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Kapitel 2

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Yolandas Geschichte

„Es geschah vor wenigen Sommern. Vor fünf, wenn ich mich recht entsinne. Der schwärzeste Sommer meines Lebens. Dabei begann der Frühling so herrlich. Mein Vater arbeitete als Landarbeiter und verdingte sich als Hilfskraft bei Ernten oder wo auch immer eine Arbeit anfiel. Wir waren nie reich und mussten oft durch das Land ziehen, bis mein Vater irgendwo Arbeit fand. Wir waren in Garvagh, in Camolin und für eine kurze Zeit sogar am Rande von Tarakmanien im äußersten Osten Delariens. Die Winter waren hart und wir litten oft Hunger, aber dennoch ging es uns gut. Wir hatten uns und das war alles, was wir brauchten. Meine beiden älteren Brüder halfen meinem Vater bei seiner Arbeit, und wenn keine Arbeit anfiel, dann besorgten wir Kinder eben auf andere Weise etwas zu essen. Ich sag dir, wenn es darum geht, einen dicken, fetten Schinken aus einer feinen Stube zu klauen, macht mir keiner was vor.

In diesem Frühjahr vor dem schwarzen Sommer setzten wir über den Mundan, da sich die Leute Gerüchte erzählten, die reichen Viehbauern auf der Südseite des großen Flusses bräuchten dringend Arbeiter, die die Kühe und Rinder auf die Wiesen treiben konnten. Nur wenige der Hilfsarbeiter wagten sich auf die andere Seite des Mundan, da Gobblins und Bersker immer öfter ihr Unwesen dort trieben. Man erzählte sich grauenvolle Geschichten von zer­stückelten Menschen, die man in niedergebrannten Bauernhäusern gefunden hatte. Viele Menschen zogen weg, nach Norden auf die sichere Seite des Stromes, doch einige wenige blieben und wurden reich, sehr reich. Plötzlich verfügten sie über riesige Weideflächen, auf denen immer größere Herden grasen konnten. Sie heuerten Söldner an, die ihren Besitz verteidigten und verschanzten sich selbst hinter dicken Mauern in ihren burgähnlichen Anwesen. Aber welcher Arbeiter wollte schon auf dem freien Feld ohne jeglichen Schutz schuften, wohlwissend, dass jederzeit ein Gobblin mit seinem geschwungenen Schwert auftauchen und einem den Kopf abschlagen konnte. Daher mussten die Bauern mehr Lohn bezahlen und mein Vater ließ sich dadurch überzeugen - und ins Verderben locken.

Der Frühling war herrlich. Während mein Vater mit seinen Söhnen auf den Weiden arbeitete und das Vieh hütete, konnte ich stundenlang durch die Wiesen stromern. Das hüfthohe Gras wogte im sanften Wind und schimmerte silbern wie die Dünung auf dem Meer. Die Wellen trugen mich weg, immer weiter weg von zu Hause, hinauf in die Hügel südlich des fruchtbaren Streifens, hinter denen die Steppe von Talgarth beginnt.

Wie oft hatten mich meine Eltern davor gewarnt, zu weit von zu Hause wegzugehen. Zwischen den riesigen Feldern der Viehbauern und dem großen Fluss war es einigermaßen sicher, aber nicht weiter südlich in den Hügeln. Nie in die Hügel! Gobblins und Bersker sind dort, und auch die gesetzlosen, vogelfreien Cuirfons sollen sich dort herumtreiben. Wie oft warnten sie mich, aber die Wellen der Wiesen trugen mich hinfort. Immer weiter fort. Schließlich erreichte ich einen hohen Hügel und stieg hinauf. Oben angekommen öffnete sich die endlose Ebene von Talgarth – unendlich weit konnte man von hier aus sehen. Die Steppe zog sich bis zum Horizont, braun-gelbes Gras und hier und da ein verdorrter Busch so weit das Auge reichte. Die Unendlichkeit zog mich in ihren Bann und ließ mich nicht mehr los. So stand ich dort oben, den Wind in meinen Haaren und vergaß die Zeit. Ich vergaß die Zeit und alles um mich herum, nahm nichts wahr, nur die endlose Weite. Nicht aber die den Hügel heraufziehenden Gobblins, obwohl sie schon lange sichtbar gewesen sein musste. Ein spitzer Schrei riss mich aus meiner Versunkenheit – ein Schrei, der sich in mein Gedächtnis gebrannt hat und den ich nicht mehr vergessen kann. Ich wurde aus meinen Tagträumen gerissen und erkannte sechs Gobblins, die keine Bogenlänge etwas unterhalb von mir standen und spitze, freudige Schreie ausstießen. Ich hatte nur ein kleines Messer, das ich immer bei mir trug, das mir aber gegen sechs Gobblins nicht helfen würde. Das Herz raste, ich nahm meine Beine in die Hand und rannte den Hügel hinab, die eiskalten Schreie in meinem Rücken. Ich war gerade einmal zehn Jahre alt und die Gobblins waren schneller, viel schneller als ich. Ohne zu wissen wohin, rannte ich den Hügel hinunter. Ich weinte und die Tränen standen mir in den Augen, so dass ich nichts mehr sehen konnte. Doch ich rannte weiter, immer weiter, nur weg von diesen Schreien, die lauter und lauter wurden. Bald hatten sie mich, als plötzlich das Gelände vor mir steil abfiel. Vor mir öffnete sich ein Tal und ich stand oben, einen felsigen Abhang vor mir. Fast wäre ich gefallen, doch ich konnte mich halten. Ich kletterte rasch an den Felsen hinunter, nur wenige Meter über mir konnte ich die hässliche Fratze eines Gobblins über die Felskante blicken sehen. Diese Augen, diese giftgrünen Augen, sie fingen mich ein und lähmten mich für einen Augenblick. Eine unerklärliche Beklommenheit legte sich über meine Glieder und wie festgewachsen hing ich an den Felsen. Schnell wendete ich meinen Blick ab und kletterte weiter in die Tiefe. Aber auch die Gobblins begannen, die Felsen hinunterzuklettern. Sie rannten nicht nur schneller, sie kletterten auch viel flinker als ich. Ich kam auf einer kleinen Felsplattform an, von der es senkrecht weiter hinab ging. Mir schwindelte, hier konnte ich nicht weiterklettern. Ich würde abrutschen und in die Tiefe fallen. Die Gobblins über mir hatten die Plattform gleich erreicht. Hilflos stand ich da, Tränen strömten mir übers Gesicht, als ich plötzlich ein kleines Loch in der Felswand wahrnahm. Es war einfach da, wie aus dem Nichts. Ein Loch, nicht viel größer als ein Miglin. Und aus dem Loch schaute ein völlig verwilderter Mensch, ein langer Bart verdeckte fast das ganze Gesicht und seine Augen blickten aufgeregt hin und her. Dann streckte er seine Hand aus und zischte: „Komm schnell hier her!“ Ich wusste nicht, wie mir geschah, ich ging nur zu ihm hin, fasste ihn an der Hand und schon hatte er mich in das dunkle Loch gezogen. Aber es war nicht nur ein Loch, denn hinter dem Eingang führte ein enger Tunnel tiefer in den Fels. Ohne es zu wissen, hatte ich die Höhlen von Ciarragh entdeckt. Doch die Gobblins waren immer noch hinter uns. Ihre wütenden Schreie drangen in mein Ohr und erfüllten mich mit einer nie zuvor dagewesenen Furcht. Wild schallten sie durch den engen Gang, wogten vor und zurück und waren dadurch überall, einfach überall. Vor uns, hinter uns, über uns – immer nah, immer da. Der Mann zog mich unbeirrt fest an seiner Hand weiter und weiter. Wir bogen nach links, wir bogen nach rechts. Ich konnte in der Schwärze der Höhle nichts sehen, aber der Mann bewegte sich mit einer Sicherheit durch die engen Gänge, so dass die Schreie und Schritte der Gobblins zurückfielen. Der Mann schob mich irgendwann in eine kleine Nebenhöhle, durch die ein Mensch geradeso passte. Ich musste ein wenig nach oben klettern, bäuchlings durch eine besonders enge Stelle kriechen, noch ein wenig klettern, und dann öffnete sich eine kleine Halle, die ich freilich nicht sehen konnte, weil alles einfach nur schwarz war.

„Hier werden sie uns nicht finden“, flüsterte der Mann und ich spürte seinen übelriechenden Atem auf meiner Wange. Er war ganz nah bei mir und legte seinen Finger auf meinen Mund, als Zeichen, dass ich ruhig sein sollte.

„Wir sind so häufig abgebogen und diese kleine Höhle ist so schwer zu finden, dass sie niemals hierherkommen werden, wenn wir nur still sind.“ Der Mann setzte sich neben mich und ich konnte an seinem schnell­gehenden Atem hören, dass er vollkommen außer Puste war. Die Schreie der Gobblins wurden immer schwächer und waren gar nicht mehr so furchtbar anzuhören. Irgendwann verhallten sie ganz.

„Wenn sie nicht aufgepasst haben, welchen Weg sie gewählt haben, kommen die nie mehr hier lebend heraus“, kicherte der Mann.

Ich war still, musste ich doch erst meine Gedanken ordnen. Wo war ich hier? Wer war dieser Mann? Was war mit mir geschehen?

Irgendwann sagte ich: „Ich bin wohl zu weit von zu Hause weggelaufen. Plötzlich waren die Gobblins da und rannten mir hinterher. Dann kamen diese Felsen, die Plattform, die Höhle, und plötzlich warst du da. Ich möchte wieder nach Hause.“ Nach einer kleinen Pause fragte ich: „Bist du ein Gesetzloser? Ein Cuirfon?“

Meine Stimme zitterte, denn meine Mutter hatte mir viel von diesen Menschen berichtet, denen kein Gesetz etwas galt, die mordeten und stahlen, wie es ihnen beliebte. „Man erzählt sich, dass sich Cuirfons in den Anhöhen von Talgarth versteckt halten. Ist das wahr?“

Die Schwärze um mich herum erdrückte mich. Ich blinzelte und wollte etwas sehen, zumindest irgendwelche Schemen und Umrisse, aber die Dunkelheit blieb undurchdringlich. Ich wusste nicht, wo ich war, konnte nicht sehen, ob und wie mich der verwilderte Mann ansah. Die Angst, die mich in der Aufregung der Verfolgungsjagd durch die Höhle kurz verlassen hatte, kroch langsam wieder herauf und griff klamm um mein Herz.

„Ein Cuirfon, ja, das bin ich. Vom Galgen konnte ich fliehen und seitdem hause ich hier in dieser Höhle. Diese kleine Halle nenne ich mein Zuhause.“ Der Cuirfon klang weder böse noch freundlich, aber seine Stimme war ganz nah.

Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, spürte ich, wie nahe er bei mir saß. Er stank, aus seinem Mund drangen üble Gerüche. Ich sah einen Mund voller verfaulter Zähne vor mir, auch wenn ich nichts sehen konnte.

„Einsam ist es hier in der Höhle.“ Sein Atem nun meiner Wange ganz nah. „Einsam hier.“

Dann spürte ich seine raue Hand auf meinem Knie. Ich rührte mich nicht, saß stocksteif da. Die Hand lag zuerst still, dann schob sie sich langsam den Oberschenkel nach oben unter meinen Rock.

„Einsam ist’s. Hatte schon lang keine Frau mehr.“ Der Klang seiner Stimme veränderte sich. Sie war nun drängend, bedrohlich. Ich rückte weg, doch er fasste mich fester an meinem Bein.

„Lass mich los“, fauchte ich und trat mit dem Fuß in die Dunkelheit.

Der Fuß traf auf etwas Weiches und ein dumpfes Grummeln verriet mir, dass ich getroffen hatte. Der Griff um mein Bein lockerte sich für einen Augenblick und ich konnte mich losreißen. Schnell stand ich auf, doch in dem Schwarz, das mich umgab, wusste ich nicht, wohin ich mich wenden sollte. Wo war der Ausgang aus dieser Halle? Blind bewegte ich mich von dem Mann fort, tapste durch die Dunkelheit.

„Bleib hier, verdammt nochmal“, hörte ich den Cuirfon hinter mir fluchen. Ich stieß gegen eine Wand und tastete mich an ihr entlang.

„Komm zurück. Ich finde dich sowieso. Hier in der Höhle hast du keine Chance. Ich finde dich.“ Sein hässliches Kichern fuhr mir in die Knochen und ließ mich schluchzen. „Da bist du also. Na, komm schon her. Ich meine es doch nur gut mit dir.“

Ich zitterte am ganzen Leib und drückte mich in eine kleine Mulde im Fels, wo ich reglos hocken blieb.

„Komm schon her. Ich weiß, dass du hier irgendwo bist.“ Das Kichern verschwand, und ich war froh, es nicht mehr hören zu müssen.

Stattdessen wurde der Cuirfon wütend. Er stand nun ganz nah vor mir. Seine Schritte streiften mich fast und ich zwängte mich noch enger in den Spalt, in dem ich saß. Der Mann wurde immer wütender und schrie und fluchte, doch irgendwann entfernte er sich schlurfend und es wurde still. Ich wagte nicht zu atmen, so still wurde es. Nichts bewegte sich, nichts regte sich. Ich hockte in der Mulde im Fels und rührte mich nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß, ohne mich zu bewegen, aber es müssen Stunden gewesen sein. Mir war zum Heulen zu Mute, aber der Schreck ließ keine Tränen zu.

Mir schien es, als wäre eine Ewigkeit vergangen, als ich wagte aufzu­stehen. Ich wusste nicht, wohin der Cuirfon gegangen war, aber es regte sich nichts. Langsam bewegte ich mich in die Richtung, in der ich den Ausgang aus der Felsenhalle vermutete. Ich ging ein paar vorsichtige Schritte, als sich eine Hand auf meine Schulter legte und mich grob packte. Mein Herz blieb stehen; alles stand still, ich konnte mich nicht bewegen.

Siegessicher kicherte der Cuirfon sein hässliches Kichern aus zahnlosem Mund. Panik ergriff mich. Sie war stärker als der Schreck und neue Kräfte beseelten mich. Ich schlug und biss um mich, kratzte und heulte. Der Mann fluchte und schrie, ich solle endlich still sein, doch ich brüllte und biss und schlug und kratzte. Die Wucht des Schlags, den mir der Mann versetzte, riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich stürzte und ehe ich mich aufrappeln konnte, hatte sich der Mann mit all seinem Gewicht auf mich geworfen. Meine Schläge machten ihm nichts aus. Ich schrie und kreischte, aber die Schreie störten ihn nicht. Er begrub mich unter seinem starken Körper, schob mir den Rock hoch und ich spürte seine grobe, raue Hand zwischen meinen Beinen. Ich schrie noch immer, weshalb er mir mit der Faust ein weiteres Mal ins Gesicht schlug. Der Schlag raubte mir all meine Kräfte und mein Schreien war nur noch ein hilfloses Wimmern.

„Bitte nicht ...“

Der Mann öffnete seine Hose und ich spürte seine Erregung zwischen meinen Beinen. Ich war zu schwach. Er presste meine Beine auseinander und wollte ... wollte ...

Da dachte ich an das kleine Messer, das ich in dem Beutel um meine Hüfte stets bei mir trug. So unauffällig wie möglich nestelte ich an dem Beutel, um ihn zu öffnen. Der Atem des Mannes ging schwer. Zu erregt war er, als dass er etwas bemerkt hätte.

Ein stechender Schmerz durchfährt mich, als er versucht, in mich einzudringen. Ich schreie, presse meine Beine ganz fest zusammen. Er flucht. Ein schneller Griff. Er versucht es wieder. Ein Schmerz wie die Hölle. Ich schreie. Die Hand fährt nach oben. Er stöhnt. Mit aller Wucht. Das Messer saust durch die Luft. Trifft das Ohr. Er stöhnt. Er schreit. Tiefer. Tiefer. Tiefer dringt das Messer in sein Ohr. Sein Körper erstarrt. Er schreit. Ein Schmerz wie die Hölle. Ich ziehe die Klinge heraus. Steche wieder. Und wieder. Wieder. Immer wieder. Spüre das warme Blut auf meinem Gesicht. Er schreit. Rollt sich von mir. Schreit. Schreit. Wirft sich in Schmerzen hin und her. Die Schreie werden schwächer, leiser. Ich spüre seinen Körper neben mir. Er zuckt. Zuckt nochmal. Dann bleibt er liegen. Ich höre ein leichtes Röcheln. Dann Ruhe. Ruhe. Ich liege auf dem Rücken, spüre den kalten Stein unter mir und endlich kommen die Tränen wieder. Sie strömen und strömen, bis mich irgendwann der Schlaf übermannt. Dem Tod so nah. Er liegt neben mir. Schwarz alles, auch der Traum. Ich schlafe.

Ich weiß nicht, wie lange ich so schlief. Als ich erwachte, war es schwarz wie immer. Alles war still. Vorsichtig tastete ich mit der Hand zum Körper des Cuirfon, um sicherzugehen, dass er auch tatsächlich tot war. Die Haut war warm, doch er regte sich nicht. Ich kroch auf dem Boden umher, suchte und suchte, bis ich endlich den Ausgang aus der Halle gefunden hatte. Ich zwängte mich durch die Engstelle, kletterte hinab, bis ich den etwas größeren Gang erreichte. Alles war dunkel, schwärzer als die Nacht. Woher waren wir gekommen, als wir vor den Gobblins geflohen waren? Von rechts oder links? Ich tastete mich an der Wand in einer Richtung entlang. Irgendwann kam ich zu einer Abzweigung. Wir kamen von rechts. Da war ich mir sicher. Oder doch von links? Alles war schwarz und ich war tief unter dem Berg begraben. Lebendig begraben. In einer Höhle, aus der es keinen Ausweg mehr gab. Wo musste ich hin? Blind­lings stolperte ich vorwärts, stieß mir den Kopf an der niederen Decke, fiel, rappelte mich auf. Ich ging und ging und schon bald hatte ich jede Orientierung und jedwede Hoffnung verloren, hier jemals lebend heraus­zukommen. Vielleicht waren die Gobblins noch irgendwo hier drinnen oder sie warteten am Ausgang auf mich. Selbst wenn ich ihn wiederfinden sollte, wäre es vergebens.

Ohne Hoffnung stolperte ich weiter, immer aufwärts, denn bei der Flucht vor den Gobblins waren wir abwärts gerannt, so viel wusste ich noch. Also wählte ich immer den Weg, der nach oben führte. Ich zwängte mich durch Stellen, durch die ein erwachsener Mensch nie passen würde, ging und stolperte immer weiter. Alles geschah wie im Traum. Ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, machten meine Füße einen Schritt nach dem anderen. Ich ging einfach.

Und plötzlich konnte ich Felsen schemenhaft erkennen. Ich sah gräuliche Umrisse. Sah den Gang vor mir. Von irgendwoher musste Licht einfallen. Ich erwachte aus meinem Dämmerzustand und neue Hoffnung durchströmte mich. Da, hoch über mir fiel ein wenig Tageslicht durch ein kleines Loch. Das Licht hatte mich wieder. Neue Kraft kroch in meinen Geist und meine Glieder – einem frischen Wind gleich blies sie Hoffnung in meine dahindämmernden Zellen. Flugs kletterte ich die Wand empor zu dem Loch, streckte den Kopf hindurch und warme Sonnenstrahlen fielen auf meine Wangen. Die Sonne war gerade aufgegangen. Weit weg vom Eingang der Höhle hatte ich wieder einen Ausgang gefunden. Nie hätte die Wärme der Sonne mehr Freiheit bedeuten können als in diesem Moment. Nie größeres Glück.

Benommen wanderte ich nach Hause, wurde von meiner Mutter em­pfangen, die vor Sorge grau im Gesicht war, hatte sie doch eine ganze Nacht lang um ihre Tochter gebangt; ich erzählte ihr alles Geschehene, ließ mich ausschimpfen, aß etwas, und dann endlich konnte ich schlafen. Ich schlief bis zum nächsten Morgen.“

Andres war kreidebleich. Zitternd blickte er Yolanda an, deren Augen feucht waren von sanften Tränen. Seine Stimme war nicht mehr als ein kaum hörbares Flüstern.

„Kurz bevor ich vor drei Jahren den Mundan überquerte, lebte ich in den Höhlen von Ciarragh, um dort Schutz vor den umherstreunenden Berskern und Gobblins zu suchen. Ich war nicht zum ersten Mal dort und kannte mich einigermaßen aus. Mit einer Fackel in der Hand suchte ich nach einer Stelle in dem Netz aus Höhlen, an der ich mir ein Quartier einrichten konnte. Schließlich entdeckte ich eine kleine Halle, die passend schien. Ich hielt meine Fackel hinein. Leere Augenhöhlen starrten mich schwarz an. Ich erschrak zu Tode und wich zurück. Doch der Mann auf dem Boden war tot, ich musste keine Angst haben. Seine Leiche war bereits teilweise verwest, er war also schon länger nicht mehr am Leben. Ich fragte mich, weshalb seine Hose heruntergelassen war, konnte aber keine Antwort darauf finden. Ich beleuchtete den Toten näher und sah die Verletzungen am Kopf. Messerstiche. Viele Messerstiche an der einen Seite des Kopfes. Es musste hier drinnen zu einem Kampf gekommen sein. Zwei Gesetzlose, die sich wegen irgendetwas gestritten hatten, dachte ich mir. Angewidert verließ ich die Felshalle und machte mir keine weiteren Gedanken.“

Er schwieg.

Yolanda schwieg.

Schließlich holte sie tief Atem. „Ich wollte dir eigentlich die Geschichte erzählen, wie ich nach Wiesenau kam.“

„Es war am Tag, nachdem ich dem sicheren Tod entwischt war, als die Bersker kamen. Noch immer erschöpft saß ich mit meiner Mutter am Esstisch unserer kleinen Hütte, die – wie die Katen der anderen Wanderarbeiter – an einem Weg, der zum Herrenhaus führte, lag. Mein Vater und mein Bruder waren irgendwo da draußen bei ihrer Herde. Bald mussten sie nach Hause kommen. Es wurde viel geweint, und meine Mutter hielt mich den ganzen Tag mit ihren rauen Händen fest, so als wollte sie mich nie mehr loslassen. Der Abend war nah und die Sonne neigte sich allmählich dem Horizont entgegen, als wir plötzlich laute Stimmen vor der Hütte hörten. Rufe, panische Schreie. Wir stürzten hinaus und sahen den Nachbarsjungen, nach Atem ringend und völlig erschöpft, durch die Angst mit letzter Kraft versehen, wie er schreiend, die Stimme überstürzend, ziellos auf dem schmalen Weg angerannt kam.

„Bersker! Die Bersker!“, brüllte er wieder und wieder.

Seine Mutter im Nachbarshaus riss die Türe auf und der kleine Junge stürzte auf sie zu, trommelte mit seinen Fäusten wie wild auf den Brustkorb der Mutter und schrie ohne Unterlass. „Die Bersker! Die Bersker!“

Aus allen Hütten strömten die Frauen und Kinder heraus und standen ratlos um den Jungen herum, der allmählich von seinen Kräften verlassen wurde und nun völlig zerstört und weinend in den Armen seiner Mutter hing. Unruhe streute sich unter die Umstehenden. Als leises Flüstern begonnen, sprang die Panik von einem zum nächsten, wurde lauter und wilder, bis die Frauen sich verzweifelt an den Haaren rissen, weinten und schrien.

Endlich schritt eine Wache vom nahegelegenen Herrenhaus ein.

„Was ist denn hier los? Ruhe!“, donnerte er mit seiner gewaltigen Stimme und augenblicklich kehrte Stille ein.

„Mein Sohn“, meldete sich die Mutter des Jungen zu Wort und zeigte dabei auf ihr inzwischen am Boden kauerndes Kind, „mein Sohn kam gerade angerannt und schrie … er schrie …“

Sie zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub.

„Na, was schrie er?“

Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen starrte die Mutter den Soldaten an. „Bersker“, flüsterte sie leise.

„Wie? Was? Kannst du nicht lauter reden?“

„Bersker.“ Ihre Stimme war brüchig, am Ende ihrer Kräfte.

„Bersker sagst du?“

Ein jeder konnte hören, wie sich Unsicherheit in die kräftige Stimme der Wache schlich. Er trat auf den Jungen zu und ging vor ihm in die Knie. Mit seiner kraftvollen Linken ergriff er das Kinn des Buben und drehte so sein Gesicht zu ihm, dass er ihm in die Augen blicken konnte.

„Also Junge. Was war los? Hast du Bersker gesehen?“

Der Bursche krümelte sich vor Angst noch kleiner zusammen, er zitterte und brachte kaum ein Wort heraus. „Herr, Bersker kommen. Sie kommen hierher. Und es sind viele, Herr. Sie haben die Felder angesteckt und das Vieh abgestochen. Alle sind tot. Sie sind alle tot da draußen!“

„Was sagst du?“

Doch bevor der Junge antworten konnte, hörten wir es alle. Stocksteif erstarrten wir. Sie kamen. Wir hörten das Geheul. Das schaurige Geheul blutgieriger Bersker. Es kam von Süden, getragen vom Wind, wehte es über die Häuser und über alle Köpfe. Mir schauderte. Eiskalt lief es mir den Rücken herunter, ich klammerte mich fest an die Hand meiner Mutter.

Zunächst waren alle ganz still. Niemand regte sich und wagte auch nur ein Wörtchen zu sagen. Ein neuer Windstoß brachte neues Siegesgeheul, neuen Blutdurst, doch jetzt lauter, näher.

Für einen winzigen Augenblick stand die Welt still, am Abgrund. Der Augenblick dauerte kürzer als ein Wimpernschlag, dann brach die Panik erneut aus. Die Menschen rannten durcheinander, schrien vor Angst, riefen nach ihren Männern und Vätern, wohlwissend, dass sie draußen auf den Weiden sind … oder waren.

Ich wollte den Gedanken nicht denken. Nein, das konnte nicht sein. Ich versteckte meine Tränen in der Schürze meiner Mutter, presste mich so fest an sie, als könnte ich in ihr Schutz finden.

Die Wache schrie: „In die Hütten! Alle in die Hütten! Verbarrikadiert euch!“

Andere Wachen kamen mit ihren schweren Stiefeln angerannt.

„Nein, nicht in die Hütte! Sie werden sie in Brand stecken! Nicht in die Hütte, Mama, bitte!“, bettelte und schluchzte ich in die Schürze, die nach dem Essen roch, das noch im Kessel über dem Feuer köchelte.

Meine Mutter wusste nicht wohin. Ziellos schwenkte ihr Blick von einer Seite zur anderen. Von der Kate hin zur weiten Steppe, die sich jenseits des Herrenguts erstreckte. Das Geheul der Bersker schwoll immer stärker an, kam näher, bald würden sie hier sein.

„Was dann?“, zischte sie voller Angst.

„In die Wiesen! Wir müssen in die Wiesen! Dort steht mir das Gras bis zur Schulter. Da können wir uns verstecken. Sie werden uns dort nicht suchen.“

Ich packte meine Mutter an der Hand und zog sie fort von all den durcheinander laufenden Frauen und Kindern und Soldaten. Wir rannten am Herrenhaus vorbei, zwischen zwei Schuppen hindurch, sprangen über einen kleinen Wassergraben und liefen über die leicht ansteigenden Wiesen, fort, nur fort.

Als wir die erste Anhöhe erreicht hatten, hielten wir an und blickten zurück. Die Bersker – ich weiß nicht, wie viele es waren: dutzende, hunderte? – überrannten die wenigen Wachen, als wären sie gar nicht da, metzelten sie nieder und stürmten weiter, bis sie die erste Hütte am Weg erreicht hatten. Fackeln flogen auf die strohgedeckten Dächer und steckten diese in kürzester Zeit in Brand. Bald standen alle Hütten in Flammen. Hell schien der Flammenschein und furchtbar war das Heulen und Toben der Bersker – das Inferno der Hölle. Diese Barbaren johlten vor den Häusern, und sobald eine der Frauen oder Kinder aus den brennenden Hütten gerannt kam, um sich vor dem Flammentod zu retten, stürzten sich diese Untiere auf sie und schlachteten sie ab. Die, die sich nicht den Berskern preisgeben wollten, verbrannten qualvoll in ihren Bretterbuden.

Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, ich konnte nicht blinzeln oder die Augen schließen. Ich sah alles und nahm alles auf, jedes Detail. Es war furchtbar.

Irgendwann wurde es still. Die Hütten und das Gehöft waren nieder­gebrannt, rauchende Balken reckten sich stumm in die kühle Nacht, die Bersker zogen weiter.

Neben mir weinte meine Mutter um ihren Mann und ihre Söhne, doch mir lief keine Träne über die Wangen. Reglos starrte ich hinunter zu den qualmenden Resten unsres Lebens und konnte nicht anders.

Meinen Vater und meine Brüder habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, was mit ihnen geschehen ist, ob sie noch leben oder ob sie tot sind. Wahrscheinlich sind sie tot. Niemand konnte sie begraben.

Meine Mutter und ich retteten uns noch in derselben Nacht über den Mundan. Wir versuchten, uns dort irgendwie über Wasser zu halten. Nahmen jede Arbeit in den Dörfern und Soldatenlager an – auch in diesem da unten – und irgendwann entschlossen wir uns, über die Berge zu ziehen und landeten so schließlich in Wiesenau.

Die Sagen von Berandan

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