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Kapitel 3

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„Der hat sie doch nicht alle!“, schimpfte Tanja Grahlmann und warf den Brief mit einiger Verachtung zurück auf den Tisch. „Dieser Hapke ist wahnsinnig. Merkst du das nicht?“ Das einzige, was dies bei dir bewirkte, war ein verständnisloses Achselzucken.

„Also ehrlich. Ich verstehe das nicht. Es ist mir vollkommen schleierhaft, was dieser Mensch von dir will? Mach die Augen auf Vittoria!“

„Wieso?“ erwidertest du und mimtest Schuldbewusstsein, obwohl du keinen Anlass dazu sahst.

„Weil, weil...“, stammelte Tanja.

„Was, weil..?“

„Weil er dir den Kopf verdreht! Weil er dir Grillen in den Kopf setzt und weil er ein Irrer ist.“

„Hör auf!“, widersprachst du sanft. „Warum ziehst du über ihn her? Du kennst ihn ja nicht einmal.“

„Ich möchte nur nicht, dass dir etwas passiert!“

„Was soll mir denn passieren? Ich habe nicht das Gefühl, dass dieser Mann ein Verbrecher ist.“

„Und was soll dann diese ganze Geheimniskrämerei. Der spinnt, das sage ich dir!“ Tanja rutschte auf den Boden und zündete sich eine Zigarette an. Dein Lächeln war einnehmend und dennoch warst du mit dem, was du vorgabst, nicht ganz ehrlich. Du hattest deiner besten Freundin nicht alles erzählt.

Deine Gedanken waren weder bei Tanja, noch bei Hapke. Seit du nach Hause gekommen warst, hingen deine Gedanken ausschließlich an einem einzigen Namen.

Tanja zog die Beine heran.

„Ich mache mir wirklich ein bisschen Sorgen um dich“, flüsterte sie. Du wichst mechanisch zurück.

„Weswegen?“

„Weil du bisweilen merkwürdige Dinge tust.“ Auf Tanjas Stirn legten sich Sorgenfalten. Du musstest lachen.

„Meinst du sowas, wie mit einem fast völlig fremden Mann für eine Woche an die Ostsee zu fahren?“

„Ja. Solche Dinge.“

„Das war lustig.“

„Was um Himmelswillen ist daran lustig, auf dem Darß im Stich gelassen zu werden. Der Typ ist abgehauen, weil er nicht das bekam, was er wollte. Du erinnerst dich?“

„Ich hatte mich halt ein bisschen geirrt. So etwas kommt vor. Außerdem befanden wir uns nicht Afrika, sondern auf dem Campingplatz in Wustrow. Und eigentlich müsste ich dem Kerl dankbar sein. Schließlich habe ich dadurch surfen gelernt und ein paar schöne Tage erlebt.“ Tanja verdrehte die Augen.

„Dein Sommerflirt. Glücklich bist du mit dem doch auch nicht geworden. Oder?“

„Es gab nun einmal keine Verbindlichkeiten zwischen uns. Das war von Anfang klar.“

Tanja stand auf und ging im Zimmer umher.

„Ich weiß nicht, ob du dir da immer einen Gefallen tust: du mit deiner Unverbindlichkeit.“ Dir fiel keine andere Antwort ein, als sprachlos zu blinzeln. Und trotzdem überflog dich eine kleine Wolke Sorge.

„Wie hieß gleich der Typ, mit dem du zu Hapke fahren wirst?“

„Fabian Leuttner.“

„Was ist das für einer?“

„Volontär beim Mitteldeutschen Tageblatt. Paul kennt ihn.“

„Dieser Kerl bringt dir Unglück. Das habe ich im Gefühl“, sagte Tanja, nun vollkommen ernst. Du maltest mit zusammengekniffenen Augen Strichmännchen in die Luft.

„Das glaube ich nicht“, sagtest du verträumt und kuscheltest dich in den Sessel auf dem du saßest. Mein Entschluss steht fest. Ich werde hinfahren.“

„Und danach fängst du an zu jammern. Wie jedes Mal!“

„Sei nicht so grob.“

Du zogst die Beine an und gabst dich deinen Träumen hin.

Ja, Vittoria Frey, du verabschiedetest dich wie unter einer Decke in deine Vergangenheit. Und deine Träumereien erzählten von nichts anderem, als von deiner kurzen und heftigen Liebe zu Kirill Ramin.

Und das war mehr als vierzehn Jahre her.

Hapke hatte geschrieben:

Liebe Vittoria!

Spielen Sie noch Tischtennis? Sie waren früher eine brillante Spielerin, denn ich hatte das Glück, Sie einmal bei einem Turnier beobachten zu können. Das war am 31.Januar 1983. Gewiss werden Sie sich jetzt fragen, warum ich gerade dieses Datum erwähne. Möglicherweise haben Sie inzwischen hunderte Turniere bestritten. Wer weiß? Dennoch ist es für mich von einiger Bedeutung, dass Sie sich genau an dieses erinnern. Den Ort muss ich nicht nennen, denn der dürfte Ihnen noch bekannt sein.

An jenen Tagen sind ein paar Dinge geschehen, die dramatisch und sehr außergewöhnlich waren. Deshalb nehme ich heute zu Ihnen Kontakt auf. Voraussetzung für weitere Erklärungen ist für mich, dass Sie sich an jene Tage erinnern und Sie Ihnen in irgendeiner Weise bedeutend erscheinen. Wenn ja, bitte ich Sie mich hier zu besuchen, denn ich lebe ganz in der Nähe.

Sollte Ihnen die Sache fatal und überflüssig erscheinen, vergessen Sie diesen Brief einfach.

In dem Fall wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute für Ihr weiteres Leben.

Freundlichst!

H.Hapke

Und wie du dich erinnertest. Jede Minute dieser Tage war so fest in deinem Gedächtnis eingebrannt, dass allein der Geruch von Schnee ausreichte, dich in deinen Erinnerungen erstarren zu lassen.

Klingenthal im Vogtland! Klingenthal im Winter. Seit drei Tagen hatte es geschneit. Du warst mit Hans, deinem Stiefvater, zum FDGB-Pokal Turnier gereist. Hans war nett, aber er interessierte sich nicht für Sport. Während du eine Gegnerin nach der anderen von der Tischtennisplatte fegtest, streifte er durch das Örtchen, um sich die vogtländische Schnitzkunst anzusehen. Meist saht ihr euch nur zum Frühstück, aber das störte dich nicht. Ihr beide hattet ein Geheimnis. Sein Geheimnis hieß Renate, eine Räuchermännchen-Verkäuferin, die er zu seinem Modell auserkoren hatte und deins war Kirill.

K-I-R-I-L-L!

Das Turnier wurde in drei Altersgruppen ausgetragen, unterteilt in Männer und Frauen. Das Finale bestritten die jeweiligen Sieger. Drei Männer, drei Frauen - du warst eine davon.

Kirill war dir bei deinem zweiten Match aufgefallen. Er spielte an der Tischtennisplatte neben dir. Aufgefallen war dir zunächst nicht seine hübsche Gestalt, sondern seine Leidenschaft während des Spiels. Am Anfang warst du irritiert, später sogar verärgert. Kirill kämpfte um jeden Ball. Und jeder verlorene Punkt löste bei ihm einen Schmerzensschrei aus. Laut. Zu laut. Und doch voll imposanter Energie. Er beschimpfte sich selbst, ballte die Fäuste bei einem gelungenen Top-Spin oder Angriff. Und war eins von beiden missglückt, fluchte er, tobte oder knallte auch mal die Tischtenniskelle auf den Boden.

Dass du ihn bereits am ersten Abend ansprachst, verwundert dich heute. Damals erschien dir das selbstverständlich. Am zweiten Tag des Turniers wart ihr nach den Spielen gemeinsam Ski fahren, albertet im Schnee herum und trainiertet zusammen, nur so zum Spaß. Eure ersten Küsse schmeckten so gut wie nur erste Küsse schmecken können.

Du warst Fünfzehn und verliebt. Verliebt, wie man sich mit Fünfzehn in einen hübschen Jungen verlieben kann. Und du hattest ein Privileg: ein Hotelzimmer für dich. Denn Hans, dein Stiefvater, hatte dir erklärt, dass er einen alten Schulfreund getroffen hätte und die Nacht bei ihm bliebe, wegen einer geplanten Zecherei.

Kirill deflorierte dich genau in der Nacht vor dem Finale. Und er war wie es sich vielleicht jede Frau wünscht. Ein bisschen unsicher, ein bisschen aufgeregt, dann wieder fröhlich, aber unglaublich zärtlich. Und weil seine Zärtlichkeiten für dich später zum Maßstab für all deine Geliebten wurden, die keiner erfüllte, konntest du Kirill nicht vergessen, obwohl er plötzlich verschwunden war und du seitdem nie wieder etwas von ihm gehört hattest.

So wie er in dein Leben gekommen war, war er wieder gegangen. Ihr hattet euch eure Liebe gestanden und euch geschworen, später zu heiraten. Das machen viele Fünfzehnjährige.

Dein Herz schlug schneller und Tanja war für dich eigentlich nicht mehr anwesend.

Erzähl´ mir von Kirill, hätte Tanja gefragt, hätte sie auch nur den Schimmer einer Ahnung, woran du gerade dachtest. Du hattest ihr den Brief von Hapke gezeigt und ihr von dem Tischtennisturnier in Klingenthal erzählt. Kirill hattest du verschwiegen. Sie hätte auch nach Hans fragen können, was sie nicht tat, du hättest geantwortet. Es bereitete dir keine Scham, seinen peinlichen Auftritt zu schildern, kurz nachdem dir die Bronzemedaille überreicht wurde. Oder die plötzliche Umarmung einer wildfremden Frau. Vielmehr scheutest du Tanjas mögliche nächste Frage: Was ist aus Kirill geworden?

Er hat das Turnier gewonnen, hättest du antworten müssen. Mehr weiß ich nicht.

Du Arme, dass muss ja alles schrecklich für dich gewesen sein, hätte sich Tanja sicherlich empört, hätte sie davon gewusst. Und seit dem Gespräch mit Haas, hättest du noch hinzufügen müssen: Kirill hat nach dem Turnier seine Eltern verloren. Aber auch das behieltest du für dich.

Erst als Tanja sich deutlich räusperte, stahl sich dein Traum davon. Du starrtest Tanja mit großen, fragenden Augen an.

„Weißt du Vitti (manchmal endeten ihre Verniedlichungen in der Absurdität von Wortbabys, die dich manchmal bis zur Weißglut brachten), was du dir eigentlich mit diesen Aktionen beweisen willst. Du willst dir beweisen, dass du niemanden brauchst. Und alles alleine schaffst. Oder?“

Du wandest dich von Tanja ab und kugeltest deinen Körper wie ein kleines Mädchen, das sich in den Schlaf weint. Sei es aus Scham oder Traurigkeit. Tanja streichelte dein Haar und sagte leise:

„Armes Vittilein, deine kleine Seele musste schon so viel ertragen. Pass auf, dass du sie nicht überforderst und sei vorsichtig mit dem was du tust.“ Sie umschlang dich und gab dir einen Kuss auf die Stirn. Ihre Lippen waren warm.

„Stell dir vor, dieser Mensch lockt dich nur deshalb in seine Hütte, weil er dich vergewaltigen will.“

„Dann hätte er mir wohl kaum vorher geschrieben“, murmeltest du in deiner Fötusstellung, froh das Thema wechseln zu können. „Erstens: ist seine Vorgehensweise für einen Vergewaltiger höchst unlogisch, zweitens: hat er keine Ahnung, wie ich überhaupt aussehe. Und drittens: weiß ich mich zu wehren. Außerdem fahre ich ja nicht allein dorthin.“

„Trotzdem traue ich dem Ganzen nicht. Du bist bisweilen ein bisschen naiv, meine Liebe. Am liebsten würde ich mitkommen, ich habe blöderweise Susanne versprochen, mit ihr nach Carwitz zu fahren.“ Auch wenn Tanja nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre, konntest du über diesen Gedanken nur müde lächeln. „Wie sieht er überhaupt aus, dieser Fabian Leuttner.“

„Wie ein kleiner Junge in einem zu großen Anzug...“

„Du bist total verrückt. Weißt du das?“ Tanja schüttelte den Kopf und seufzte.

„Du fährst mit einem Kind zu einem Psychopathen, um dessen Geschichte zu hören.“

„Oh ja!“

„Was soll ich dazu sagen? Du musst wissen, was du tust.“ Tanja zwirbelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger, zog sie in die Länge und betrachtete besorgt zwei kleine Abspaltungen.

„Wie spät ist es eigentlich?“

„Sieben Uhr!“

„Verdammt, ich muss gehen.“, sagte Tanja und ordnete sich ihr Haar. „Der Typ mit dem ich heute verabredet bin, redet den ganzen Abend nicht mehr mit mir, wenn ich auch nur eine Minute zu spät komme. Und morgen werde ich zum Frisör gehen und mir die Haare schneiden lassen. Was meinst du, wie ich mit kurzen Haaren aussehe?“

Rethra

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