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Kapitel 7

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Auf der anderen Seite des Sees rief ein Blesshuhnweibchen aufgeregt nach ihren Jungen – kleine quirlige Wattebällchen, die mit rudernden Beinen aus allen Richtungen heran geschnellt kamen, um sich sofort schutzsuchend in einer geraden Linie hinter der Mutter zu formieren. Das Licht über dem Wasser wechselte bereits langsam von metallenem Glanz zu zartem Orange und jetzt, nach dem sie den Breiten Luzin zweimal umrundet hatten, vorbei am Mönkenwerder, Scholverberg und Schapwaschbucht, und nun behäbig wieder im Haussee vor sich hindümpelten, wirkte der Buchenwald an der Westspitze des Schlichter Ufers in der Abendsonne wie das Grand Finale in einem spektralen Bilderbuch. Gerhard steuerte in eine kleine Bucht, die an einem Steilufer mündete. Vis-a-vis zur Liebesinsel - aber dies war derweil nur noch ein lokales Attribut.

Eigenartigerweise hatte sich seit der kopflosen Flucht Friedemanns so etwas wie ein Schleier von Ernsthaftigkeit, freundlicher Distanz und Melancholie auf die Zurückgebliebenen gelegt. Selbst Gerhard, der noch Minuten vorher ein wahres Hormongewitter in seinen Lenden gespürt hatte, empfand plötzlich mehr Lust dabei, seinen Blick auf das stille Gewässer zu lenken und sich dabei seinen Gedanken hinzugeben, die nun ganz anderer Natur waren, als zu kokettieren, Charme zu versprühen oder sich wenigstens gedanklich einen praktikablen Plan zu erarbeiten, der ihn seinen Gelüsten ein kleines Stück näher brachte. Er ahnte etwas, wusste aber nicht genau was. So stand er fast unbeweglich am Ruder und tat im Grunde nichts anderes, als auf seinen Herzschlag zu achten. Tanja und Susanne hingegen hatten jegliche Scheu verloren. Längst waren sie entblättert und genossen schweigend und nackt das ruhige Vibrieren des Motors, die Sonne und den Blick auf die Natur.

Gerhard kam mit zwei Decken, weil zum Abend hin ein zarter frischer Wind aufgekommen war.

„Vielleicht solltet ihr zwei euch langsam etwas anziehen, es wird kühl. Hier, damit wird es ein bisschen gemütlicher.“

Bei diesen Worten stellte er mit einigem Erschrecken fest, dass sich seine Wahrnehmung in Bezug auf jene Körper mit einem Mal vollkommen geändert hatte. Zwar schlenderte sein Blick in gewohnter Manier über die Proportionen der hingestreckten Begehrlichkeiten. Nur konnte er diesem Anblick nichts anderes mehr abgewinnen, als dem wohlwollenden Blick eines Vaters, der feststellt, wie prächtig sich seine beiden Töchter entwickelt hatten. Ohne den geringsten Anflug von Begierde reichte er ihnen die Decken und sagte fürsorglich:

„Ich bin sehr froh, dass Sie heute meine Gäste sind. Ich werde jetzt ein kleines Abendessen vorbereiten, und wenn Sie nichts dagegen haben, es nachher auf dem Deck servieren.“ Die beiden Frauen lächelten zufrieden, und obwohl ihm Susanne noch einmal kurz einen schamlosen Blick zuwarf, hatte auch sie realisiert, dass sich irgendetwas verändert hatte. Der Mond tummelte sich hinter einer dicken schwarzen Wolke, die ein wenig löchrig war und ihm dadurch das Aussehen eines Gesichtes verlieh, das mit großen angstvollen Augen irgendein Grauen erblickt. Rings um den See wachten palisadenhaft schwarze Baumkerle umwabert von Nebel.

Gerhard verschwand in der Kajüte und werkelte eine Weile am Kühlschrank herum. Die Bestände darin waren so üppig, dass er damit mühelos zehn Leute hätte bewirten können. Das kulinarische Angebot reichte über eine Vielzahl köstlicher Käsesorten, über luftgetrocknetem französischen Schinken, jede Scheibe so dünn wie eine Rasierklinge, bis hin zu tiefgefrorenen Garnelen und einem Kilo geräucherter Aalstücke, die er erst heute Vormittag in der Carwitzer Fischräucherei als Schnäppchen erworben hatte. Das Bild der nackten Mädchen lag noch immer feuchtschwer auf seiner Seele, Er komponierte einen Teller mit allerlei bunten Gaumenfreuden, wählte dazu liebevoll eine Flasche Rotwein aus und platzierte alles zusammen auf ein großes Tablett aus Eichenholz. Diese Dinge waren plötzlich so unberechenbar, dass er erschrocken, wie ertappt zurücktaumelte und sich fast ermahnen musste, nicht auch noch ein Gute-Nacht-Lied zu trällern. Seltsam zerstreut, lenkte er seine Gedanken hin zu dem eigentlichen Anlass dieser kleinen Reise. Jaja, beschwor er sich, das Schicksal hat mir zwei Herzchen hergeweht, die möglicherweise nur darauf warten, von mir beglückt zu werden. Aber dieses erbauliche Phantasiegebilde hielt dem Bild, das sich ihm aufzwang, nicht mehr stand. Etwas aus der verschütteten Tiefe seiner Vergangenheit drängte nach oben und ergriff so stark Besitz von seinen Gedanken, dass er einen heftigen Stich in der Brust spürte. Waren diese beiden neugierigen jungen Frauen nicht genau in dem Alter, in dem sich seine längst verlorene Tochter befand? Wurde jene, von der er nicht einmal zu erahnen vermochte, wie sie jetzt aussah, nicht jetzt vielleicht genau in diesem Augenblick so wie diese beiden Mädchen, irgendwo in dieser verdorbenen Welt von einem geilen alten Sack angestarrt? Er verspürte einen traurigen bitteren Schmerz. Gerhard wurde blass vor Beschämung und taumelte. Die Lust, die er noch vor wenigen Stunden gespürt hatte, löste sich nun vollends auf und wurde nur noch zu einem einzigen tonnenschweren Selbstvorwurf. Er sah jenes letzterinnerte Bild seiner Tochter, als es zum endgültigen Bruch zwischen ihm und ihrer Mutter gekommen war: ein kleines, zu Tode erschrockenes Mädchen, das ihn mit großen angstvollen Augen anstarrte, weil es nicht verstand. Sich selbst Trost verschaffend, setzte es eine kleine Plastikprinzessin neben eine ebenso kleine Plastikkuh, ihr Lieblingsspielzeug, und betrachtete beide lange in tiefster Traurigkeit, bis über ihre dunklen Wimpern ein schier endloser Strom Tränen floss, ohne dass sie dabei auch nur einen einzigen Laut von sich gab.

Damals war sein Kind vier Jahre alt. Und dieses Bild hatte sich so tief in Gerhards Gedächtnis eingegraben, dass er ausgerechnet jetzt vor Schmerz die Fassung verlor.

Gequält fasste er sich ans Herz, der Atem ging ihm schwer und dann sank er stöhnend auf die kleine hölzerne Bank, die neben einer kupferfarbenen Schiffsglocke stand. Irgendwo Halt suchend, griff er erst ins Leere und dann mit verkrampften Fingern nach der eitel glänzenden Glocke, welche laut seine Klage in die Stille schrie.

Hochgeschreckt vom Lärm eilte Tanja nach unten. In einer Ecke kauerte Gerhard, unglücklich wie ein zutiefst verletzter kleiner Junge. Er schluchzte und versuchte sich rasch abzuwenden, als er Tanja bemerkte. Eine lähmende Leere breitete sich in ihm aus.

Die weiß-roten Plastikfähnchen, die unweit des Bootes seine halbherzigen Ausgrabungen markierten, erschienen ihm mit einem Schlag sinnlos, zeugten sie doch nur von seinem erfolglosen Versuch, der Mittelmäßigkeit zu entgehen. Rot-weiß leuchteten plötzlich die eigenen Zweifel an den erstickten Ideen.

Gerhard war bemüht, sich zusammenzunehmen, sich auf das Elixier seines bisherigen Lebens zu besinnen – Rethra. Doch immer wieder spürte er den Namen hinter seinem Tränenschleier, der nun mit einem gewaltigen Ruck zu einem einzigen Vorwurf wurde.

Wie viele Jahre hatte er diesen Traum gelebt? dachte Gerhard verzweifelt. Was hatte er alles dafür geopfert? Wie viele faule Kompromisse war er eingegangen? Was hatte er nicht alles Schlimmes getan? Immer größere Zweifel plagten ihn. Und irgendwann hatte er nur noch einen Gedanken: Schluss damit!

„Vittoria“, wimmerte er leise, „mein armes kleines Mädchen. Was habe ich dir nur angetan!“

In Tanjas Kopf drohte eine Explosion. Sie wich entsetzt zurück und floh, so schnell sie konnte, zurück auf das Deck.

Rethra

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