Читать книгу Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021 - Jo Zybell - Страница 13
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ОглавлениеDer Auftrag
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Anfang Januar, 2522
Vier Tage später: Jahreswechsel mit den üblichen Feierlichkeiten. Am Tag darauf fuhr David zurück nach London – ohne eine Entscheidung getroffen zu haben. Das bedrückte Eve mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie schlief schlecht in dieser ersten Woche des Jahres.
Sieben Tage nach Davids Abreise saß sie in der Octoyatskuppel dem Prime, dem Botschafter und der Militär-Octoyana gegenüber. „Ein glückliches Jahr 2522 wünsche ich dir“, sagte Sir Lester Galahad. Eve sah ihn zum ersten Mal im neuen Jahr. Sie bedankte sich und wünschte ihm ebenfalls Glück.
Sattgrüne Hügel umgaben den Raum, auf den Weiden graste Vieh, und zwischen zwei Hügelketten schlängelte sich ein Flüsschen hindurch
„Es gibt da eine Aufgabe, die erledigt werden muss“, sagte der Mann, der derartige Panoramen bevorzugte. „Eine möglicherweise schwierige, in jedem Fall aber sehr verantwortungsvolle Aufgabe.“ Sir James Edinburgher neigte den Kopf auf die Schulter und musterte Eve aus schmalen Augen. Das tat er immer, wenn er entschlossen war, seinem Gegenüber eine ausgesucht harte Nuss zu servieren. „Wir dachten an Sie, Commander Barkley.“
Am Morgen, während einer Planungskonferenz für die Schottland-Expedition, hatte General Emily Proud sie gebeten, am Abend in der Octoyats-Kuppel zu erscheinen. Proud war Octoyana für Militärisches. Es ginge um ein Projekt, das der Prime und sie ihr persönlich vorstellen wollten. Danach war General Proud sofort zur Tagesordnung übergegangen, und Eve wusste, dass der Abend eine Überraschung bereithielt.
„Ich höre, Sir“, sagte sie.
„Es geht um unseren östlichen Außenposten an der Weißen Elster.“ Er schnippte mit den Fingern. „Die Karte, Winston!“
Im Monitor auf einem der Grashügel erschien ein rundlicher, junger Bursche mit altertümlichem Stahlhelm und in fleckigem Kampfanzug. „Aye, Sir! Von welcher Karte genau sprechen Sie, Sir?“
„Pardon, Winston. Mitteleuropa natürlich.“ Edinburgher – Prime der Society Salisbury – redete schnell und mit ungewöhnlich hoher Stimme. Die glattrasierte Haut seines Gesichts sah aus wie zerknautschtes, gelbliches Leder. Der Prime war klein und von drahtiger Gestalt. Angeblich lag das in der Familie. Wie üblich trug er einen schwarzen Umhang über seinem dunkelgrünen Overall. Gleichgültig zu welcher Tages- oder Nachtzeit man ihm begegnete – immer blickten seine grauen Augen hellwach, immer wirkte er straff und voller Kraft. Dabei hatte er mit seinen hundertdreiundsiebzig Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung der Escaper von Salisbury bereits seit zwei Jahren überschritten.
Eve liebte ihren Prime nicht, aber sie hatte großen Respekt vor ihm.
In Edinburghers geliebten Grashügeln tat sich ein weiterer Monitor auf. Er zeigte die Topografie einer aktuellen Landkarte von Europa: Küstenlinien, Flussläufe, Waldflächen, Ruinengebiete und, als rote Punkte, die wenigen bekannten menschlichen Ansiedlungen. Dazwischen grau unterlegte Flächen – Gebiete, die noch nicht erforscht und deswegen nach Vorlagen von Karten aus dem zwanzigsten Jahrhundert und den Jahren vor „Apokalyptos“ gezeichnet waren. Genau genommen bestand die Karte zu mehr als achtzig Prozent aus grau unterlegten Flächen.
Der Prime drehte sich nach dem Bildschirm um. „Es geht konkret um eine Expedition von hier nach da.“
Während er auf die Karte deutete, blinkte erst die roséfarbene Fläche der Ruinen Londons und dann, jenseits des Kanals und etwa fünfhundertfünfzig Meilen weiter östlich, ein roter Punkt auf. Eve identifizierte ihn sofort als eine Großstadt des ehemaligen Deutschlands: Leipzig.
Neben Psychologie und Philosophie hatte sie Geographie studiert – präapokalyptische Geographie, um es genau zu sagen – die Lage der urbanen Zentren aus der Zeit vor dem Asteroiden war ihr gegenwärtig. „Zu unserer neuen Forschungsstation bei Leipzig?“, fragte sie.
„So ist es, Commander Barkley.“ Edinburgher nickte. „Acht der sechzehn Besatzungsmitglieder werden im nächsten Sommer über zwei Jahre lang dort gearbeitet haben. Sie müssen abgelöst werden. Außerdem brauchen unsere Leute Proviant und Material, das Übliche eben. Und das Wichtigste: Wir brauchen die Arbeitsergebnisse der vergangenen zwölf Monate. Die Forschungsarbeiten über den Asteroiden treten seit Jahren auf der Stelle.“
Der Forschungsbunker war ein Gemeinschaftsprojekt und je zur Hälfte mit Wissenschaftlern aus London und aus Salisbury besetzt. Vor zweieinhalb Jahren, im Frühjahr 2519, hatte eine Expedition unter Commander Terrence Holden südlich von Leipzig einen verlassenen Bunker entdeckt und ausgebaut. Acht Männer und Frauen ließ er anschließend zurück, acht weitere brachte er ein Jahr später, im Juni 2520, nach Leipzig.
„Wäre London nicht an der Reihe, den Kommandanten für ein gemeinsames Unternehmen zu stellen?“ Eve beschlich das Gefühl, dass der Prime noch nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hatte. „General Kobayashi achtet in der Regel doch streng auf Parität, was diese Dinge betrifft.“
„Kobayashi ist diesbezüglich ein wenig in Verlegenheit“, ergriff Lester Galahad das Wort. General Charles Draken Kobayashi war der Militär-Octoyan der Society London. „Selbstverständlich haben wir das bevorstehende Projekt mit ihm und dem Londoner Octoyat besprochen, Eve. Ich kam gestern erst von der Themse zurück. Mit dem Dragon übrigens, mit dem zuvor Major Emerson nach Hause zurückgekehrt war.“
Sir Lester sprach mit einer tiefen, volltönenden Stimme. Wie meist wirkte sein kantiges Gesicht hart und ernst. Stirn und Wangen waren zerfurcht, dicke tiefblaue Adern maserten seinen kahlen Schädel. Die roten Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten etwas Stechendes. Sein genaues Alter war unbekannt. Eve schätzte ihn auf über hundert, andere behaupteten, er sei noch nicht einmal neunzig Jahre alt. Galahad gehörte dem Octoyat von Salisbury als Berater an. Stimmrecht besaß er nicht, und Befehlsgewalt schon gar nicht. Doch die hatte in Salisbury ohnehin nur der Prime.
„Kobayashis Problem: Er verfügt über genau drei expeditionserfahrene Kommandeure. Zwei davon, Curd Ashbone und Benjamin Rudolph, brechen in Kürze mit zwei Dragons zur Society Leeds auf. Das Octoyat von Leeds hat uns um Hilfe bei der Suche nach Rohstoffen im schottischen Hochland gebeten, ein zeitaufwändiges und wegen der Newbarbarians im Norden auch nicht ungefährliches Projekt. Außerdem müssen die neusten technischen und wissenschaftlichen Daten abgeglichen werden. Und der dritte Kommandeur, Captain Kathrin Mouse, ist mit Commander Holden in Nordeuropa unterwegs, wie du weißt.“
„Wann soll es losgehen?“, fragte Eve.
„Sobald die beiden neuen Dragons aus der Londoner Werft rollen“, sagte Sir James Edinburgher. „Spätestens Ende März.“
„Neue Dragons?“ Eve runzelte die Stirn. „Und Sie wollen gleich zwei Tanks nach Osten schicken?“ Das war ungewöhnlich für eine Expedition. Einmal verfügten die Societies im Moment nur über insgesamt neunzehn dieser Erd-Wasser-Luft-Panzer – sechs davon standen in den unterirdischen Hangars von Salisbury – und zum anderen konnte jedes einzelne dieser Fahrzeuge sich in eine Festung verwandeln, deren Feuerkraft kein potentieller Gegner etwas entgegen zu setzen hatte; jedenfalls keiner der bekannten potentiellen Gegner. „Verzeihen Sie, aber das kommt mir ein wenig übertrieben vor“, sagte Eve an den Prime gewandt.
„Da mögen Sie Recht haben, Commander Barkley.“ Nun schaltete die Militär-Octoyana General Emely Proud sich ein. „Es ist nur so, dass die Londoner auf den Einsatz der neuen Geräte bestehen. Sie betrachten die Expedition als gute Gelegenheit, um Daten zu sammeln, auf deren Grundlage man das System nach der Rückkehr optimieren kann.“ Die zierliche Frau mit der blauschwarzen Kurzhaarperücke zuckte mit den Schultern. „Dagegen lässt sich nichts einwenden.“
„Was ist neu an den Tanks?“, wollte Eve wissen.
„Zum Beispiel sind die Frontkuppeln verstärkt und mit neuer Bildtechnik ausgerüstet worden“, erklärte die Generalin. „Die Teleskoplamellen zwischen den Segmenten sind elastischer und erlauben einen engeren Wendekreis. Die Laser-Sensoren-Navigation für unübersichtliches Gelände wurde entscheidend verbessert. Die Wahrscheinlichkeit von Kollisionen beträgt jetzt weniger als 0,1 Prozent. Die Titan-Carbonat-Legierung für die Außenkarosserie wurde mit einem neu entwickelten Molekurlarverdichter behandelt. Dadurch gewinnt sie an Festigkeit, und das gesamte Fahrzeug wird dennoch um eine halbe Tonne leichter. Und so einiges mehr.“
„Ein wunderbares Gerät, Eve!“, bemerkte Galahad. „Ich habe es mir zeigen lassen, als ich jetzt in London war – es ist wie eine fliegende Miniaturbunkerstadt. Jeder, der es zum ersten Mal steuern darf, kann sich jetzt schon glücklich schätzen.“
„Nun ja“, knurrte der Prime. „Unsere bisherigen Geräte sind auch nicht schlecht, möchte ich meinen.“
„Warum aber sollen gleich zwei dieser Miniaturbunker nach Leipzig schwimmen und fliegen?“ Die Ausführlichkeit, mit der man ihr die Schokoladenseite des Projekts verkaufte, sprach nach Eves Eindruck für ein besonders schmutziges Haar in der Suppe. Wie gesagt: Sie war eine misstrauische Frau.
Drei oder vier bedeutsame Sekunden lang fühlte sich keiner ihrer drei Vorgesetzten für die Antwort zuständig. Bis endlich Emily Proud das Wort ergriff. „Sie wissen, dass Commander Holden sich vor spätestens zwei Monaten hätte zurückmelden müssen.“
Terry Holden gehörte zur Society-Force von Salisbury. Außer ihm und seiner Besatzung hatte noch niemand den Weg nach Leipzig bewältigt; niemand in London und niemand in Salisbury.
Nur wenige Jahre älter als Eve trieb auch er sich gern in unerforschten Gegenden herum. Im Frühjahr 2521 war er mit einem Dragon und sieben Besatzungsmitgliedern von Leipzig aus nach Skandinavien aufgebrochen, um Kontakte zu möglichen Bunkerkolonien in den zerfallenen deutschen und skandinavischen Metropolen zu knüpfen und Informationen über die rätselhaften kristallinen Asteroidentrümmer zu sammeln.
„Sein letzter Funkspruch erreichte uns Anfang Juli letzten Jahres.“ General Prouds Miene schien Eve jetzt deutlich ernster als zuvor. „Zu dieser Zeit befand sich Holdens Fahrzeug auf dem Rhein, und zwar ziemlich exakt in der Mitte zwischen dem einundfünfzigsten und dem zweiundfünfzigsten Breitengrad. Zwei Wochen später brachte einer seiner Späher uns ein Zwischenprotokoll mit Bild- und Tonmaterial. Diesen Bericht verfasste Holden in den Ruinenwäldern des Ruhrgebiets. Er kündigte darin einen zweiten Vogel für Ende August an. Wir haben den Späher mit einer Empfangsbestätigung zurückgeschickt. Doch seitdem haben wir nichts mehr von Holden gehört – weder gab es weiteren Funkkontakt, noch kam je ein zweiter Späher hier an.“
Das Schweigen über Funk schien Eve noch kein Indiz für eine Havarie oder Schlimmeres zu sein. Die Störstrahlung der Asteroidentrümmer – die sogenannte M-Strahlung – beeinträchtigte manchmal sogar den Funkkontakt nach London. Über weite Entfernungen verhinderte sie praktisch jeden Datenaustausch. Nur selten war es bisher gelungen, über Funk mit Leeds oder gar mit einer Bunkerkolonie auf dem Festland zu kommunizieren. Aber dass der Informationsaustausch über Späher versagt haben sollte ...?
„Das klingt nach Schwierigkeiten“, sagte Eve. In London und Salisbury benutzte man speziell dressierte Kolks als Späher und Boten. Längere Expeditionen führten in der Regel drei bis vier solcher intelligenten Rabenvögel in einem septischen Heckverschlag mit sich. „Späherverluste sind selten. Und selbst wenn ein ausgesandter Vogel verloren gegangen wäre – Terry hätte aus der ausbleibenden Bestätigung darauf geschlossen und einen anderen geschickt.“
„So ist es üblich, ja.“ Die Proud seufzte und machte ein bekümmertes Gesicht. „Es wäre furchtbar, wenn Commander Holden und seinen Leuten etwas zugestoßen wäre. Ich will gar nicht an diese Möglichkeit denken!“
In Salisbury kannte und schätzte man den weiblichen General und die Militär-Octoyana dafür, dass sie sich für jeden einzelnen Angehörigen der Society Force verantwortlich fühlte und bis in die persönlichen Angelegenheiten über die Schwächen und Stärken ihrer Untergebenen Bescheid wusste. Wie eine Mutter behandelte und förderte die Proud ihre Leute. Eve fragte sich oft, wie man so viel Gefühl zeigen und trotzdem so weit nach oben kommen konnte.
„Wir können sie aber nicht ganz ausschließen, immerhin sollte Terrence Holden spätestens im Herbst vergangenen Jahres zurück sein“, sagte Emily Proud. „In jedem Fall müsste die nächste Leipzig-Expedition in die Ruhrgebietsruinen vordringen und an seinem letzten bekannten Standort nach seinen Spuren suchen.“
„Mit anderen Worten: Der Auftrag könnte gefährlich sein“, schaltete der Prime sich wieder ein. „Das würden Sie aber erst unterwegs merken – falls sie das Kommando übernehmen, Commander Barkley.“
„Ich habe eine Wahl?“
„Nun, seit Holden überfällig ist, halten wir Expeditionen aufs Festland für risikoreicher als bisher“, sagte Sir James Edinburgher. „Wir wollen das Risiko niemandem aufzwingen. Es wäre natürlich schade, wenn Sie Nein sagen, denn keiner außer Holden hat so viel Erfahrung auf unbekanntem Terrain wie Sie, Commander Barkley. Wenn Sie ablehnen, bliebe das selbstverständlich unter uns Vieren. Ihr Ruf würde also nicht besonders leiden.“
„Das Schottlandprojekt würde einfach wie bisher mit Ihnen als Kommandantin weiterlaufen“, sagte die Proud. „Wenn Sie allerdings nach Leipzig fahren, müssten wir einen Nachfolger für Sie suchen.“
„Und meine Besatzung? Ebenfalls Freiwillige?“
„Vier Austausch-Wissenschaftler bestimmen wir, vier die Society London“, sagte Sir Leonard. „Statt die obligatorischen acht Besatzungsmitglieder pro Maschine werden aus Platzgründen in diesem Fall vier Mann auf jedem Dragon Dienst tun. Der Kommandant und sieben Männer und Frauen seiner Wahl.“
Seit sechsundvierzig Jahren arbeitete Lester Galahad als militärischer und wissenschaftlicher Berater für die Society-Regierung, seit Edinburgher Prime war. In der Bunkerkolonie war man sich nicht einig über Galahad – die einen verehrte ihn, die anderen rieben sich an ihm. Eve gehörte zum Lager der Lester-Verehrer. Die Familien Barkley und Galahad waren seit Generationen freundschaftlich verbunden.
„Einer muss den Auftrag übernehmen, so oder so“, sagte der Mann mit den uralten Augen. „Die Männer und Frauen in Leipzig müssen abgelöst werden, und die noch ein weiteres Jahr bleiben, brauchen Nachschub. Da führt überhaupt kein Weg dran vorbei. Und dass wir bei der Gelegenheit Holdens letzte Position nach seinen Spuren absuchen, liegt nahe.“
„Davon abgesehen brauchen wir neue Forschungsergebnisse über die Asteroidenkristalle“, sagte der Prime. „Seit Jahrhunderten suchen wir nach einem Zusammenhang zwischen ihnen und der Degeneration des Lebens auf der Erdoberfläche und sind noch keinen Schritt weiter gekommen.“
„Bitte, Eve, übernimm das Kommando.“ Sir Lester sah sie an, und sein zerfurchtes Gesicht war eine einzige Bitte. Wie weich die Augen dieses harten Mannes werden konnten! Eve kannte seine Geschichte nur aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern: Auf einer Festlandexpedition war er vor mehr als fünfzig Jahren einer jungen Barbarin begegnet und hatte sich mit ihr gepaart. Damals gehörte er noch dem Octoyat von Salilsbury an. Wie zu erwarten infizierte er sich und erkrankte schwer, überlebte aber aus irgendeinem Grund. Manche ältere Society-Mitglieder verziehen ihm das bis heute nicht. Jedenfalls schloss Edinburghers Vorgänger ihn aus dem Octoyat aus.
„Bitte, Commander Barkley“, sagte nun auch die Proud. „Es ist ein wichtiger Job, und niemand ist so gut dafür geeignet wie Sie!“
„Selbstverständlich stehen Ihnen sämtliche Dateien Holdens zur Verfügung“, sagte Sir James. „Die alten Berichte über die erste Leipzig-Expedition genauso, wie die wenigen Daten, die uns im Juli letzten Jahres mit seinem letzten Späher erreichten.“
Eve sah einen nach dem anderen an. Danach stand sie auf, trat an die Kuppelwand und betrachtete die Karte. Die grau unterlegten Flächen machten ihr keine Angst, im Gegenteil – die zogen sie an. „Ich könnte also zum Beispiel die Besatzung meines Dragons mitnehmen?“
„Nur drei deiner Leute, Eve“, antwortete Lester Galahad. „Und du kannst die Männer und Frauen auch nur vorschlagen – wenn die Leute abwinken, werden wir niemanden zwingen.“
„Die Hälfte Ihrer Mannschaft muss allerdings aus Londonern bestehen“, warf der Prime ein. „Sie kennen ja die Regeln.“
„Verstehe ...“ Mit den Augen zog Eve eine Linie zwischen London und Leipzig. Auch die Entfernung war nicht das Problem – fünfhundert oder sechshundert Meilen waren in wenigen Tagen zu schaffen. Doch die Schwierigkeiten, die so eine Expedition zwangsläufig mit sich bringen würde, der Abstecher in die Ruinenstädte des Ruhrgebiets und die Konsequenzen, die er nach sich ziehen konnte, und schließlich der Aufenthalt im Bunker an der Weißen Elster – all das würde Zeit beanspruchen, viel Zeit. Eve schätzte, dass sie mindestens zwei Monate unterwegs sein würde.
Zwei Monate ohne David ...
„Ich müsste darüber schlafen“, sagte sie, und plötzlich war ihr, als hörte sie Davids Stimme: Ich brauche Zeit zum Nachdenken, okay? Sie drehte sich um und blickte dem Prime ins Gesicht. „Ja, ich bräuchte ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken ...“
*
Die Nacht wurde lang. Zwei Stunden lang wälzte Eve sich von einer Seite auf die andere. Irgendwann stand sie auf und begann an der Wand ihres Kuppelraumes entlang zu wandern. Unter dem prachtvollen Sternenhimmel der Panoramakulisse drehte sie Runde um Runde. Das Karussell in ihrem Schädel kam allmählich zur Ruhe.
Manchmal blieb sie in der Mitte des Raumes stehen und blickte zum Kuppelzenit hinauf, wo Andromeda strahlte. Sie dachte an die neuen Dragons, sie dachte an Terry Holden, sie dachte an David, und die Gesichter einzelner Männer und Frauen erschienen vor ihren inneren Augen. Angenommen, Sie würde Ja sagen – wen würde sie mitnehmen?
Lange nach Mitternacht setzte sie sich vor ihre Konsole und ließ sich mit der Zentralhelix verbinden. Holdens Expeditionsprotokolle vom Juli 2021 waren nicht nur erfreulich knapp und präzise formuliert, sie enthielten auch keinerlei Anhaltspunkte für ernsthafte Schwierigkeiten. Die Überquerung des Kanals schien eine Angelegenheit von einer Stunde zu sein. Am stark veränderten Küstenverlauf des Festlands hatte die Ortung vereinzelte Schiffe registriert. Auf Funksignale gab es keine Reaktion, weder aus den Ruinen Antwerpens, noch Düsseldorfs, noch sonst von irgendjemandem.
Weiter nach Süden vorzudringen – über Köln und Bonn bis zu den Ruinen Frankfurts beispielsweise – hatte außerhalb von Holdens Mandat gelegen. In der Mitte zwischen dem einundfünfzigsten und zweiundfünfzigsten Breitengrad verließ seine Expedition daher den Rheinlauf, nahm Kurs nach Westen und durchquerte die südlichen Ruinenwaldausläufer des Ruhrgebiets, also Überreste ehemaliger Städte wie Duisburg, Essen und Bochum. Auch hier keine Reaktionen auf Funksignale. Bunkerkolonien schien es in dieser einst dicht bevölkerten Gegend nicht zu geben. Erstaunlich eigentlich.
Dafür dokumentierte der Bericht die Lage einiger Siedlungen von Newbarbarians in den Ruinen und Wäldern an den Ufern der Ruhr. Sie lagen weit verstreut und zählten jeweils nur wenige hundert Köpfe. Das Bildmaterial zeigte ein paar Dutzend Exemplare dieser wilden Menschen. Die Newbarbarians auf dem Festland unterschieden sich im Wesentlichen kaum von den Stinkern in den Ruinen Londons, und die wenigen Zeilen über Begegnungen mit ihnen lasen sich zum Teil wie alte Mythen über angebliche Begegnungen zwischen Primitiven und Göttern. Holdens Bericht enthielt keinerlei Hinweise auf Feindseligkeiten. Im Gegenteil: Die Geschenke aus den Produktionsabteilungen der Societies – vor allem Eisenwaren und Textilien – zähmten selbst die aggressivsten Barbaren.
Eve rief die Dateien mit Holdens Berichten seiner beiden Leipzig-Expeditionen auf die Kuppelwand und sah sie durch. Die Bilder und Protokolle erinnerten sie an ihre eigenen Vorstöße an die Küste von Wales, in die Gebirgswildnis von Zentralengland und zu den Ruinen Newcastles an der Nordseeküste.
Der Weg nach Leipzig führte zwischen dem einundfünfzigsten und zweiundfünfzigsten Breitengrad fast schnurgerade ins Festland hinein über ausgedehnte Wälder und durch wilde Flusslandschaften. Das Bildmaterial enthielt nichts Aufregendes: Spuren von Ruinen hier und da, hin und wieder Feuerstellen und Fellplanen von Unterschlüpfen wandernder Nomaden, und in der Gegend des ehemaligen Kassels sogar gerodete Wälder und Hornerherden auf eingefriedeten Weiden.
Holden und seine Leute hatten keine Kontakte gesucht. Auch nicht mit den Bewohnern der kleinen Siedlung von Ackerbauern, die sich in den Ruinen Leipzigs entwickelt hatte, obwohl sie vermutlich eine frühmittelalterliche Kulturstufe erreicht hatten und Eisen verarbeiten konnten. Im Frühjahr 2519 war Holden konsequent einem Funksignal gefolgt, das sein Aufklärer südlich von Leipzig angepeilt hatte. Der Rest war Geschichte: Sie fanden einen verlassenen Bunker, dessen Rechner das Funksignal aussandte, Terry Holden setzte die Anlage instand und baute sie zu einer Forschungsbasis aus.
Grübelnd hockte Eve vor ihrem Terminal. Das Gesicht in die Fäuste gestützt starrte sie in die glühende Spirale. Ihre Gedanken kreisten um Terrence Holden und seine Leute. Terry und die anderen drei aus Salisbury kannte sie gut. Sie war mit diesen Menschen groß geworden. War ihre Expedition möglicherweise schon in den Ruinenwäldern an der Ruhr gescheitert?
Es reizte sie, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Auch hatte sie Lust, die Barbarenstämme des ehemaligen Ruhrgebiets persönlich kennen zu lernen. Und natürlich zog die Ferne sie an – allein schon der Gedanke den Bunker zu verlassen und für ein paar Wochen auf der Erdoberfläche zu verbringen ...
Noch unwiderstehlicher aber zog sie ein Mann namens David Emerson an.
Das Karussell in ihrem Kopf begann aufs Neue zu rotieren. In Gedanken versunken rief Eve die Johanna-Dateien auf und schmökerte in den Aufzeichnungen ihrer Urahnin herum; völlig unsystematisch, mal am Ende, mal am Anfang, mal in der Mitte – geradeso, als hoffte sie eine Entscheidungshilfe darin zu finden.
Joan Barkley schien eine wagemutige Frau gewesen zu sein. Kein Risiko und keine Strapaze scheute sie, um auf den Kriegsschauplätzen der Erde fotografieren zu können. Dabei hatte sie alles, was man für ein bequemes Leben brauchte: Geld, Ansehen und einen Mann, der eine wichtige Rolle im britischen Regierungsapparat spielte. In einer Notiz des Jahres 2017 hieß es: Ja, auch ich liebe das Erhabene, das Schöne, auch ich würde lieber attraktive Menschen in der Blüte ihres Lebens fotografieren, Tiere in idyllischer Natur, Landschaften, wohlgeformte Körper, ästhetisch hochwertige Motive. Stattdessen lichte ich das Hässliche ab – den Krieg, die Armut, den Tod. Warum tue ich mir und der Welt das an? Weil ich will, dass die Menschheit anschauen muss, was sie anrichtet: Krieg, Zerstörung und Armut; dass sie solange anschauen muss, was sie anrichtet, bis sie lernt es zu hassen, bis sie anfängt dafür zu sorgen, dass es von der Erdoberfläche verschwindet ...
Die Sätze verblüfften Eve. Eine Idealistin? Ich bin wie die Esther der jüdischen Überlieferung, hieß es an einer anderen Stelle. Wie sie sage ich mir: Komm ich um, so komm ich um, überlebe ich, habe ich das Optimale getan.
Eve war erschüttert, als sie herausfand, dass ihre Urahnin den schon sicheren Bunkerplatz in London verlassen und den Asteroideneinschlag vermutlich draußen erlebt hatte. Warum das? Und warum London? Bis jetzt war Eve davon ausgegangen, dass ihre Vorfahren die Katastrophe im Bunker von Salisbury überlebten. Wie sonst sollten Joan Barkleys Aufzeichnungen in die Datenbanken des Zentralhirns gelangt sein?
Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage, fand Eve ein paar Hinweise auf das Privatleben ihrer Urahnin. Johanna hatte den dreizehn Jahre älteren Louis Barkley Ende der neunziger Jahre kennengelernt, als sie ihn für ein Wirtschaftsmagazin fotografierte. Die Ehe schien nur die ersten zwei Jahre glücklich gewesen zu sein.
Um die beiden Kinder aufziehen zu können, hatte sie ihren Beruf eine Zeitlang an den Nagel gehängt. Unterschiedliche politische Standpunkte entfremdeten sie Anfang des neuen Jahrtausends noch weiter von ihrem Mann. Ihr erster Auftrag als Fotografin führte sie im Jahre 2010 nach Bagdad. Im Sommer 2015 schrieb sie in ihr Tagebuch: Manchmal frage ich mich, ob ich in Wahrheit womöglich nur deswegen mit der Kamera um den Globus reise, um möglichst weit weg von Lou sein zu können ...
Eve musste lachen, als sie das las. Sie dachte an den Mann, dem sie gar nicht nahe genug sein konnte. Zwei oder drei Monate ohne David? Ausgeschlossen!
Sie ging ins Bett und schlief tief und traumlos. Zum ersten Mal im neuen Jahr.
Am nächsten Morgen ließ sie sich in den Privaträumen des Primes melden. Sir James empfing sie in seinem Lesesessel. Ein zerlesenes Buch lag auf seinen Schenkeln, als Eve das Panorama einer irischen Flusslandschaft betrat. Er lächelte sie an, und Eve wusste, dass er ihre Antwort schon gestern Abend gekannt hatte.
„Ich nehme den Auftrag an, Sir“, sagte sie. „Und als Kommandant des zweiten Dragons schlage ich Major David Emerson vor.“