Читать книгу Die Sagen von Berandan - Jo W. Gärtner - Страница 11
Kapitel 6
ОглавлениеAm frühen Morgen überquerten Rimon und Joss den Pass und ließen ihre staunenden Blicke über das weite Tal des Mundan und der dahinterliegenden Ebene von Talgarth schweifen. Am Vortag kaum am südlichen Ufer des Sees angekommen, hatte Rimon auch schon seine Decke ausgerollt und war mitten am Tag nach den Anstrengungen des Kampfes in einen tiefen Schlaf gefallen, in dem er im Traum verschiedene Kreaturen in einer konfusen Reihenfolge bekämpft und besiegt hatte.
Nun saß er auf seinem treuen Yaris und blickte in das vor ihm ausgestreckte Tal. Was war das gestern für ein Tag! Noch immer konnte er die Ereignisse nicht ordnen. Hatte er tatsächlich einen Gobblin besiegt? Er? Was waren das nur für verrückte Tage, in denen er Miglins, die traumhafte Arafandra, einen komischen Kauz im Wald, Waldgnome und jetzt auch Gobblins traf? Er, der doch noch vor wenigen Tagen außer Wiesenau fast nichts von der Welt gesehen hatte. Er, der stets Angst hatte, ja, mehr sogar als seine kleine Schwester. Er hatte einen Gobblin besiegt!
Er musste lächeln und – weil er es immer noch nicht fassen konnte – leicht den Kopf schütteln.
Hätte nur jemand den Kampf gesehen! Außer Joss wusste niemand von dem Sieg, außer Joss wusste nicht mal jemand, dass sich auf der Insel ein schwer bewaffneter Gobblin versteckt gehalten hatte. Wer sollte ihm diese Geschichte glauben? Konnte es sein, dass er vor nicht einmal einem Tag die wohl größte Heldentat seines Lebens vollbracht hatte und niemand davon erfahren würde? Ach, egal, immerhin hatte er sich selbst bewiesen, dass er auch stark sein konnte, dass er nicht immer nur Angst haben müsste. Und zudem hatte er Yaris und Joss‘ edlen Karmundo aus den Händen des gemeinen Gobblins befreit.
Zufrieden lächelte Rimon still vor sich hin.
Obwohl es noch früh am Morgen war, ließ die Schwüle die beiden jungen Männer heftig schwitzen und drückte allmählich schwer auf ihre Gemüter. Weit im Süden türmten sich schwarze Wolken bedrohlich auf. Sollten sie weiter nach Norden ziehen, würde es später am Tag in Strömen regnen. Schnell ritten sie den steilen Hang hinunter zum Großen Fluss, bevor der Regen den Berg in eine Schlammlawine verwandeln konnte.
Rimon bemerkte, wie sich Joss ihm gegenüber anders verhielt, ja, er sprach auch anders mit ihm. Ernsthafter, respektvoller. Der gestrige Kampf hatte ihm offenbar Joss‘ Anerkennung und Respekt eingebracht. Stolz und glücklich ritt Rimon den Hang hinunter, fühlte die heiße Sonne über und sah den großen, träge dahinfließenden Fluss unter sich – die Welt konnte kommen!
„Meinst du, wir werden deine Freunde dort unten irgendwo finden?“, fragte Joss. „Jetzt, wo wir wissen, dass sie noch am Leben sind, sollten wir sie doch auch ausfindig machen.“
„Ich wünsche nichts mehr als das. Wir können nur hoffen, dass die Gobblins, die den Miglin entführt haben, am Mundan aufgegriffen wurden, denn dann hätten Yolanda und Andres keinen Grund, den Fluss zu überqueren. Aber wenn sie doch über den Fluss sind, …“ Rimon wollte den Satz nicht zu Ende reden, nein, nicht einmal zu Ende denken.
„… dann werden wir sie niemals finden“, vollendete Joss.
„Nein“, flüsterte Rimon und schluckte den dicken Klos, der ihm im Hals steckte, schwer hinunter.
Sie durften einfach nicht den Mundan überquert haben.
„Heute Nacht müssen wir es endlich wagen. Sonst sitzen wir noch ewig hier herum, während diese hässlichen Gobblins Bromar verspeisen!“ Kormar zürnte und blickte dabei düster drein. Seine Igelnase zuckte nervös, während tiefe Falten seine Stirn durchzogen. Die Unruhe und die Sorgen, die er sich um Bromar machte, waren ihm deutlich anzusehen. Unaufhörlich trippelte er mit seinen kleinen vierzehigen Füßen umher und konnte nicht stillstehen.
„Hab Geduld, Kormar. Wir müssen den günstigsten Moment abwarten“, antwortete Andres, doch beruhigen konnte er den Miglin damit nicht.
Seit der Nacht, als Yolanda ihre Geschichte erzählt hatte, saß Andres beinahe ununterbrochen und stumm am Rande der Felsen und beobachtete die langen, schwarzen Ströme der nachrückenden Heere auf der anderen Seite des großen Flusses.
„Wir müssen los!“ Kormar wurde wütend und sein Gesicht gefährlich rot. „Heute noch!“
Nicht unweit der Felsen, auf denen die Miglins, Yolanda und Andres lagerten und darüber stritten, wann sie aufbrechen sollten, stiegen zwei junge Männer von ihren mit Schweißperlen überzogenen Pferden ab und genossen das kühle Nass eines quirlig und munter ins Tal sprudelnden Gebirgsbaches. Joss füllte seine ledernen Trinkbeutel auf, als Rimon aufhorchte.
„Still!“
„Ich bin still – nur der Bach ist es nicht“, scherzte Joss und lachte sein liebstes Lachen.
Doch Rimons Miene war ernst. „Hörst du nicht?“
Joss lauschte, doch er vernahm nur das Rauschen des Baches und des aufkommenden Windes.
„Hörst du die Stimme nicht? Sie klingt wütend.“
Bis in die Zehenspitzen gespannt horchte Rimon und versuchte, einzelne Worte wahrzunehmen, doch er hörte nur ein zorniges Brummen, herübergeweht und vernebelt vom leichten Wind.
„Ja, du hast Recht. Das klingt nach der Stimme eines Mannes“, sagte Joss. Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Nach einem wütenden Mann.“
„Schnell, lass uns hin und nachsehen, wer es ist“, rief Rimon und verstaute seine Flasche an Yaris‘ Sattel.
Doch Joss zögerte. „Warum denn? Du weißt nicht, wer es ist, ob dort eine Gefahr lauert. Vielleicht will uns jemand anlocken, ein Gnom oder ein Gobblin.“
Zweifel standen in seinen blauen Augen geschrieben.
„Du hast doch nicht etwa Angst, oder?“, keifte Rimon und frohlockte innerlich, dass es nicht immer nur er war, der zögerte und ängstlich war.
„Nein, keine Angst, nur Vorsicht“, antwortete Joss scharf. „Ich begebe mich nur ungern unnötig in Gefahr.“
Rimon lachte.
„Und außerdem müssen wir deine Freunde finden. Wir haben keine Zeit, um uns durch irgendjemand anders ablenken zu lassen. Du weißt genau, dass die Zeit drängt!“
Rimons Lachen erstarb. Daran hatte er gar nicht gedacht. Wieder einmal hatte Joss bewiesen, dass er der Reifere war. Er ärgerte sich über sich, nickte unmerklich, stieg auf seinen treuen Begleiter und ritt gemeinsam mit Joss entlang des fröhlich plätschernden Bachs den Hang hinunter, dem Bösen immer näherkommend.
„Nun hör doch bitte auf so zu zürnen. Du lockst damit ja noch Freund und Feind an!“, redete Andres beschwichtigend auf Kormar ein, der sich immer mehr in Rage geredet hatte. „Wir brechen heute Nacht auf, wenn der Mond nicht gar zu hell scheint. Dann wagen wir es und setzen über den Fluss, einverstanden?“
Kormar hörte auf zu toben, legte den Kopf leicht schief und blickte mit seinen dunklen Augen Andres kritisch an, doch als er in diesen nichts Falsches erkennen konnte, streckte er ihm seine kleine, aber doch so starke Hand hin. Andres ergriff sie.
„Abgemacht!“, sprach Kormar. „Morgen sind wir in Talgarth.“
Niemand sprach ein Wort, doch ein jeder der Umstehenden war in seinen Gedanken in Talgarth und bei all den Gefahren, die dort auf sie warten mochten.
Die Wache schwitzte unter ihrer Rüstung in der Mittagssonne. Die Schwüle hatte hier unten am Fluss sogar noch zugenommen. Rimon wünschte sich einen abkühlenden Regenschauer sehnlichst herbei, und die immer schwärzer werdenden und sich bedrohlicher auftürmenden Wolken südlich des Mundan konnten seinen Wunsch in Erfüllung gehen lassen. Auch ihm rann der Schweiß in Strömen herunter, doch beim Anblick der schwitzenden Wache überkam ihn großes Mitleid.
„Wer seid ihr und was wollt ihr?“, fragte der Soldat und stellte sich den beiden Reitern in den Weg.
Der Nasenbügel seines Helms war leicht verbogen, ja, die ganze Wache und die gesamte Rüstung sah verbeult aus, so, als hätte sie erst vor kurzem gekämpft und dabei einige üble Schläge abbekommen. In tiefen Augenhöhlen saßen dunkle Augen, die halb düster, halb gelangweilt die Ankömmlinge am befestigten Lager musterten. Ein ungepflegter Bart umwucherte wild Kinn und Wangen. Der Mann trug einen in der Sonne leicht schimmernden geschlossenen Brustpanzer. Darunter musste es sterbensheiß sein, schoss es Rimon durch den Kopf. Immerhin hatte er eine gewöhnliche Hose und keine gepanzerten Beinkleider. Doch auch die Füße steckten in den für die Soldaten Berandans so typischen schweren Lederstiefeln. Nein, diesen Mann beneidete er in dieser Hitze überhaupt nicht. In seiner Rechten hielt er eine lange Lanze, die er schräg von sich streckte, um den jungen Männern zu signalisieren, dass sie es nicht einmal wagen sollten, hier an ihm ohne Erlaubnis vorbeizureiten.
„Wir reiten im Auftrag Arafandras, der Tochter des Fürsten von Callan. Mein Name ist Jostur und dies ist Rimon“, sprach Joss in stolzem und feierlichem Ton.
Doch die Wache ließ sich davon nicht beeindrucken und blickte nach wie vor düster und gelangweilt drein.
„Wir sind auf der Suche nach einer Gruppe von … Menschen. Sie zu finden, hat größte Bedeutung für die Sicherheit unseres Landes. Daher möchten wir mit dem Kommandanten sprechen.“
„Dass ich hier stehe, ist auch wichtig für die Sicherheit unseres Landes, und dennoch spreche ich nicht so geschwollen daher“, giftete die Wache. „Der Kommandant ist momentan nicht im Lager, aber er wird bald wieder zurück sein. Dann kann ich ihn fragen, ob er euch empfangen will. Kommt später wieder und wartet hier draußen irgendwo. Macht, was ihr wollt.“
Er spuckte einen großen Batzen aus und ignorierte die jungen Männer, die etwas irritiert dreinschauend hoch auf ihren Pferden saßen.
„Ich weiß, was du jetzt am liebsten tun würdest“, flüsterte Rimon zu Joss, „aber tu es nicht. Wir rasten dort unter dem Baum.“
Joss‘ fester Griff um den Knauf seines Schwertes lockerte sich leicht, er nickte und wendete das Pferd.
Sie legten sich in die Kühle des Schattens eines Baums und holten ein paar Äpfel aus ihren Satteltaschen. Mit ihren scharfen Messern schnitten die jungen Männer einzelne Schnitze ab, schoben diese nachdenklich zwischen die Zähne und hingen ihren Gedanken nach.
„Du, Joss?“, fragte Rimon in die Stille.
„Was ist?“, entgegnete Joss und wendete seinen Blick Rimon zu.
„Du kennst Arafandra doch schon recht lange.“
„Das kann man wohl sagen. Lange und gut!“ Joss lächelte, sein Blick irgendwo in der Ferne verhaftet. „Lange und sehr gut!“, wiederholte er mit Nachdruck.
„Am Tag des Turniers erzählte mir ein alter Mann vom Verlauf des Turniers, davon, wie die Fürstentochter Cadrahan den Befehl gab, den besiegten Womir zu töten, wie Cadrahan Arafandra verfluchte und die Stadt verließ. Er ließ nur wenig gute Worte an ihr.“
Joss schwieg einen kurzen Moment, bevor er antwortete. „Da ist er sicher nicht der einzige in der Stadt. Viele reden mit böser Zunge über die Liebliche.“
„Aber ist es nicht tatsächlich äußerst unehrenhaft und einer so hohen und edlen Dame nicht sittsam, den Tod eines bereits besiegten Ritters zu verlangen?“, fragte Rimon verzweifelt.
Arafandra war das reizendste, lieblichste und anziehendste Geschöpf, dem er je in seinem kurzen Leben begegnet war, aber dennoch war er von dieser Forderung, die sie dem großen Cadrahan gestellt hatte, entsetzt. Das passte nicht mit der bildhübschen Frau, nicht mit den wie Edelstein funkelnden blauen Augen, nicht mit dem weichen und schimmernden Haar zusammen!
„Glaube mir, diese Forderung steht einer Dame nicht. Kein Ritter würde einen im Turnier Besiegten töten, wenn dieser sich bereits ergeben hatte und am Boden lag. Arafandra wusste, wie ritterlich Cadrahan ist, welch edlen Mut er hat, sie wusste, dass er nie im Leben Womir töten würde. Nur weil sie sich dessen sicher war, hat sie die Forderung gestellt.“
Rimon verstand nicht, weshalb Joss mit einem kleinen Seufzer fortsetzte. „Fürst Theobran versucht seit Jahren, seine Tochter endlich zu vermählen, doch sie möchte nicht irgendeinen groben, widerlichen Ritter ehelichen, den ihr Vater für sie aussucht. Sie will nicht Mittel zum Zweck sein, nicht Dreingabe zu einem Vertrag mit einem anderen Fürsten. Arafandra ist stolz, ja, das ist sie. Und so hat sie bisher alle Kandidaten abblitzen lassen, weil sie den heiraten möchte, den sie wirklich liebt.“
Joss lächelte mit verträumten Augen.
„Und dieser könnte vielleicht ich sein, wenn ich nur erfolgreich zurück nach Callan komme?“, fragte Rimon ungläubig, kaum auf bejahende Antwort hoffend.
„Ja“, sagte Joss kurz.
Sein Lächeln verschwand und mit einer weit ausholenden Armbewegung schleuderte er einen Teil des Apfels, der von einem dicken Wurm bewohnt war, fort. Rimon folgte mit einem breiten Grinsen dem fliegenden Butzen, bis sich dessen Bahn senkte und er schließlich im hohen Gras zur Erde zurückkehrte.
„Es ist schon komisch, oder?“
„Was?“, frage Joss.
„Naja, vor wenigen Tagen saß ich noch am heimischen Küchentisch, ich spielte mit meinen Freunden und hatte von der Welt keine Ahnung …“
„Du hast auch jetzt noch von der Welt keine Ahnung“, entgegnete Joss etwas bissig, lächelte jedoch zugleich.
Rimon nahm den Einwurf seines Begleiters irritiert wahr, konnte ihn aber nicht einordnen. Was war gerade los mit Joss?
„Weißt du, manchmal glaube ich, ich bin noch viel zu jung und unerfahren, als dass ich Arafandra heiraten könnte. Ich bin ja erst sechzehn Jahre alt.“
„Soso“, murmelte Joss gedankenverloren.
„Was meinst du mit soso?“
„Ich meine damit, dass du wahrscheinlich recht hast“, sagte Joss. Rimon entging der gereizte Unterton nicht, der sich in dessen Stimme gelegt hatte. „Du weißt schließlich nichts über das Leben am Hof des Fürsten, nichts von all den Intrigen, nichts von Macht – du weißt überhaupt nichts! Aber das soll nicht meine Sache sein.“
Nun schwang Ärger in der Stimme mit. Rimon wurde unsicher. Er hatte damit gerechnet, Joss würde ihn aufmuntern, sagen, dass er das schon schaffen werde, dass er sich mal keine Sorgen machen solle.
„Du meinst also, ich sei nicht dazu geeignet, Arafandra zur Frau zu nehmen?“, fragte er leise.
Scharf blickte Joss seinen Weggefährten an. „Hast du eben nicht selbst gesagt, dass du manchmal glaubst, dem allen noch nicht gewachsen zu sein? Du glaubst doch selbst, dass du nicht dazu geeignet bist. Du bist eben noch jung und unerfahren.“
Gereizt erhob sich Joss und ging wütenden Schrittes vom Baume weg. Mit verschränkten Armen, den Rücken Rimon zugewandt, stand er auf der Wiese vor dem Lager und blickte zu den Grauen Bergen hinauf. So stand er eine Weile da, währenddessen Rimon nicht wusste, was er tun, sagen oder denken sollte. Ganz hilflos saß er da. Die Freude des Morgens war mit einem Male verschwunden.
„Du bist noch zu jung und zu unerfahren. Noch!“ Joss kam langsam zu Rimon zurück, die Hände in die Hüfte gestemmt. Er lächelte leicht, doch es wirkte nicht ehrlich. „Du bist noch zu unerfahren. Deswegen sind wir nun auf großer Fahrt, damit du dich bei deiner Rückkehr nicht mehr fragen musst, ob du für das Leben mit Arafandra am Hof geeignet bist. Es tut mir leid, ich war gerade zu hart. Ich rede nicht gern über Callan und Arafandra, wenn ich unsere Situation vor uns sehe. Wir haben hier viel zu erledigen, da sollen uns die Gedanken an die wohlige Heimat nicht davon ablenken.“
Rimon wurde rot und lächelte verlegen. Er kam sich dumm vor und fühlte sich abermals wie ein kleiner Junge, der er wohl noch immer war.
* * * * *
Die Sonne stand tief am Himmel, der Abend rückte näher, doch noch immer war die Luft drückend feucht, warm und zum Zerreißen gespannt. Jenseits des Großen Flusses zuckten bereits erste Blitze und hier und da war dumpfes Donnergrollen zu hören.
„Heute Nacht werden die Wolken den Himmel verdunkeln und der Regen die Sicht erschweren. Eine perfekte Nacht, um den Mundan zu überqueren!“, sagte Kormar düster, doch seine Augen leuchteten leicht und verrieten seine Neugier und Abenteuerlust.
„Wenn nur nicht die Blitze den Himmel erhellen, wenn wir mitten auf dem Fluss sind“, warf Alsrafan ein, aber Kormar ignorierte seine Worte geflissentlich.
„Die Armeen des Südens verdichten sich immer mehr dort hinten auf der anderen Seite des Waldes von Teraman. Und auch die Menschen ziehen dort ihre Truppen zusammen. Seht ihr das?“, fragte Andres und zeigte in die Richtung, in der der große Wald lag.
„Ich fresse einen Besen, wenn die nicht einen Angriff planen. Möge Erdan den Soldaten beistehen, dass sie ihn abwehren können. Aber es ist gut für uns. Vielleicht rechnen sie nicht damit, dass im Moment des Angriffs Menschen den Fluss überqueren würden.“
Helmar kicherte.
„Was gibt es da zu lachen?“, fragte Andres irritiert und auch etwas genervt.
„Noch ein Grund mehr, weshalb die Bersker nicht angreifen sollen“, gluckste der Miglin, „denn dann würde ich nur zu gerne sehen, wie du einen Besen verspeist. Also ehrlich, ihr Menschen drückt euch schon manchmal sehr seltsam aus.“
„Schluss jetzt mit dem Gehabe!“, rief Kormar ungeduldig. Er wollte aufbrechen und sich nicht mit unwichtigen Albereien aufhalten. „Jeder packt seine Sachen zusammen und dann ziehen wir los zum Boot. Dort warten wir den Anbruch der Dunkelheit ab, und dann machen wir uns auf, endlich unseren Bruder aus den Händen dieser Kreaturen zu befreien.“
Energisch reckte er seine Faust nach oben. Unter gewöhnlichen Umständen hätten die Miglins ihren Chef freudig hochleben lassen und wären in ausgelassenes Gebrüll ausgebrochen, doch bei dem Gedanken, einen Fuß auf das andere Ufer des großen Flusses zu setzen, wollte keine rechte Jubelstimmung aufkommen. Einige Miglins brummelten leise ihre Zustimmung, dann machte sich jeder auf, tief in Gedanken seine wenigen Sachen zu packen.
* * * * *
Als die Sonne nur noch spärliche Strahlen über den Horizont schickte, kam der Kommandant des Lagers hoch zu Ross endlich wieder zurückgeritten. Kaum war er mit seinem Gefolge hinter dem hölzernen Palisadenzaun des Lagers verschwunden, standen Rimon und Joss auch schon vor der Wache und schickten diese zum Kommandanten, in der Hoffnung, er würde sie empfangen. Nach kurzer Zeit kam der Soldat zurück und öffnete das Tor. „Ihr könnt zu ihm, aber hütet euch, seine Laune scheint nicht die beste zu sein.“
Joss trat zuerst ein, aufrecht, hinter ihm folgte Rimon, leicht gebeugt vor der imponierenden Gestalt des Lagerkommandanten. Hoch gewachsen, mit breiten Schultern, die Arme vor der Brust verschränkt, stand er vor ihnen und blickte ungeduldig auf sie herab. Er schien unruhig zu sein, stand selten still, wanderte die meiste Zeit in seinem Zelt auf und ab. Der braune Vollbart war säuberlich gestutzt, der Mantel hing vom Ritt noch etwas zerzaust über die Schultern und die blauen Augen bewegten sich unruhig von einer Stelle im Zelt zur anderen. Willkommen konnten sich die beiden jungen Männer wahrlich nicht fühlen.
„Ihr seid Reiter, nicht wahr? Reiter im Dienste Theobrans?“, fragte er mit kräftiger Stimme.
„Ja, das sind wir. Aber um genau zu sein, reiten wir im Auftrag von Theobrans Tochter“, entgegnete Rimon schüchtern.
Der Kommandant setzte sich auf einen hölzernen Stuhl, der inmitten des Zeltes stand, stützte seinen Ellbogen auf sein Knie und strich sich nachdenklich durch den Bart. Dabei musterte er die beiden aufmerksam. „Und was führt euch hierher?“
„Wir folgen einer Gruppe, die sich über die Grauen Berge in die Mundanebene begeben und vielleicht den Fluss überquert hat. Sie zu finden, ist von größter Wichtigkeit für Callan und die Sicherheit unseres Landes“, sagte Joss, wieder mit seinem stolzen und gewichtigen Tonfall, den er stets an den Tag legte, wenn er von seinem Auftrag sprach.
„Soso“, brummte der Kommandant tief in Gedanken. „Um was für eine Gruppe handelt es sich denn?“
„Um eine Gruppe von …“ Rimon stockte. „Eine Gruppe von … von …“
Neugierig beugte sich der Lagerkommandant nach vorne, kam den beiden jungen Männern ganz nah, seine Augen leuchteten, als er beschwörend flüsterte: „… von Gobblins etwa?“
Gebannt blickte er zuerst Rimon, dann Joss in die Augen. Kein Zucken, kein Schlucken konnte ihm entgehen.
Rimons Augen weiteten sich. Gab es etwa noch mehr Gobblins? Mehr als die toten auf der Insel im Möckeln?
„Ja …“, brachte er hervor, „jaja, Gobblins, genau.“
Der Kommandant lehnte sich zurück, klopfte mit seiner starken Rechten auf seinem Knie, die Spannung löste sich etwas. „Schon wieder zwei junge Leute, die sich für die Gobblins interessieren …“
„Wieso schon wieder zwei junge Leute? Waren denn schon andere hier, die sich nach Gobblins erkundigten?“, fragte Rimon hastig.
„Das tut nichts zur Sache. Aber ja, da ist uns eine Gruppe dieser Bastarde über den Fluss entkommen. Zu gerne hätte ich eine dieser Kreaturen erwischt, ihr mit meinen eigenen Fäusten ihre Pläne, die sie hatten, ausgequetscht.“
Als wollte er es veranschaulichen, wie er den Gobblin würgen und quetschen wollte, ballte er seine mächtige Faust, wobei die Adern an der Hand dunkel heraustraten. Sein Blick verharrte für einen kurzen Augenblick, die Gedanken bei den fliehenden Gobblins, dann kehrten sie ins Zelt und zu den jungen Männern ihm gegenüber zurück.
„Wann war das? Wann flohen sie über den Fluss?“, fragte Rimon.
„Sicherlich schon vor fünf Tagen“, antwortete der Kommandant. „Wir schickten einige Pfeile hinter ihnen her, konnten aber nur einen erwischen. Sie waren schnell, zu schnell.“
„Hatten sie jemanden dabei?“ Rimon war nun Feuer und Flamme. Endlich konnten sie Informationen bekommen, die ihnen vielleicht wirklich weiterhelfen konnten.
„Wer sollte denn mit einer Horde Gobblins über den Mundan rudern?“, fragte der Kommandant irritiert.
„Na, irgendwer. Ein Gefangener oder so.“
„Nein, nicht dass ich wüsste. Zumindest habe ich keinen Gefangenen gesehen.“
„Und sind nach den Gobblins noch andere über den Fluss gerudert?“
„Was stellst du denn für Fragen? Der Fluss ist die Front, Junge, da paddelt man nicht einfach mal so drüber. Wer das macht, riskiert, von der einen oder der anderen Seite abgeschossen oder gefangen genommen zu werden. Der Mundan ist so stark bewacht, dass es nicht gerade ein Leichtes ist, überhaupt ans Ufer zu gelangen.“
„Na, die Gobblins scheinen es geschafft zu haben.“
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ Der Kommandant wurde wütend, er sprang auf, seine Stimme wurde zornig. „Die Bersker und Gobblins ziehen ihre Truppen zusammen und bereiten einen großen Angriff vor und du beanspruchst meine Zeit mit irgendwelchen Kleinigkeiten!“
Rimon zog seinen Kopf ein. Der Mann war ihm nicht geheuer.
„Wenn wir diese Schlacht verlieren, wird es bald ziemlich egal sein, wer hier wann den Mundan überquert, da es sich dann nur noch um die nachfolgenden Truppen der Bersker und Gobblins handeln wird. Also belästige mich nicht mit deinen törichten Fragen!“
Stille.
Joss und Rimon wagten nicht, auch nur ein Wörtchen zu sagen. Das wütende Dröhnen des Lagerkommandanten hallte in ihren Ohren.
„Wir werden in wenigen Augenblicken in Richtung des Waldes von Teraman aufbrechen“, sprach der hochgewachsene Anführer wieder ein wenig gefasster. „Wir benötigen dort alle nur irgendwie verfügbaren Truppen und jeden Mann. Schließt euch uns an, kämpft für uns, verteidigt mit uns unsere Heimat, unsere freie Heimat, dann können wir uns anschließend wieder euren Problemen zuwenden.“
„Aber wir reiten doch im Auftrag von Arafandra von Callan“, entgegnete Joss vorsichtig.
„Verdammt nochmal!“ Der Kommandant schlug wütend auf die Lehne seines Stuhls, die bedrohlich knarzte. „Eurem Prinzesschen wird es wohl auch recht sein, wenn ihr mithelft, ihr und unser aller Land zu verteidigen. Also stellt euch nicht so mimosenhaft an und kämpft wie Männer, bei Erdan!“
„Ja, ja, Herr“, rief Rimon, „wir kämpfen mit euch.“
Joss fuhr herum. Entgeistert blickte er Rimon an, doch dieser reagierte nicht darauf.
„Wir reiten mit euch, Herr“, wiederholte er.
„Bist du denn des Wahnsinns?!“, schnaubte Joss, als sie das Zelt verlassen hatten. „Warum sollen wir dort kämpfen? Wir haben einen ganz anderen Auftrag. Und nun sollen wir unser Leben aufs Spiel setzen?“ Er konnte es nicht fassen, wie schnell sich Rimon hineinziehen lassen konnte.
„Es ist doch unsere einzige Möglichkeit, verstehst du das nicht?“, fuhr Rimon Joss in gedämpftem Ton an. Er wollte nicht, dass sämtliche Soldaten ihr Streitgespräch mithörten.
„Was wissen wir denn bisher? Nichts. Oben in den Bergen liegen tote Gobblins, andere, lebende Gobblins haben vor ein paar Tagen den Mundan überquert, aber scheinbar ohne einen Gefangenen. Von Yolanda und Andres wissen wir überhaupt nichts. Sind sie jenseits des Flusses? Sind sie hier irgendwo oder ganz woanders? Sind sie überhaupt am Leben? Wir wissen doch nichts! Rein gar nichts!“
Eindringlich blickte er Joss an, der seinem Blick nicht lange standhalten konnte. „Der Kommandant kann uns vielleicht eine Hilfe sein, aber nicht, wenn wir uns jetzt wieder verdrücken.“
„Meinetwegen“, grummelte Joss, „ich habe Arafandra geschworen, dass ich dir folgen und dich beschützen werde. Also werde ich das auch tun. Aber glaube ja nicht, dass ich deine Idee gut finde.“
„Das musst du auch nicht“, lächelte Rimon und klopfte Joss freundschaftlich auf die Schulter.
„Also los“, lächelte Joss zurück, „auf in den Kampf und in das Abenteuer. Was meinst du, wessen Schwert darf mit mehr Gobblins Bekanntschaft schließen? Ich wette, meines.“
„Ich wette dagegen.“
Lachend und die Arme sich über die Schultern legend warteten sie auf den Aufbruch, als ein Reiter im fliegenden Galopp durch das Lager preschte, vor dem Zelt des Lagerkommandanten absprang und darin verschwand. Das Pferd – Schaum vor dem Maul – ging müde in die Knie. Doch schon nach einem kurzen Moment kam der Reiter wieder aus dem Zelt gestürzt, riss sein Pferd nach oben, gönnte ihm keine Rast und war wenig später bereits in der hereinbrechenden Dunkelheit wieder verschwunden.
Rimon und Joss blickten ihm verwundert und ängstlich hinterher. Was war hier los?
Kurz darauf trat ein eingefallener, um Haltung ringender Kommandant vor das Zelt und gab mit brüchiger Stimme ein paar umherstehenden Soldaten den Befehl, alle berittenen Krieger zusammenzurufen.
Wenig später waren etwas mehr als hundert Reiter vor dem Kommandanten versammelt, der inzwischen seine Haltung wiedergefunden hatte. Als er die kräftige Stimme erhob, erstarb das nervöse und neugierige Flüstern rings umher.
„Männer! Die Tage waren schon lange schwarz, aber in dieser stockfinsteren Nacht werden sie noch schwärzer.“
Die Stimme war tief, der Blick ernst und besorgt. Er ließ ihn über die vor ihm versammelten Soldaten schweifen und wusste genau, dass er mit seiner Botschaft seinen Männern ins Mark treffen würde, doch sie nicht ein Mal klagen, sondern ihm ergeben folgen würden.
„Den Angriff der Bersker und Gobblins am Wald von Teraman mussten wir erwarten. Alle Kommandanten der in der Nähe befindlichen Lager waren heute dort versammelt, um einen Verteidigungsplan zu erarbeiten. Doch niemand hatte erwartet, dass der Angriff so schnell kommen würde und dass er so heftig wäre.“
Er stockte.
Alle horchten gebannt; nicht einer sprach ein Wort. Die Luft der dunklen Nacht war zum Zerreißen gespannt.
„Sie sind gelandet, Männer. Sie sind auf dieser Seite des Mundan, auf unserer Seite. Hunderte und tausende Bersker und Gobblins haben unsere Bogenschützen auf der anderen Seite überrannt und die Boote rudern wieder und wieder über den Großen Fluss und bringen immer mehr neue und frische Soldaten aus dem Süden herüber.“
Er schwieg.
Der Wind frischte auf und die dunklen Wolken, die sich während des Tages zusammengezogen hatten, gaben ihre ersten schweren Tropfen preis. Doch noch lastete die Schwüle des zu Neige gehenden Tages über den Köpfen der Soldaten.
„Unter der Führung meines Adjutanten werden alle Fußsoldaten gen Westen marschieren und sich dort dem Feind in den Weg stellen. Und wir, alle Reiter dieses Lagers, werden nach Osten ziehen und …“
Wieder stockte er.
Es herrschte Totenstille.
Nach einem eine Ewigkeit gleichenden Augenblick setzte er schließlich schwerfällig, doch nach wie vor mit lauter, kräftiger Stimme fort.
„Wir werden den Mundan überqueren. Wir werden alles niederreiten, was sich uns in den Weg stellt. Wir werden den Berskern in den Rücken fallen und ihnen damit die Nachschublinien unterbrechen. Wir müssen Chaos und Durcheinander stiften, damit sich unsere Reihen auf dieser Seite des Flusses ordnen und den Feind zurück in und über das Wasser treiben können.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Und dann müssen wir nur versuchen, wieder über den Fluss zurückzukommen. Das wär’s.“
Mit fest zusammengepressten Lippen stand er vor seinen Männern. Er wusste nur zu gut, was er von ihnen verlangte. Er wusste, dass viele sterben würden, vielleicht sogar alle. Doch Befehl war Befehl. Wenn sie damit ihren Beitrag für den Erhalt ihres geliebten Berandans leisten konnten, dann sollte es so sein. Mit seinen scharfen blauen Augen nahm er einen Soldaten nach dem anderen in den Blick, ließ ihn nicht los, ehe er sich sicher war, dass er ihm folgen würde. Zunächst sprach keiner ein Wort; jeder der Reiter war verstummt und in Gedanken versunken. Sie dachten an ihre Familien, an ihre Kinder, manche an ihren Hof, den sie unbestellt zurückgelassen hatten, andere dachten nichts, starrten nur stumpf vor sich hin. Dann setzte ein leises Murmeln unter den Männern ein, allmählich kam Bewegung unter sie und bald brach einer nach dem anderen auf zu seinem Zelt, um seine Rüstung anzulegen, sein Pferd zu satteln und ein stilles Stoßgebet gen Himmel zu richten.
Joss stand mit gesenktem Haupt neben seinem Begleiter. Die Lippen bebten vor Wut, vor Grimm, vor Angst. Leise, ganz leise, mit zitternder Stimme wandte er sich Rimon zu.
„Weißt du, was du uns gerade angetan hast? Weißt du das?“, fragte er.
Rimon blickte seinen Freund an. Joss war kreidebleich.
„Du hast uns in den sicheren Tod geschickt.“
„Ich? Was habe ich?“, fragte Rimon irritiert, was Joss in Rage brachte.
„Kapierst du eigentlich gar nichts, du von Erdan verdammter Volltrottel??“, schrie er mit hochrotem Gesicht. „Bist du denn so dumm, dass du es nicht einmal kapierst?“
Joss rang nach Atem. „Wir werden alle sterben. Dort drüben warten keine Ahnung wie viele Bersker und Gobblins. Vielleicht können wir ein paar töten, vielleicht, aber dann werden sie uns töten! Und du stehst nur da und kapierst nicht. Verdammt nochmal! Du – hast – uns – umgebracht, Rimon!!“
Seine Nase berührte beinahe die Rimons, sein heißer Atem lag auf Rimons Wangen. Joss standen die Tränen in den Augen, das Blut pochte in seinen Adern, die dunkel an seiner Stirn hervortraten.
„Na, ihr zwei Helden. Holt eure Pferde und sitzt auf! Gleich brechen wir auf“, unterbrach der Kommandant, der zu ihnen getreten war.
„Keine Sorge, wir alle haben Angst“, redete er mit väterlicher Stimme auf Joss ein und legte ihm beruhigend die starke Hand auf die Schulter. „Aber wir alle werden unser Bestes geben, dass ein jeder wieder heil über den Fluss zurückkehrt. Verlasst euch darauf.“
Damit ging er in sein Zelt, um wenig später in glänzender Rüstung, umgürtet mit einem langen Schwert, wieder herauszutreten und sich auf sein bereits gesatteltes und gewappnetes Pferd zu schwingen.
„Ich habe einfach nur Angst, Rimon. Verstehst du? Ich will noch nicht sterben“, flüsterte Joss und Rimon konnte die Tränen in seiner Stimme hören.
„Es tut mir leid, Joss. Ich habe auch Angst.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er zu Yaris, streichelte es auf den Nüstern und stieg in die Steigbügel.
„Wir schaffen das, Yaris, ja?“, flüsterte er seinem treuen Pferd in die Ohren und strich leicht über seinen Hals.
Die Gefahr fühlend, doch als habe es die Frage verstanden, wieherte Yaris leise und warf den Kopf auf und nieder.
Die Nacht war pechschwarz. Kein Stern war am wolkenbehangenen Himmel zu sehen. Kein Mondschein konnte hindurchdringen. Alles war schwarz – wie der Tod.