Читать книгу Die Sagen von Berandan - Jo W. Gärtner - Страница 10

Kapitel 5

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Er wusste nicht, wie lange sie seit der Fahrt über den Fluss und der Flucht vor den durch die Luft schwirrenden Pfeilen unterwegs waren, doch es mussten bereits mehrere Tage gewesen sein. Sein Körper, jedes einzelne Glied und sein Kopf im Besonderen schmerzten unerträglich. Er konnte jeden Muskel, jeden Knochen einzeln spüren; die meisten fühlten sich an, als wollten sie augenblicklich auseinanderbrechen.

Als er die Pfeile in der Luft und die Stimmen der Menschen ganz in der Nähe gehört hatte, da hatte er nochmals Hoffnung geschöpft, seine Familie, seine kleinen Kinder wiedersehen zu können. Doch seitdem war jegliche Hoffnung verschwunden – nun war er in den Händen der Gobblins und niemand würde ihn jemals retten. Er war ihnen ausgeliefert. Er war verloren. Ihn schauderte bei dem Gedanken, was ihn erwarten würde, was sie mit ihm anstellen könnten.

Endlich wurde Bromar abgesetzt und das ewige Schaukeln, Wippen und Wackeln hatte zumindest für eine kurze Zeit ein Ende. Seit der Bootsfahrt waren die Gobblins beinahe ununterbrochen gerannt und hatten nur selten eine kleine Rast eingelegt. Der schwarze Sack, der schon seit mehreren Tagen sein enges Zuhause war, wurde geöffnet. Grell schien die Sonne hinein und ließ den zusammengekrümmten Miglin blinzeln. Die lederne Hand eines Gobblins streckte stumm ein wenig Essen – Brot und ein Stück Speck – hinein, worüber sich Bromar mit Heißhunger hermachte.

Er dachte an Kardor, die herrliche, glänzende Stadt – seine Heimat, wo seine Familie, seine Freunde, ja, und auch die weniger Geliebten lebten, die er wohl alle nie wieder sehen würde. Ein Ruck ging durch den Miglin und vertrieb die Lethargie. Nein, er wollte sie alle wiedersehen, er wollte seine Kinder wieder in die Arme schließen, er wollte seine Frau wieder küssen. Und wenn ihn schon niemand befreien würde, dann musste er es eben selbst tun! Ein Miglin war zwar viel schwächer und langsamer als ein Gobblin, aber sie hatten durchaus ihre Stärken und die musste er sich zu Nutze machen. Doch solange die Gobblins ihn in einem Sack auf dem Rücken trugen, bot sich ihm keine Möglichkeit, diese Stärken auszunutzen. Vielleicht war aber jetzt während dieser Rast seine Stunde gekommen. Wenn er sich seinem Schicksal ergeben würde, dann würde er sterben – so viel war sicher. Da könnte er es ebenso gut wagen, sein Leben zu retten. Lieber auf der Flucht erschlagen, als von Gobblins gequält, gegrillt und als Hauptspeise kredenzt werden.

Die Gobblins lagerten nicht weit von ihm. Er konnte ihre schrillen Stimmen und ihr keifendes Gelächter hören – dieses Gelächter, das ihm ständig wie Hohn vorkam und nun seinen Zorn und Mut nur noch anstachelte.

Still lag Bromar in seiner beengten Lage da und grübelte angestrengt über seinen Fluchtversuch nach, was nicht ganz einfach war, weil er ja nicht wusste, wo er war, wie die Landschaft aussah, ob es Schutz in der Nähe gab, was die Gobblins machten – er wusste nur, dass der Sack, in dem er steckte, ziemlich pechschwarz war.

Die Stunden verstrichen und es sah so aus, als würden die Gobblins eine längere Rast machen. Vielleicht waren sie auch bereits an ihrem Ziel und sie suchten nur noch die entsprechenden Kräuter, um den Miglin gut würzen zu können. Wieder öffnete sich der Sack und Bromar erschrak. Kamen sie nun, ihn zu holen und zu töten? Doch wieder sah er nur die grüne Hand, die nun einen Becher mit Wasser hineinreichte. Bromar trank gierig, woraufhin die Hand den Becher wieder nahm, ihn aus dem Sack führte und denselben zuschnürte. Nur kurze Zeit war der Sack geöffnet, aber immerhin konnte der Miglin erkennen, dass draußen die Nacht allmählich hereinbrach. Dies war seine große Chance, wahrscheinlich seine einzige, er musste sie nutzen.

Vorsichtig zerrte er an der Öffnung, doch sie war fest zugebunden. Mit seinen scharfen Krallen rieb er über die dicht und fest gewobene Innenseite des Sackes. Er kratzte und schabte, bis er spürte, wie sich einzelne Fasern und Fäden lösten. Die Gobblins feierten am Lagerfeuer. Aufgeregt schabten seine kleinen, aber scharfen Krallen weiter, bis das Sackleinen an der bearbeiteten Stelle immer dünner und dünner wurde. Es könnte klappen. Eifrig arbeitete er weiter, bis ein kleines Loch im Sack fühlbar wurde, durch das er einen Finger stecken konnte. Er ertastete Gras und ausgetrocknete Erde, hart wie Stein. Schnell schabte er weiter, bis auch ein zweiter Finger hindurchpasste. Er steckte die Zeigefinger beider Hände in das kleine Loch und zerrte es auseinander. Ratsch – ein Riss tat sich auf. Bromar erstarrte und horchte angestrengt. Hatte jemand das Zerreißen gehört? Kamen da Schritte zu ihm herüber? Doch die Gobblins krakelten und lachten unbeeindruckt weiter. Jetzt konnte Bromar schon beide Hände in den Riss stecken. Wieder zerrte er und mit einem weiteren Ratschen wurde der Riss größer, so dass Bromar seinen Kopf hindurchstecken konnte. Die Gobblins lachten fröhlich. Draußen war es dunkel, aber Bromar konnte die Gobblins nur wenige Schritte von ihm entfernt an einem Lagerfeuer sitzen sehen. Aus einem Lederbeutel gossen sie sich ein Gebräu in die Becher und prosteten sich lautstark zu. Keiner schien etwas zu bemerken. Ganz leise, ohne nur irgendein Geräusch zu verursachen, zwängte sich Bromar durch das kleine Loch in die Freiheit und kroch bäuchlings durch das flache, trockene Gras vom Lagerfeuer weg in die rettende Dunkelheit. Behände schob er sich weiter, der helle Schein des Feuers wurde blasser und bald hatte ihn das Dunkel einer wolkenverhangenen, sternlosen Nacht vollkommen umschlungen.

Ein spitzer Schrei hinter ihm ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er erstarrte. Sie hatten seine Flucht entdeckt. Er nahm seine kurzen Beine unter die Arme und rannte um sein Leben. Die schnellen Schritte in schweren Stiefel ließen die Erde erbeben und die Tiere der Nacht verstummen. Gobblins waren der Tod, und sie verkündeten ihn laut und schrill. Doch so schnell wollte sich Bromar seinem Schicksal nicht ergeben. Teuer würde er sich verkaufen – jawohl! Zur Bekräftigung tastete er nach dem Dolch an seinem Gürtel, den er sonst immer bei sich trug, doch er griff ins Leere, während ihn seine kurzen Beine rasend schnell durch die Nacht katapultierten. Die Gobblins hatten ihm natürlich den Dolch abgenommen. Er musste sich auf seine Krallen verlassen. Das Gras wurde höher und reichte ihm bald bis zur Hüfte, dann bis zur Brust und schließlich bis zum Kopf. Abrupt blieb er stehen, die schrillen Schreie des Todes nur wenige Schritte hinter sich, machte einen Sprung zur Seite und hechtete sich in das hohe Gras, wo er still, ohne auch nur atmen zu wagen, liegen blieb. Das miglinhohe Gras umschloss ihn schützend wie ein unsichtbar machender Mantel.

Die Erde bebte stärker, das Geschrei schmerzte in seinen Ohren, sie waren ganz nah, direkt bei ihm! Doch dann ließ das Beben nach, die Schreie und Rufe entfernten sich. Sie waren an ihm vorbeigerannt, ohne ihn zu sehen. Bromar wollte jubeln, aber er blieb zusammengekrümmt und unbeweglich auf dem trockenen Boden inmitten der weiten Ebene von Talgarth liegen. Seine Kinder – vielleicht würde er sie doch wiedersehen! Er schloss seine Augen und ein leichtes Lächeln umspielte sanft seine von Trauer und Schmerz heruntergezerrten Mundwinkel.

Die Wolken am pechschwarzen Himmel wurden vom Wind auseinander­ geblasen und rissen für einen kurzen Moment auf. Blasser Mondschein legte sich auf die Wangen des Miglin. Nur ganz kurz, dann schloss sich der Vorhang der schwarzen Nacht wieder.

Er konnte die Stimmen der Gobblins nicht mehr hören. Nun würden sie das Gras Stück für Stück durchkämmen und nach ihm suchen; ihre Wut war sicherlich grenzenlos und Bromar zitterte bei dem Gedanken, was sie mit ihm anstellen könnten, wenn sie ihn wiederfinden würden. Er wollte lieber nicht daran denken. Doch er musste fort von hier, denn früher und später würden sie ihn finden, wenn er einfach hier liegen bleiben und darauf hoffen würde, dass alles gut werde. Vorsichtig erhob er sich und blickte über die leicht hin- und herwogenden Grashalme hinweg. In der alles verschlingenden Dunkelheit konnte er nichts, aber rein gar nichts erkennen, nur dort hinten leuchtete der Schein des Lagerfeuers – er hatte sich durchaus bereits ein beträchtliches Stück davon entfernt. Aber wo waren die Gobblins? Lauerten sie ihm irgendwo im Gras auf? Waren sie weitergerannt? Bromar lauschte. War da was? Nein, er bildete sich nur etwas ein. Oder doch nicht? Da war doch was! Aber er vernahm nur das sanfte Rauschen des hohen Grases im kühlen Nachtwind. Ein paar Grillen wagten es wieder zu zirpen, nachdem sie unter dem Gebrüll der Gobblins ängstlich ihre Köpfe eingezogen und das Zirpen eingestellt hatten. Leise ging er einen Schritt nach vorn in die Richtung, die ihn noch weiter vom Lagerfeuer wegführte. Er blieb wieder stehen, lauschte, blickte sich um, aber da war nichts. Wieder machte er einen Schritt, dann noch einen und noch einen. Nichts außer dem wie Meer wogenden Gras bewegte sich. Er ging weiter, den Kopf leicht nach unten gezogen, so dass man ihn im hohen Gras nicht sehen konnte. Da bewegte sich was! Ganz sicher! Er hatte es genau gehört. Da war ein anderes Rauschen, nicht das gleichmäßige Rauschen im Wind. Steh still, Bromar! Beweg dich nicht. Und wie still er stand. Der ganze Körper wie eine Bogensehne gespannt. Er hielt den Atem an, lauschte. Doch als er genau hinhörte, rauschte nur wieder der Wind sanft und friedlich im Gras. Er musste aufhören, sich so viel einzubilden. Das konnte sein Herz ansonsten nicht schadlos überstehen. Ängstlich schaute er sich wieder über die Schultern, spitzte angestrengt seine Ohren und ging weiter. Ein Schritt nach dem anderen, jeder einzelne führte ihn weiter von den fiesen Kreaturen und dem Lagerfeuer weg. Bald würde er …

Die Hand packte ihn fest und brutal an der Schulter. Lange grüne Finger krallten sich in sein leinenes Gewand. Bromars Herz blieb stehen, alles blieb stehen, die ganze Welt um ihn herum bewegte sich nicht. Er hörte die Schreie der Gobblins neben sich nicht, nicht die Wut und nicht den Hohn, er nahm die scharfe Klinge, die sich an seinen Hals legte, kaum wahr, er ließ sich packen, konnte sich nicht wehren, nicht bewegen. So ließ er sich davontragen, zurück zum hellen Schein des Feuers, und in einen dunklen, schwarzen Sack stecken – sein Zuhause.

Die Sagen von Berandan

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