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Kapitel 1

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* * * * *

Yolanda saß auf den warmen Felsen hoch über den braunen Wassern des Mundan. Hinter ihr erhoben sich die Grauen Berge. Jenseits dieser Berge lag ihre Heimat, in die sie nicht zurückwollte. Jenseits des Flusses lag ebenfalls ihre Heimat. In diese wollte sie noch weniger. Doch sie mussten.

Andres, der neben ihr kniete, beobachtete angestrengt und konzentriert das Treiben unten am Fluss. Soldaten patrouillierten dort. Es waren unzählige und doch so wenige, wenn man sie mit den Massen, die sich auf der anderen Seite des großen Flusses bewegten, verglich. Die Miglins waren ausgeschwärmt, um die Muster der Patrouillengänge der Soldaten ausfindig zu machen. Wollten sie den Mundan unbemerkt überqueren, mussten sie die kurze Zeit zwischen zwei Patrouillen nutzen. Zugleich durften sie – und das war noch viel wichtiger – auch auf der anderen Seite nicht bemerkt werden. Denn das würde ihrem Tod gleichkommen.

Yolanda musterte Andres. Sein Blick war konzentriert, die Augen unbewegt auf einen Punkt irgendwo in der Ferne gerichtet. Die Sonne spiegelte sich in seinen grünen Augen, in denen Yolanda kleine braune Schattierungen erkennen konnte. Im Abendlicht glänzte das Gesicht des jungen Mannes rötlich. Es lag eine große Wärme und Güte in seinen Zügen. Den Hut, den er sonst beinahe immer trug und nie abzusetzen schien, hatte er nun neben sich gelegt, so dass sein Haar in langen, dicken Borsten zerzaust vom Kopf hing. Seine Gesichtszüge waren gleichmäßig und früher wohl einmal sanft gewesen. Doch eine gewisse Härte hatte sich in sie gelegt und ließ die kleinen Falten verhärmter wirken. Er ist ein schöner Mann, dachte Yolanda, obwohl er so verwildert ist – oder vielleicht gerade deswegen.

Während sie ihn betrachtete, spürte sie etwas in sich aufsteigen, das sie bisher noch nie gespürt hatte. Ihr Atem ging heftiger und das Herz klopfte stärker.

„Schau da!“ Andres zeigte mit der einen Hand gen Westen, während er die andere gegen die untergehende Abendsonne schützend über seine Augen hielt. Er blickte kurz zu Yolanda und wiederholte mit einer auffordernden Geste, wohin sie schauen sollte.

Yolanda kniff ihre Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch sie konnte nichts erkennen, was besonders sein könnte. Auf ihrer Seite des Flusses befanden sich in regelmäßigen Abständen kleinere Soldatenlager, dazwischen konnte sie vereinzelt Soldatengruppen ausmachen, die auf den ausgetretenen Pfaden zwischen den Lagern ihre Bahnen zogen. Weiter im Westen konnte sie im Dunst des Abends die östlichen Ausläufer des Waldes von Teraman erahnen.

„Ich kann nichts erkennen“, murmelte Yolanda. „Was meinst du?“

„Auf der anderen Seite des Flusses. Dort hinten, auf der Höhe des Waldes von Teraman.“

Yolanda ließ ihren Blick über den Fluss auf die andere Seite wandern. Das Flussufer war größtenteils bewaldet. Dahinter erstreckte sich ein frucht­barer Streifen, der sich langsam die leichten Anhöhen auf der Südseite hinauf­schob. Früher lebten viele Menschen in dieser Gegend, dachte Yolanda und es wurde ihr schwer ums Herz. Doch jetzt waren dort Lager zu erkennen, in denen Gobblins und Bersker ihre blutigen Pläne schmiedeten. Südlich des Streifens, der durch die Nähe zum Fluss fruchtbar war, begann die große Steppe Talgarth, die, je weiter südlich man kam, immer unwirtlicher und lebensfeindlicher wurde. Hier floss kein Fluss, kein Bach, und es regnete nur selten.

Im Hinterland marschierten diese Kreaturen in Hundertschaften. Und in den Büschen und zwischen den Bäumen am Ufer mussten sich hunderte von ihnen befinden, auch wenn man sie nicht erkennen konnte. Aber jeder Angriffsversuch der Menschen wurde sofort entdeckt und mit einem Schauer von Pfeilen, der tödlich auf die Soldaten in den Booten niederging, erwidert.

„Was ist da? Es sieht alles genauso aus wie gestern auch.“

„Siehst du die vielen Truppen, die aus dem Süden zu den Berskern am Mundan stoßen?“, fragte Andres und zeigte aufgeregt mit seinem Zeigefinger nach Südwesten.

„Ja, schon, aber es strömen ständig neue Soldaten nach. Es werden immer mehr und mehr. Ich kann mir gar nicht vorstellen, woher die alle kommen mögen. Was ist an denen besonders?“

„Gestern konnte ich überall nachkommende Truppen erkennen. Sie kamen auf der Höhe des großen Waldes, sie kamen hier auf der gegen­überliegenden Seite von uns, andere stießen weiter im Osten hinzu. Doch jetzt marschieren sie nur dort im Westen beim Wald von Teraman. Die ganze Zeit, die ich schon auf diesem Felsen sitze, habe ich keinen einzigen Trupp hier oder weiter im Osten erkennen können.“

„Und was könnte das bedeuten?“, frage Yolanda neugierig.

„Ich weiß es nicht. Aber irgendetwas muss es sicherlich bedeuten.“

„Vielleicht ... vielleicht planen sie einen großen Angriff und sammeln ihre Kräfte“, sagte Yolanda und ihr schauderte.

„Gut möglich. Beim Wald scheint diese Seite nicht so gut gesichert, da die Bäume dicht gedrängt bis an das Ufer heranreichen. Dort gibt es keine befestigten Lager.“

Große Sorgenfalten hatten sich auf Andres‘ Stirn geschoben. Noch immer blickte er angestrengt nach Westen, so als könne ihm nichts entgehen.

„Vielleicht ist es auch nur eine Ablenkung“, meinte er nach einer kurzen Pause. „Es ist so offensichtlich. Möglich, dass sie damit planen, dass wir auf dieser Seite ihre Truppenverschiebungen entdecken und darauf reagieren. Vielleicht wollen sie dann an einer ganz anderen Stelle angreifen.“

Yolanda überlegte. Alles schien so widersprüchlich. Sie saßen hier in der warmen Abendsonne und konnten auf aufgeheizten Felsen die friedliche Stimmung genießen, während nicht weit von ihnen sich hunderte und tausende Soldaten gegenüberlagen und die nächste Schlacht planten.

„Vielleicht könnten wir ...“

Andres unterbrach sie. Mit einem breiten Grinsen wandte er sich ihr zu. „Ich weiß nicht warum, aber ich weiß eben ganz genau, was du denkst und sagen möchtest.“

Sein Lächeln war warm und voller Zuneigung.

Yolanda setzte ihren Kopf schief und lächelte zurück. „So? Na dann bin ich aber gespannt, was ich so alles gedacht haben könnte.“

„Du hast dir gerade überlegt, ob wir die Truppenbewegungen auf der anderen Seite nicht irgendwie für uns nutzen können, stimmt’s?“

Yolanda gluckste. „Du bist herrlich, Andres. Ja, genau daran habe ich gedacht.“ Ihre Stimme wurde wieder ernst. „Überleg dir nur, wenn die Bersker tatsächlich einen großangelegten Angriff dort im Westen planen, dann ist zumindest für kurze Zeit alle Aufmerksamkeit dorthin gerichtet. Vielleicht können wir den Zeitpunkt nutzen, schnell über den Mundan rudern, die offenen grünen Wiesen rasch überqueren und in den Hügeln südlich davon einen sicheren Unterschlupf suchen. Es gibt dort einige Höhlen, in denen wir uns verstecken könnten.“

Erwartungsvoll blickte sie Andres an, der sie mit offenem Mund anstarrte.

„Ja, sicher, ja, das könnte schon sein.“

Er wirkte irritiert. Langsam griff er nach seinem Hut und schob ihn bedächtig auf seinen Kopf. Dann setzte er sich neben Yolanda, ließ die Beine über die Felskante hinunterbaumeln und blickte dem rothaarigen Mädchen fest in die Augen.

„Was ist los? Was schaust du so?“, fragte Yolanda.

„Du kennst die Höhlen von Ciarragh?!“

Ciarragh bedeutete „dunkler Fels“ und Andres hatte sich während seiner ziellosen Wanderschaft durch Talgarth des Öfteren in den dunklen Grotten versteckt. Zeitweise lebte er sogar mehrere Tage und Wochen in den weitverästelten Höhlen und Neben­höhlen. Es waren keine großen Höhlen, in den meisten konnte man nicht einmal stehen – zumindest ein Mensch nicht, ein Miglin hätte sich wohl recht zuhause gefühlt –, doch sie waren tief und verzweigt, so dass sie Andres oft Schutz geboten hatten.

„Wieso kennst du die Höhlen von Ciarragh? Warst du schon mal dort? Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du nun deine Geschichte erzählst, Yolanda.“

Er schob seine Hände unter die Oberschenkel, stützte sich auf die Arme und blickte sie erwartungsvoll an.

Die Sagen von Berandan

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