich Futter. Conow - dieses Dorf hier ganz in der Nähe ist ursprünglich slawisch und bedeutet: Pferdedorf, Carwitz - Kuhdorf, Strelitz – heißt im übertragenen Sinne, Ort der Bogenschützen.“ Erneut glitt der dicke Finger von Gerhard über die Karte und plumpste auf einen der grünen Kreise wie ein zu fetter Habicht auf seine Beute. „Wir befinden uns wieder auf dem Schlossberg zu Feldberg. Nun! Sagen wir einmal: Rethra war hier! Nur dieses Rethra war vielleicht ein Papp-Rethra.“

Friedemann rollte mit den Augen.

„Hören Sie auf, so unverschämt mit den Augen zu rollen. Ich meine natürlich nicht ein potjomkinsches Rethra, sondern ein Schein-Heiligtum für die Feinde. Vielleicht haben diese klugen Burschen ihr Heiligtum einfach nur ein bisschen verlegt. Können Sie mir folgen? Schließlich lebten hier einige hundert Menschen. Warum also sollte man gleich hunderte Kilometer mit einem riesigen Tross zurücklegen, wenn es hier die optimalsten Bedingungen für Verstecke gab? Diese Landschaft war vor ein paar hundert Jahren so unwegsam wie heutzutage manches Verwaltungsgebäude. Unser eigentliches Rethra befindet sich möglicherweise ganz in der Nähe!“ Gerhards Augen begannen zu leuchten. Schließlich klopfte sein Finger unmissverständlich auf eine, als Hügel ausgewiesene Stelle ein paar Kilometer unweit des Schlossberges. „Vielleicht sollten wir hier graben.“

„Auf dem Küstenwerder, Steinwerder und Bullenwerder hat 1881 schon Oesten gegraben. Vergeblich!“

„Wer war schon Oesten? Herrgottnochmal Friedemann, Sie haben nicht das Fitzelchen Humor. Seien Sie doch mal ein bisschen lockerer. Wir durchgeknallten Hobby-Rethraforscher galten schon immer als die Spaßvögel unter den Archäologen. Also: Es scheint mir ein wenig merkwürdig, mit Verlaub, dass der gute Bischof Burchard von Halberstadt in einer Nacht und Nebelaktion mit einem Trupp Ritter erst den Tempel Rethras zerstörte und dann auf dem heiligen Schimmel, auf dem ansonsten nur Svantevit- ihr Gott persönlich saß, ungehindert durch etliche Kilometer Slawengebiet fliehen konnte. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass sie Tage brauchten. Schließlich war man damals noch einige Jahrhunderte von Überschallflitzer und der Eisenbahn entfernt. Unser liebes Slawenvolk hätte sich doch gewiss empört. Und deshalb hege ich einige berechtigte Zweifel, dass Rethra, wie alle behaupten, an der Lieps zu suchen ist. Die Grenze zum deutschen Reich war viel zu weit entfernt. Burchhard wäre es vermutlich nicht besser ergangen wie diesem Schotten. Man hätte ihn erst säuberlich von seinen Armen und Beinen getrennt und dann seinen Kopf an eins der drei Tore Rethras aufgespießt. Und nun noch einmal zurück zu unserem schauerlichen See. Sagen wir einmal der See war nicht schauerlich, sondern der Anblick. Das dritte Tor, durch welches nur Auserwählte gehen durften, war die Opferstätte, und Thietmar beschreibt den Anblick von blutgetränkter Erde und stinkenden Kadavern. Ob nun menschlichen oder tierischen Ursprungs. Der Gestank bleibt derselbe. Geht Ihnen ein Licht auf, mein lieber Frehse?“ Friedemann Frehse verzog keine Miene. Gerhardt schüttelte seinen großen Kopf.

„Möglicherweise war ja der östliche Zipfel des Schlossberges eins von den drei Toren Rethras. Vielleicht ist Rethra im See versunken. Erosion! Sie verstehen, was ich meine! Oder Rethra wurde verlegt. Ich halte diesen Gedanken für durchaus überlegenswert. Also, entweder wir ordern ein paar Taucher oder wir sehen uns noch einmal hier in der Gegend um. Und zwar genau hier.“ Voßkuhls dicker Finger bohrte auf eine andere Stelle, nördlicher.

In diesem Augenblick läutete das Telefon. Eine Frauenstimme nannte kurz ihren Namen und meldete sachlich, dass eine Verbindung hergestellt würde. Kurz darauf ertönte die Stimme von Haas.

„Hallo, hier ist Haas. Was macht die Kunst, mein Freund? Ich versuche dich jetzt schon seit einer Woche zu erreichen. Wo warst du die ganze Zeit? Und wie geht es unserem kleinen Assistenten mit dir? Wie hieß er doch gleich? Frehse, ach ja.“ Gerhard ging zum Balkon und schloss hinter sich die Tür.

„Nun, ich habe schon größere Trottel erlebt. Obwohl ich bekennen muss, dass er einen gewissen Charme besitzt. Arbeitsmäßig konnte uns allerdings nichts Besseres über den Weg laufen. Bei aller Verrücktheit, die wir bei diesem Unternehmen benötigen, besitzt dieser Frehse eine bewundernswerte Struktur, die mir sehr hilfreich erscheint. Ich war übrigens in Neustrelitz und habe versucht mit dem hiesigen Oberärchäologen den Ist-Stand der Rethraforschung zu eruieren. Doktor Schmierke wirkte ziemlich frustriert. Es ist kein Geld da für seine Forschungen. Augenblicklich scheint die Landesregierung ein größeres Interesse an Multiplexkinos zu haben, als an der Vergangenheit. Die blühenden Landschaften lassen grüßen. Außer uns, gibt es derzeit weit und breit niemanden, der diesbezüglich auch nur einen Finger rührt. Was gibt es?“

„Halt dich fest! Ich habe einen Kracher in der Hand.“ Gerhard hörte wie Haas am andern Ende der Leitung vor Freude gluckste. Dann nieste es entsetzlich laut in den Hörer, dass er einen Augenblick den Hörer von sich fernhielt.

„T´schuldigung“, nuschelte es, dann hörte man einen grauenhaften Schneuzer. „Akazien- oder Robinienallergie.“ Es klopfte und Friedemann schob seinen verwuselten Kopf in den Rahmen. Er schwang die Hüfte wie eine Primadonna und tänzelte vorsichtig herein.

„Hier ist jemand für Sie“, flüsterte er. „Zwei Frauen!“

„Einen Moment“, unterbrach Voßkuhl Haas und drehte sein Gesicht zu Friedemann Frehse.

„Die sind viel zu früh. Geben Sie ihnen etwas zu trinken, zeigen Sie unser bescheidenes Heim oder führen Sie die Beiden im Garten spazieren. Ich treffe euch dann unten am Boot.“

„Am Boot! Wollen Sie mit den beiden etwa rausfahren?“

„Ja, natürlich. Und Sie kommen mit.“ Frehse schüttelte unruhig seinen Wuschelkopf, wagte aber nicht zu widersprechen. Dann war er wieder draußen.

„Bei was wurden wir unterbrochen?“, wandte sich Gerhard nun wieder dem Telefon zu und somit Haas.

„Hör zu! Mir ist letzte Woche ein Goldlieschen ins Nest geflogen. Du wirst es nicht glauben, wir haben jetzt eine Möglichkeit an Hapke heranzukommen. Und das ist noch nicht alles, mein Lieber. Ich habe bereits ein junges Talent auf seine Fährte geschickt. Er weiß natürlich nichts darüber, was wir von Hapke eigentlich wollen. Kleines Ablenkungsmanöver, hihi. Habe ihn mit einer Recherche betraut, allerdings gibt es da nichts mehr zu recherchieren. Könnte mir gut vorstellen, dass wir damit eine Grundlage schaffen, um dem Kern ein bisschen näher zu kommen. Stell dir vor, Hapke hat sich selbst angezeigt. Er hat einem ziemlich selbstsicheren kleinen Vögelchen ein Briefchen geschrieben, und es zu sich gerufen. Und dieses Vögelchen schwirrte ausgerechnet danach in mein Büro. Sie kennt übrigens auch Sophia Ramin. Ist ihr bei dem Turnier begegnet. Du erinnerst dich. Hapke zeigt Interesse an ihr. Und ich verwette meine Seele, dass er plaudern wird. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sein Wissen weiter zu geben. Und spätestens dann, wenn man spürt, dass es mit einem zuende geht. Hapke hat nicht mehr viel Zeit, scheint mir. Die Diagnose ist ja nicht von gestern. Dieser Dreckskerl hat lange genug Verstecken mit uns gespielt. Eines Tages muss er singen. Damals war aus diesem Mistkerl nichts rauszukriegen. Hat sich mein gutes Näschen mal wieder als silberner Kompass erwiesen. Ich denke, wir halten derzeit alle Trümpfe in der Hand. Was glaubst du?“

„Hm, lass mich nachdenken.“

„Da gibt es nichts nachzudenken. Wenn wir diese Gelegenheit verpassen, verfüttert er sein kleines Geheimnis an die Würmer, und das wäre höchst bedauerlich. Noch was anderes: Hat sich denn der Aufwand, den wir bislang in Feldberg betrieben haben, gelohnt?“

„Keine Ahnung. Rethra jedenfalls werden wir hier nicht finden.“ Gerhard stieß mit seinem Fuß gegen einen Papierkorb aus Plastik, der seit längerem seinen Unmut erregte. Friedemann hatte ihn angeschleppt, und Friedemann hatte einfach keinen Geschmack.

„Macht nichts“, sagte Haas, der schon wieder ein unangenehmes Kribbeln in der Nase spürte, „wenigstens können wir auf diese Weise unsere Kreise enger ziehen. Ich schlage dir vor, einfach mal ein paar Tage auszuspannen und abzuwarten. Es gibt da noch eine Sache, von der ich dir demnächst berichten werde. Ist aber noch nicht ganz ausgebrütet. In hoffentlich einer Woche werden die beiden Vögelchen zu Hapke fahren. Und wenn sie zurück sind, melde ich mich bei dir.“

„Meinetwegen“, brummte Gerhard, „ich werde aber trotzdem mit unserem Süßen ein paar Dingen nachgehen. Mir ist da nämlich so eine Idee gekommen.“ Haas antwortete mit einem verhaltenen Nieser, fluchte laut und verabschiedete sich dann eiligst.

Gerhard griff nach seiner Zigarrenschachtel und fingerte eine dicke Havanna heraus. Ärgerlich biss er die Spitze ab und spuckte die Tabakstücken im weiten Bogen über die Brüstung des Balkons. Wenngleich er zugeben musste, dass die Dinge eine interessante Wendung nahmen, fragte er sich dennoch insgeheim, ob Haas nicht auch mit ihm seine kleinen Spielchen trieb. Dieser Kerl war ein durchtriebener Fuchs.

Immer schön auf der Hut sein, sagte er sich leise und entflammte geräuschvoll ein Streichholz. Bei dieser Sache kann man keinem trauen. Was, wenn Haas seine neuesten Erkenntnisse für sich behält, um allein die Lorbeeren zu ernten? Ja ja, dachte er nach wie vor mit einem Anflug Unbehagen, bei Gold hört bekanntlich die Freundschaft auf. Das größte Ärgernis für ihn war jedoch die Vorstellung, dass jemand anderes darüber erfahren konnte. Ob Haas seine Lockvögelchen nun zu täuschen beabsichtigte oder nicht. Fakt war, sie erhielten Informationen, die sie gegebenenfalls selber verwenden konnten. Und was, wenn die beiden nun Wind davon bekämen, und ihre eigenen Wege gingen? Eine Katastrophe! Ich muss für diesen Fall Vorbereitungen treffen, dachte Gerhard und trat an die Brüstung. Die Luft flirrte und er erinnerte sich seines verlockenden Besuchs. Es wäre eine Schande, diese Zeit mit schweren Gedanken zu vertun, wo doch die Sirenen lachten.

Sein Blick wanderte über die dunklen Wipfel der mächtigen Buchen, die zu seinen Füßen standen, hinüber zum Garten, der sich hangabwärts bis zum Ufer des Haussees erstreckte. Zwischen dem Flieder wandelten drei Gestalten: Friedemann händeringend und die beiden Frauen neugierig verhalten.

Gerhard Voßkuhl trat einen Schritt zurück, um im Schutz seines Balkons ungesehen seine beiden Lustobjekte beobachten zu können. Mit Hilfe eines kleinen Feldstechers focusierte er als Erstes die zwei Beinpaare. Susanne, die Größere der beiden Frauen, trug ein dunkelblaues Röckchen und darunter ein ebenfalls dunkelblaues Höschen. Ihr ärmelloses schwarzes T-Shirt zeigte freizügig den Ansatz ihrer Brüste. Voll und prall, wie Gerhard entzückt feststellte, dennoch verzichtete sie auf einen Büstenhalter. Ihre Haare waren zu kleinen, niedlichen Zöpfchen gebunden und markierten dadurch einen anmutigen, schlanken Hals.

„Wunderbar, du kleines Luder“, murmelte er und fasste sich behaglich in den Schritt, um seinen Schwanz ein wenig zurechtzurücken. Das dünne Seidenröckchen hüpfte bei jedem Schritt von Susanne, und Gerhard verspürte den beinahe unwiderstehlichen Drang, es ihr mit einer raschen Handbewegung ganz zu entreißen. Im ovalen Bild seines Feldstechers tauchte kurz ein anderes Gesicht auf. Erst das von Friedemann, dem Schweißperlen auf der Stirn standen, und dann dem von Tanja, der Begleiterin von Susanne, die Voßkuhl für seinen Assistenten bei ihrer kleinen Bootsfahrt vorgesehen hatte. Ihre Haut war umbra, im Gegensatz zu der elfenbeinfarbenen Susannes, das Haar zu einem burschikosen Schnitt gestutzt. Zum Vorteil für Gerhards Voyerismus trug auch diese kleine Elfe nur einen dünnen Lappen, der ihre Lenden bedeckte und statt eines Hemdes ein hauchdünnes Top. Den Bauchnabel schmückte ein filigranes Steinchen, und da Tanja gerade Gefallen an einem unschuldigen Hibiskusstrauch fand, hatte Gerhard Gelegenheit, seinen Feldstecherblick sozusagen exakt zwischen ihre Beine zu bohren. Vor lauter Konzentration merkte er gar nicht, wie sich langsam kleine Rinnsäle Speichel im Mundwinkel sammelten und dann herabsickerten, wie der Rotz eines verschnupften Kindes. Während Friedemann sich alle Mühe gab, selbst das bedeutungsloseste Gestrüpp entlang des schmalen Pfades zum Bootsteg mit einem Namen zu versehen, turnte Tanja immer wieder hin und her, zupfte hier an einem Strauch, schnupperte dort an einer Blume und fiel dann lachend Susanne in die Arme.

Der ahnungslose Friedemann war den Beiden ein paar Schritte vorausgeeilt, um brav seine lächerliche Führung fortzusetzen. Sie tuschelten miteinander, lachten hell auf und verschwanden über einen Trampelpfad aus den Augen von Friedemann, der bereits unten am Steg angekommen war und sich nun dümmlich nach allen Seiten umdrehte. Ein paar Apfelbaumzweige verdeckten kurz die Frauen, doch dann tauchten sie wieder auf. Direkt an der Badestelle, die von Gerhards Hochstand so gut einzusehen war, dass er eigentlich sogar auf seinen Feldstecher hätte verzichten können. Aber der holte die beiden Frauenkörper, die sich nun rasch entkleideten, mit ein paar Drehungen so dicht vor seine Augen, als stünden sie direkt vor ihm. Gerhard konnte sein Glück kaum fassen. Wow, dachte er, das wird bestimmt ein wunderbarer Abend.

Voller Vorfreude zog er sich in das Innere des Hauses zurück, stellte die Dusche an und wusch sich ausgiebig den Schweiß von seinem Körper.

Ich kann mir auch gut vorstellen, sie beide zu bedienen, dachte er, während sich der Schaum von seinem Körper auf den dunkelroten Fliesen sammelte und dann gurgelnd im Schlund des Abflusses verschwand. Gut gelaunt, wählte er die Kleidung für den Abend, ein weißes Hemd, Leinenhose, ein guter Kontrast zu seinem braungebrannten Körper und machte sich auf den Weg zum Bootssteg. Bevor er nach unten ging, wagte er noch einen letzten Blick zur Badestelle, natürlich rekelten sich die zwei Frauen nun in der Sonne. Ein fröhliches albernes Lied vor sich hin pfeifend, steckte sich Voßkuhl abermals seine Zigarre an und freute sich auf die kommenden Stunden.

Rethra

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