Читать книгу Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021 - Jo Zybell - Страница 19

7

Оглавление

Die Kupplerin

––––––––


Anfang Februar, 2522

Der Datenträger trug das Symbol des medizinischen Labors und Courtney Rubens’ Kürzel; dabei enthielt er lediglich ein Datum und eine Uhrzeit. Nichts also, was Courtneys Ausflug ins Kasino des Octoyatssegments gerechtfertigt hätte. Sie legte ihre Handfläche auf den Sensor der Kuppelwand. „Ich habe eine wichtige Information für Captain Stallone.“

Der Haupteingang in das Regierungssegment schob sich auf. „Ich weiß, Dr. Rubens“, sagte der E-Pförtner, eine braungebrannte Männeranimation in roter, goldbetresster Uniform und mit hohem Helm aus Straußenfedern. „Eddy hat Sie angekündigt. Man wird sich doch hoffentlich keine ernsten Sorgen um seine Gesundheit machen müssen?“

„Nein.“ Himmel – sogar dem E-Pförtner hatte er die Geschichte aufgetischt! „Um Captain Stallone braucht sich niemand Sorgen zu machen!“ Eine zwölf Meter durchmessende Kuppel in Mahagoni-Animation öffnete sich vor Courtney, das Octoyats-Foyer – sie trat ein. So leicht ging das also?

Courtney musste schmunzeln. War Stallone wirklich derart scharf auf sie, dass er unter den Augen der Prime und des Generals ein solches Spielchen abzog? Unglaublich! Immerhin war der Zutritt zum Regierungssegment ausschließlich der Königsfamilie, den Octoyans, hohen Militärs und geladenen Gästen gestattet; und in Notfällen Ärzten natürlich. Nur zu öffentlichen Regierungserklärungen oder besonderen Festlichkeiten – wie dem Geburtstag des Königs zum Beispiel – versammelte sich die gesamte Society in der Zentralhalle des Regierungssegment, der sogenannten Octoyats-Arena.

In der Kuppelwand des Foyers leuchteten Projektionen von Öl-Porträts vor der Mahagoni-Täfelung: Ein paar ernste, ein paar versteinerte und wenige lächelnde Mienen blickten auf Courtney herab: die Windsors, die letzten Royals, die noch auf der Erdoberfläche im Buckingham Palace residiert hatten.

Unter dem Porträt einer blonden Frau ihres Alters verlangsamte Courtney ihren Schritt. Drei oder vier Mal war sie bisher in diesem Raum gewesen, und jedes Mal hatte dieses Gesicht ihre Aufmerksamkeit erregt. Diana, Princess of Wales, las sie auf der Goldprägung am unteren Bildrahmen, * July 1, 1961, Sandringham, Norfolk, † Aug. 31, 1997, Paris.

Es war schon zwei Jahre her, dass Courtney zum letzten Mal unter dem Porträt vorbeigegangen war, und diesmal berührte sie weniger der Geburtstag, den sie und diese Prinzessin aus den Goldenen Zeiten vor „Apokalyptos“ gemeinsam hatten, sondern die Tatsache, dass sie im Sommer so alt werden würde, wie die Prinzessin gewesen war, als sie starb.

In der Society galt man mit sechsunddreißig noch fast als halbwüchsig. Die meisten von Courtneys Altersgenossen studierten noch, und in der Society-Force war sie die jüngste Offizierin.

Sie schüttelte kurz den Kopf, als wollte sie die Beklemmung vertreiben, die sich plötzlich auf ihre Brust legte. Schön war sie gewesen, diese Frau, nur eine andere Perücke hätte sie ihr empfohlen. Warum sie wohl so jung gestorben war? Courtney nahm sich vor, die Biographie der Prinzessin aus der Vorzeit gelegentlich in den Datenbanken zur Vorgeschichte der Societies zu recherchieren.

Links und rechts des Bogenportals ins Oktoyats-Kasino standen zwei Messingkübel mit blühendem Oleander – synthetisch natürlich – und neben den Pflanzen hingen zwei hohe Spiegel in vergoldeten Barockrahmen. Vor einem blieb Courtney stehen und strich ihren weißen Labormantel glatt.

Stallone hatte dem E-Pförtner erzählt, dass Lieutenant Dr. Rubens wichtige medizinische Befunde vorbeibringen würde, und dem unwilligen Kobayashi gegenüber würde er gewisse Infektionssymptome andeuten und durchblicken lassen, dass er Lieutenant Dr. Rubens gebeten habe, ihm die Ergebnisse seiner Blutsenkung und seiner Blutkultur persönlich vorbei zu bringen, sobald sie vorlägen. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit.

Kobayashi würde knurren, aber keine weiteren Fragen stellen. Jeder hielt selbst die entferntesten Symptome eines Infekts für die Ouvertüre einer Katastrophe, und jeder wusste, dass Courtney im medizinischen Labor arbeitete. Schwierigkeiten waren also nicht zu erwarten.

Wie alle Offiziere der Society-Force hatte sie neben der militärischen eine zivile Ausbildung absolviert. Auch Angehörige der Society-Force mussten sich in der Bunkerstadt irgendwie nützlich machen. Courtney hatte Medizin und Biochemie studiert. Ihre Spezialgebiete: Labordiagnostik und Pharmakologie.

Sie öffnete die bunten Glasknöpfe ihres Labormantels, zog den Reißverschluss des schwarzen Overalls, den sie darunter trug, bis zum Ansatz ihres Busens herunter und verlegte den dicken Zopf ihrer blonden Perücke vom Rücken auf die Brust. Sie hätte selbst nicht genau sagen können, was sie hierher trieb. Sie wusste nur, dass sie die Expeditions-Crew aus Salisbury sehen wollte; unbedingt; vor allem die Kommandantin.

Stallone hatte sich den Trick mit den Befunden natürlich bezahlen lassen. Oder würde ihn sich noch bezahlen lassen. Datum und Uhrzeit auf dem Datenkristall, waren Datum und Uhrzeit für ein Abendessen in seiner Privatkuppel, das sie ihm gewähren musste. Sie fürchtete sich nicht davor. Stallone war nicht der Erste, der sie begehrte. Sie würde sich ihn so erfolgreich vom Leibe halten wie die meisten anderen. Lieutenant Dr. Rubens war eine überaus wählerische Frau.

Mit Handflächenkontakt öffnete sie die Luke ins Kasino. Der E-Pförtner hatte ihre Handflächensignatur also registriert. Lächelnd und erhobenen Hauptes trat sie ein. Da saßen sie vor dem Panorama einer Parklandschaft und unter den Kronen gewaltiger Linden an einem runden Kunstglastisch und tafelten – der König, der General, die Prime, der Chefingenieur, die acht Offiziere der geplanten Leipzig-Expedition und der einzige wissenschaftliche Expeditionsteilnehmer, der bereits feststand: John Cox, Professor für Ethnologie und Anthropologie. Einen halben Kopf größer als der muskelbepackte Stallone wog er fast dreihundert Pfund, weswegen er vor allem unter jüngeren Bürgern der Bunkerstadt „Doc Doubleman“ genannt wurde. Seit seinem hundertfünfzigsten Geburtstag trug er eine weißhaarige, strähnige Perücke. Er hatte sich um die wissenschaftliche Leitung der Expedition beworben. Das Oktoyat hatte ihm die wissenschaftliche Leitung der Expedition übertragen – Cox war ein genialer Forscher – machte ihm aber eine Diät zur Bedingung. Bis zum Beginn der Expedition musste Doc Doubleman mindestens fünfzig Pfunde abnehmen.

Aus medizinischer Sicht begrüßte Courtney diese Klausel – Cox’ Blutfettwerte trieben jedem Arzt die Tränen in die Augen – aus menschlicher bedauerte sie ihn: Sie war mit ihm befreundet, und liebte den bedenkenlosen Genießer an ihm.

Der König schwärmte mal wieder von seinem Lieblingsprojekt – vom Wiederaufbau Westminsters und Teilen der Londoner City in keimfreier Biosphäre unter einer Titanglaskuppel – die anderen beschäftigten sich mit dem Gemüse und den Sojaknödeln auf ihren Tellern und hörten mehr oder weniger aufmerksam zu; die Prime mit süß-säuerlicher, der General mit unverhohlen mürrischer Miene.

Stallone erhob sich und kam Courtney entgegen. Der König verstummte für einen Augenblick und nickte ihr lächelnd zu. Cox, dem Courtney regelmäßig ihr Herz ausschüttelte, winkte. Die anderen betrachteten sie neugierig, Major David Emerson mit hochgezogenen Brauen. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Courtney hielt den Atem an. Doch schon im nächsten fuhr ihr ein Stich durchs Herz, denn links des Majors saß Lilly Fletcher – ihr sonst fahles Vollmondgesicht war rosig, und ihre Augen leuchteten unnatürlich – und rechts von ihm sie: Die Kommandantin. Eine schmale, drahtige Frau von herber Schönheit.

Widerwillig gestand Courtney es sich ein. Ja, schön war sie, und etwas Unbeugsames, Würdevolles ging von ihr aus. Dabei trug sie nur einen schlichten Overall aus cremefarbenem Vlies; geschweige denn, dass sie sich mit einer Perücke dekoriert hatte.

„Es wird doch alles in Ordnung sein, Doc?“ Stallone schielte auf den Datenträger. Seine Mundwinkel zuckten, als würde er ein Grinsen unterdrücken. Und wie gestelzt er redete – ein lausiger Schauspieler. „Muss ich mich erst setzen, oder haben Sie ...“

„... gute Nachrichten habe ich, so ist es, Captain Stallone.“ Sie reichte ihm den Kristall. Über seine Schulter hinweg sah sie den Triumph auf Lillys breitem Mädchengesicht; und den Stolz! Triumph, zur Crew zu gehören, Stolz, neben dem Major zu sitzen. „Alles im Normbereich, ohne Befund. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Courtney hatte die Stimme gesenkt, doch nicht zu sehr: An der Tafel sollte man sie ruhig hören. Die Prime runzelte die Stirn, und Major Emerson, das Kinn auf die Faust gestützt und den interessierten Zuhörer in Richtung König mimend, betrachtete sie aus den Augenwinkeln; verstohlen irgendwie, aber sie sah es genau. Hoffentlich sah Lilly es auch.

„Himmel, Doc, da bin ich ja gottfroh!“ Stallones Augen glitzerten lüstern. „Danke!“ Er trat näher und wollte ihre Hand fassen, doch sie wich ihm aus.

„Nenn mich nicht Doc!“, zischte sie und fügte laut hinzu: „Sie müssen sich nicht bedanken, Captain, das ist mein Job.“ Noch einen letzten Blick zum Tisch. Sie sah, was sie sehen wollte: Die Falte des Widerwillens zwischen Lillys roten Lackbrauen, die schöne Kommandantin aus Salisbury, lächelnd dem Vortrag des Königs geneigt, und neben ihr ein Augenpaar, dessen Blick zwischen Courtney und dem König hin und her flog. Jetzt war sie an der Reihe mit Triumph und Genugtuung. Der Major hatte sie wahrgenommen.

Courtney Rubens drehte sich um und rauschte zur Kuppeltür. „Wir sehen uns, Doc!“, rief Stallone ihr nach. Sie ignorierte es. Widerlich, diese plumpe Vertraulichkeit! Doc – nie zuvor hatte er sie so genannt. Als wollte er vor den anderen demonstrieren, wie fabelhaft ihre Beziehung war. Verlogener Hund! Genauso, wie er dem E-Pförtner befohlen hatte, ihn Eddy zu nennen. Als wäre er der beste Kumpel, den man sich wünschen konnte. Die Wahrheit war: Außer unter seinen Fans und ein paar E-Butlern gab es kaum ernstzunehmende Menschen, denen er so nahestand, dass sie ihn mit Vornamen ansprachen.

Ihre Wut wurde Courtney erst richtig bewusst, als das Haupttor zum Regierungssegment sich hinter ihr schloss. Schneller als sonst lief sie durch den Verbindungsgang zu Segment II, wo die Laboratorien, die Akademie und der Klinikbereich untergebracht waren. Und anders als sonst verschwendete sie keinen Blick nach links und rechts – weder an die bunten Papageien in den Bäumen, noch an den strahlend blauen Sommerhimmel über ihr an der Gangdecke. Lillys stolze und Stallones schmierige Miene fesselten ihr inneres Auge. Wie aus dem Nichts flog ihr die Idee zu. Auf einmal, von jetzt auf nun, wusste sie ganz genau, wie sie es anstellen musste ...

*


Ein Programmpunkt jagte den nächsten: Essen mit Regierungsvertretern und der Londoner Crew, Empfang bei William V. mit Besichtigung seiner Modell-Biosphäre, Arbeitssitzung mit dem Chefwissenschaftler, dem für Forschung zuständigen Octoyan und der militärischen Leitung, Auswertung der Holden-Berichte, und so weiter, und so weiter. Am frühen Abend endlich war eine Pause absehbar; eine Stunde allein mit David. Endlich ... Zuerst aber noch galt es, die Präsentation der neuen Dragons hinter sich zu bringen. Eve zwang sich zu äußerster Konzentration.

Ähnlich wie in Salisbury befand sich die Dragon-Werft im militärischen Bereich des Regierungssegments. Hinter der Titanglaskuppel sah Eve verschwommen die Umrisse von etwa einem Dutzend Panzer. Nach dem ersten Außeneinsatz kehrte ein Dragon selbstverständlich nicht in den sterilen Bereich der Werft zurück, sondern parkte jenseits der Werftkuppel in einer von zwanzig Versorgungsbuchten des septischen Hangars. Dort verband je ein Teleskoptunnel je einen Tank mit je einer Schleuse. Auf diese Weise gelangten die Besatzungen ohne Schutzanzüge aus dem sterilen Werftbereich direkt in ihr Fahrzeug. Aus den septischen Hangars führten zwanzig Lastenaufzüge hinauf zum Tunnel zwischen Bunkereingang und Altem Portal.

Den beiden neuen Modellen stand ihre Jungfernfahrt noch bevor. Folglich waren sie noch keimfrei und zudem blitzblank. Eve und ihr Team aus Salisbury konnten sie mit bloßen Händen betasten, während der etwas behäbige Ali Farka Touré Material, Außenbeleuchtung, Luken, Kettenschuhe und so weiter erläuterte.

Äußerlich unterschieden sich die beiden Prototypen Dragon I und Dragon I kaum von den gängigen Modellen. Wie diese waren auch die neuen Maschinen dunkelgrün, viergliedrig, zwanzig Meter lang, nicht ganz drei Meter breit und zweieinhalb Meter hoch. Wie bei diesen wölbten sich auch an Heck und Bug der Pilotmodelle von außen nicht einsehbare Sichtkuppeln. Allerdings lief der Bug des neuen Modells spitzer zu als der des Vorgängermodells.

„Wie viele dieser Maschinen wollen Sie produzieren?“, erkundigte sich Eve.

„Wenn Ihre Expedition gute Erfahrungen macht, und daran zweifle ich nicht, wollen wir ein Gerät pro Jahr bauen“, sagte der schwarze Chefingenieur und Octoyan. „Zuvor allerdings werden die alten Maschinen mit der neuen Technik umgerüstet.“

„Mit einer Ausnahme: ich bekomme sofort ein neues Fahrzeug.“ Der König wollte gar nicht mehr von Eves Seite weichen.

„Nicht sofort, Eure Majestät.“ Farka deutete eine Verbeugung an. „Erst in etwa sieben Monaten.“

„Dafür wird es aber eine Nummer größer ausfallen als diese hier.“ Das königliche Lächeln schien unverwüstlich. William V. trug eine milchblaue Pluderhose und einen wadenlangen Frack gleicher Farbe. Die vergoldeten Locken seiner Perücke fielen weit über seine Schultern und tanzten bei jedem seiner Schritte. Eve befürchtete, der charmante aber ziemlich exaltierte Monarch könnte sich in sie verguckt haben.

„Als König brauche ich ein etwas repräsentativeres Fahrzeug, Ma’am.“ Jetzt deutete William V. eine Verbeugung an, und zwar Eve gegenüber. „Das werden Sie sicher verstehen, Ma’am, auch wenn sich Ihnen in Salisbury die Geheimnisse und Vorzüge der Monarchie samt ihren Repräsentationspflichten noch nicht vollständig enthüllt haben, wie mir von Zeit zu Zeit scheinen will.“

„Sie irren, Sire“, entgegnete Eve höflich aber bestimmt. „Wir in Salisbury achten die Monarchie als eine traditionsreiche und durch und durch britische Möglichkeit, eine postapokalyptische Gesellschaft zu regieren, Sire.“

Ein Strahlen ging über Williams sympathische Züge, und während er erneut den goldgelockten Kopf neigte, glaubte Bogoto das Wort ergreifen zu müssen. „Unser Prime ist doch auch so eine Art König“, sagte er. Durch einige Gesichter gingen Reißverschlüsse. Bogoto merkte es sofort und statt zu schweigen, suchte er nach erklärenden Worten. „Monarchie hat was, wollte ich nur sagen. Selbst die Stinker haben doch Könige ..., auch wenn sie ihre Häuptlinge anders nennen ...“

General Kobayashi bekam schmale Lippen, Stallones und Emersons Mienen schienen plötzlich aus Stein gemeißelt, und Eve durchbohrte ihren Waffeningenieur mit Blicken.

„Ich mein ja nur.“ Der Schwarze grinste verlegen. „Hat doch bei denen auch ganz gut geklappt ...“

„Optimiert haben wir die Teleskoplamellen.“ Der Chefingenieur erhob seine Stimme und kehrte zum Thema zurück. Eve war ihm dankbar und Bogoto auch, denn die Augen der anderen ließen ihn wieder los. „Sie sind kaum sichtbar und erlauben eine erhebliche Reduzierung des Wendekreises ...“

„Unter acht Meter“, raunte David ihr zu. „In der Luft kannst du praktisch in Spiralstellung steigen und sinken. Ich habe es am Rechner ausprobiert.“

Das schwarze Gesicht Tourés strahlte, während er die Vorzüge des neuen Modells pries; besonders als McCalahan und die junge Fletcher sich die neuartigen Laser-Sensoren erklären ließen. „Als Navigatoren können Sie den Tank ohne Außensicht durch den dichtesten Ruinenwald steuern“, verkündete Farka. „Denn jetzt verfügt nicht nur das Bugsegment über Laser-Sensoren-Navigation, sondern jedes einzelne Segment. Das System arbeitet natürlich völlig autark ...“

Farka legte seine Handfläche auf die Karosserie des Hecksegments. Eine Luke öffnete sich. Nacheinander kletterten sie in das Hecksegment von Dragon I.

„Willkommen in Dragon I, Ladies und Gentlemen“, begrüßte sie der Schleusenbutler. „Ich sehe eine paar mir unbekannte Gesichter. Darf ich um Identifizierung bitten?“ Das Schleusenbutler-Programm konnte bei den Pilotmodellen um eine visuelle Gestaltung der Software erweitert werden. Sie blieb jedem Kommandanten selbst überlassen. Eve wusste jetzt schon, dass sie keinen Bedarf nach einem künstlichen Gesicht zu der künstlichen Stimme hatte. In Salisbury hatte man wenig Sinn für solche Spielereien.

Im Hecksegment gab es einen Lade- und Geräteraum; und natürlich Schlafkuhlen, wie in jedem Segment außer dem Bugsegment. Der septische Stauraum – für Proben von Mineralien, Pflanzen, und sonstige Artefakte – war nur von außen zugänglich. Ebenso die in die Karosserie integrierten Boxen für die Spähervögel. „Wann sind die Tanks einsatzbereit?“, wollte Eve wissen.

„In zwei Wochen“, sagte David Emerson. „Dann werden wir sofort den ersten Test durchführen.“ Wie zufällig berührte er ihre Hand.

In zwei Wochen also ...

Noch drei Tage, dann würde Eve zurück nach Salisbury fahren. Gemeinsam mit Cox, dem Chefwissenschaftler und seinen bis dahin ausgewählten Assistenten. Zusammen mit den vier Forschern aus Salisbury wollte sich die Wissenschafts-Crew für zehn Tage in Klausur zurückziehen.

Schon in zwei Wochen also würde sie David wiedersehen ...

Ali Farka Touré erklärte Triebwerke und Energieversorgung. Die neuen Dragons wurden aus kleineren und dennoch leistungsstärkeren Nuklearreaktoren gespeist, als die gängigen Maschinen. Dabei handelte es sich um denselben Reaktortyp, der miniaturisiert auch in den LP-Gewehren Energie produzierte, ohne radioaktive Strahlen abzusondern.

„Auch den Autoeliminierungsmodus haben wir verbessert“, erklärte Farka. „Sollte jemals die Gefahr bestehen, dass ein Fahrzeug in feindliche Hände gerät, was sämtliche Götter Britanniens verhindern mögen, dann kann die Besatzung den Autoeliminierungsmodus nach dem Ausstieg per Langwellen-Signal aktivieren und hat danach exakt sechshundertsechzig Sekunden Zeit sich in Sicherheit zu bringen.“

Das Thema war dazu angetan, selbst Eve eine Gänsehaut zu bescheren. Noch nie hatte eine Besatzung ihr Fahrzeug zerstören müssen, und dennoch mussten gerade Expeditionskommandanten ihre Teams auf eine solche Möglichkeit vorbereiten. Wusste man denn so genau, welchen undenkbaren Mutationsformen intelligenten Lebens man auf dem ruinierten Antlitz der Erde begegnen würde?

Es sei gelungen, die Kettenreaktion des sich selbst zerstörenden Reaktors zu verdichten, erläuterte Farka. Seine Explosion sei eher eine Blitzfusion und zerreiße die Molekularstrukturen nur noch in einer Umgebung von unter hundert Metern. „Wie tröstlich“, entfuhr es Bogoto.

Von Segment zu Segment arbeiteten sie sich bis zum Bug vor. In Segment III war ein leistungsstarkes Labor untergebracht, in Segment zwei der Gefechtsstand und die Bordküche. Schließlich erreichten sie das Kommandosegment.

Hier geriet der Octoyan regelrecht ins Schwärmen, und tatsächlich gab es unter der Frontkuppel, dem zentralen Nervensystem eines Dragons, ein paar Veränderungen, die auch Eve beeindruckten: das deutlich erweiterte Panorama-Display über dem Frontbogen der Sichtkuppel zum Beispiel; der Navigationsrechner, der mehrere Kilometer entfernte Objekte, die von den Ortungsgeräten erfasst wurden, ohne Zeitverlust berechnen und so scharf visualisieren konnte, dass man meinte, sie mit eigenen Augen zu sehen; eine schmalere Instrumentenkonsole; verbesserte Aufklärungsoptionen, die zum Beispiel Geländestrukturen sozusagen im Vorüberfahren erfassten und in topographische Bilder umrechnete, oder Landkarten selbstständig erstellten und in die Datenbank des Bordhirns integrierten; oder die Laser-Sensoren-Navigation, die jedes noch so kleine und noch so unsichtbare Hindernis in einem Radius von mindestens 20 Metern registrierte und dafür sorgte, dass das Bordhirn den Kurs im Sekundentakt neu festlegte. Und so weiter.

„Gratuliere“, sagte Eve. „Ein wunderbares Gerät.“

„Sollten Sie damit mal ins Wasser fallen, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen“, verkündete Ali Farka Touré stolz. „Der Prototyp hält Druckverhältnissen stand, wie sie in vierhundert Metern Meerestiefe herrschen. Mit Standardbesatzung von acht Mann verfügen sie in einem solchen Fall über einen Sauerstoffvorrat für mindestens zwanzig Stunden. Die Geschwindigkeit haben wir nur unwesentlich gesteigert: In der Luft beträgt sie 80 km/h, zu Wasser 60 km/h und auf der Erde theoretische 90 km/h.“

McCalahan hatte ein paar Fragen zum Navigationssystem, Bogoto zur Waffentechnik und Spencer Miller stellte vor aller Ohren die Frage, auf die Eve schon den ganzen Tag gewartet hatte: Warum er ihren und nicht den Londoner Dragon steuern sollte, wollte er wissen.

„Mit Ihnen und Major Emerson würden gleich zwei erfahrene Piloten auf dem Londoner Dragon sitzen, Captain Miller.“ Sie wich seinem misstrauischen Blick nicht aus. „Einen aber brauche ich auf dem Kommandofahrzeug. Dafür soll Captain Brook als zweite Pilotin unter Major Emersons Kommando Dragon II steuern.“ Sie setzte ihr charmantestes Lächeln auf. „Bis nach Leipzig wird sie eine Menge von ihm gelernt haben, so dass wir vor der Rückreise über einen Tausch nachdenken können.“ Miller nickte, schien aber nicht wirklich zufrieden.

„Zeit für eine Pause!“ Der General zog seine goldene Taschenuhr aus der Beintasche seines Overalls. „In anderthalb Stunden beginnt schon die Abendveranstaltung. Ruhen Sie sich ein wenig aus, Ladies und Gentlemen. Ich erwartete Sie pünktlich in der Octoyats-Arena!“

Für den Abend stand ein Konzert mit kaltem Büfett und Dichterlesung auf dem Programm. Etwa fünfzig ausgewählte Society-Mitglieder waren geladen, und Sir Jefferson Springs, Octoyan für Kunst und Kultur und königlicher Berater, würde aus seiner neusten Gedichtsammlung vorlesen.

„Bogoto ist mal wieder gezielt in den Schmalztopf getreten“, sagte David auf dem Weg in seine Privatkuppel. Sie gingen Hand in Hand. „Bist du sicher, dass du ihn nach Leipzig mitnehmen willst?“

„Er ist genial, glaub mir. Und er sorgt für gute Stimmung an Bord. Aber ich werde ihn verwarnen. Er muss lernen, den Mund zu halten, wenn es darauf ankommt.“

„In vier Wochen soll es schon losgehen.“ David ging nicht näher auf Bogoto ein. „Anfang, spätestens Mitte März.“

„Ich weiß“, sagte Eve. „Ich denke, dass wir mit den neuen Geräten schnell zurechtkommen werden und schon in vier Wochen aufbrechen können.“

„Spence war ganz schön sauer, als er hörte, dass er nicht mit mir fliegen soll.“

Eve spürte seinen prüfenden Blick. „Das tut mir leid. Ich habe erst spät erfahren, dass Highlander das Schottlandprojekt übernehmen wird.“ Das war nur die halbe Wahrheit – Eve hatte von Anfang an damit gerechnet, dass nur ihr Stammpilot als ihr Nachfolger in Frage kommen und somit für die Leipzigexpedition ausfallen würde. „Da hatte Spencer schon zugesagt.“

Das klang, als hätte sie Barbara nachnominiert, und wenn David nachgefragt hätte, wäre sie ins Schleudern gekommen. Sie ließ ihm keine Zeit zur Nachfrage. „Wann kommst du endgültig zu mir nach Salisbury?“ Er schwieg. Fragend sah sie zu ihm hoch. „Du wolltest dich bis Anfang Februar entscheiden, David!“

„Ich weiß schon“, sagte er seltsam ernst. „Lass uns gemeinsam eine erfolgreiche Expedition abliefern, Eve. Und danach siedle ich nach Salisbury um. Okay?“

„Okay.“ Sie küsste seinen Hals und schmiegte sich an ihn.

Kaum hatte sich die Luke seiner Privatkuppel hinter ihnen geschlossen, halfen sie einander aus den Kleidern. Wie immer, wenn sie sich längere Zeit nicht gesehen hatten, konnten sie gar nicht schnell genug ins Bett kommen.

*


Drei Tage später musste Courtney Rubens bei Captain Stallone zum Abendessen antreten. Sie sorgte dafür, dass es sich hinzog und ihr Gastgeber reichlich Gelegenheit bekam dem Punsch zuzusprechen. „Wann hat Scout II die Society verlassen?“, wollte sie hinterher wissen.

„Heute Vormittag. So gegen elf“ Stallones rötliches Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. „Ich hab gesehen, wie Emerson sich von der Kommandantin ... also ... wie sie sich verabschiedet haben. Diese Kommandantin ... also wirklich ...“ Stallone sprach bereits mit schwerer Zunge. „Eine tolle Frau ... also wirklich ...“ Er trug eine schwarze Perücke aus vielen kleinen Zöpfchen. Sein Ganzkörperanzug war aus schwarzem Kunstleder und saß sehr knapp. „Emerson, der Mistkerl ... so ein Edelweib hat der nicht verdient ...“

„Wer gehört zum Wissenschaftsteam?“ Courtney unterbrach den berauschten Stallone.

„Also ... Cox ...“ Mit einem Glas Punsch in der Hand hing der Waffentechniker in seinem Sessel. Dampfschwaden schwebten an den Kuppelwänden, dazwischen sah man nackte Menschen, meist Frauen. Sie räkelten sich auf gekachelten Bänken, oder planschten in einem Pool.

„Das weiß ich“, sagte Courtney schroff. „Die Namen der anderen kenne ich noch nicht.“ Sie hatte dem entthronten Boxchampion und Captain der Society-Force hochprozentigen Alkohol in den Punsch gekippt. Im medizinischen Labor gab es dieses Lösungsmittel Hektoliter weise.

„Nun ... da sind erst mal diese beiden Typen, der Bio-Informatiker und der Geograph ...“ Stallone stieß auf, feixte und fixierte ungeniert Courtneys Brüste. Sie trug ihren Kimono recht offenherzig an diesem Abend. „Wie heißen sie gleich ...“ Er drehte sich um und schielte zu seinem Bett.

„DeJong und Crosby etwa?“

„Genau! Diese beiden Fachidioten!“ Wieder flog sein Blick zu Courtneys Brust. „Und dann Sheldon, die alte Zicke!“ Die Biologin und Chemikerin Juli Sheldon mochte alt sein – hundertdreiundfünfzig Jahre – eine Zicke war sie nicht. „Und jetzt ...“ Stallone knallte sein Glas auf den Tisch und grapschte nach Courtneys Hand. „Und jetzt sollten wir allmählich zur Sache kommen ...“

Courtney entwand ihm ihre Hand und stieß ihn in den Sessel zurück. „Wir waren zum Essen verabredet, Eddy. Reiß dich zusammen!“

„Tu nicht so ... so naiv. Du weißt genau, was ich von dir will ...“ Wieder langte er nach ihrer Hand. „Und du willst es im Grunde auch, gib’s doch zu ...“ Sie stand auf, um aus seinem Aktionsradius zu gelangen. „Ich hab dir alles erzählt!“ Er brauste auf. „Die Vorbereitungstermine, die Crewmitglieder, der Expeditionsbeginn – du weißt alles ...“ Er schnitt eine grimmige Miene. „Nun will ich meine Belohnung ...“

„Richtig, du hast mir Dinge anvertraut, die eigentlich noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.“ Courtney schritt an der Kuppelwand entlang. Das Panorama aus Sauna- und Badeszenen war ihr völlig neu. Aber es passte zu Stallone. Zwischen zwei Palmen entdeckte sie ein Paar, das unter einem Badetuch kopulierte. „So etwas könnte der General als Vertrauensbruch verstehen.“ Sie blieb stehen und betrachtete das Liebespaar. Der Mann trug Stallones Züge, die Frau ihre. Angewidert ging sie weiter. „Außerdem hast du mir mit einem Vorwand Zutritt ins Kasino verschafft. Sowas mag man nicht im Octoyat.“ Plötzlich fiel ihr auf, dass die wenigen Männer in der Kuppelwand allesamt Doppelgänger des Captains waren. „Das könnte dich die Teilnahme an der Expedition kosten, Eddy. Wäre das nicht schade?“ Sie drehte sich um und sah ihm in die kleinen, rötlichen Augen. „Wie ich dich kenne, willst du doch sicher mal Kobayashi beerben, oder?“

„Du ...!“ Stallone stand auf, wankte und sackte wieder in seinen Sessel. „Du Biest. Willst du mich etwa erpressen?“

„Beruhige dich, war nur ein Spaß.“ Sie ging zu ihm, setzte sich auf die Armlehne seines Sessels, lächelte und drückte ihm den Punsch in die Hand. „Vielleicht könnte ich mich doch noch für eine Nacht mit dir entscheiden ...“

„Ja ...“ Die Hoffnung erhellte seine Miene. Wieder feixte er.

„Ich bräuchte allerdings einen Nachweis deiner Fähigkeiten.“

„Was redest du?“ An seiner rechten Schläfe schwoll eine Ader an. „Willst du mich beleidigen?!“

„Lilly Fletcher ist noch Jungfrau. Verführe sie. Dann schlafe ich mit dir. Wahrscheinlich.“

Seine breite Kinnlade sank nach unten. Die Ader schwoll wieder ab. Er machte große Augen und starrte sie an wie eine Erscheinung. Ein paar Sekunden lang sah er reichlich blöde aus, und diese paar Sekunden lang gefiel er Courtney. Plötzlich lachte er schallend. „Sie wird es dir brühwarm erzählen, was?“ Er schlug sich auf die Schenkel vor Lachen. „Du bist vielleicht ein Luder!“ Schließlich griff er wieder nach seinem Cocktail und trank. „Also gut“, sagte er endlich. „Ein nettes Spielchen eigentlich ... warum denn nicht?“

*


Anfang März, 2522

Der entscheidende Tag. Courtneys Herz klopfte. Dabei hatte sie nicht die Spur einer Ahnung, wie entscheidend der Tag wirklich werden sollte. Lächelnd grüßte sie nach links und rechts, während sie an Instrumentenkonsolen, Arbeitspulten und Wandmonitoren voller Zahlenlisten vorbeischritt. Ein Laborarzt und zwei junge Assistenten hatten außer ihr an diesem Morgen Dienst im medizinischen Labor. Ihr Ziel war die Medikamentenausgabe.

Vor einem Monitor blieb sie stehen und tat, als würde sie die Zahlen darauf lesen. Kalzium-, Kalium- und Natriumwerte, Leberenzyme, Hämatokritwerte, Blutfette, und so weiter – Ergebnisse von acht Blutproben, mit denen sie die Diagnosegeräte eine halbe Stunde zuvor gespeist hatte. Die acht Expeditionsteilnehmer der Society wurden auf Herz und Nieren geprüft.

Beiläufig registrierte Courtney die gesunkenen Lipidwerte von John Cox. Doc Doubleman bewies eiserne Disziplin: vierzig Pfund hatte er bereits abgenommen, und seine Blutfette näherten sich nach und nach dem grünen Bereich. Wie hartnäckig er sein konnte, der alte Schlemmer! Wenn er nur wollte.

Was Courtney wirklich interessierte, war der Kunststoffständer auf dem Arbeitstisch. Acht Röhrchen mit acht Blutproben steckten in ihm. Die Namen auf den Etiketten waren gut lesbar – Lillys Röhrchen war das dritte von rechts. Courtney nahm es heraus und zog das Namensetikett ab. Das Etikett klebte sie auf den Gürtel ihrer Hose, das Röhrchen versenkte sie in ihrer rechten Manteltasche.

Kurz vor der Luke in die Apotheke und Medikamentenausgabe blieb sie erneut vor einem Monitor stehen. Der Assistent zwanzig Schritte hinter ihr war in seine Arbeit vertieft, so dass Courtney kein Interesse an den Eiweiß- und Hormonanalysen mimen musste.

Zwei Ständer mit bereits analysierten Blutproben gab es auf diesem Arbeitstisch; durchweg Blutproben von Frauen – Schwangerschaftstests. Etwa ein Dutzend auf dem linken Ständer und zwei einsame Röhrchen auf dem rechten – die positiven Befunde. Courtney zog eine der beiden positiv getesteten Blutproben heraus, entfernte das Namensetikett und klebte es auf das Röhrchen mit Lillys Blut. Das steckte sie zurück in den Ständer. Sie blickte sich kurz um, obwohl niemand auf den Gedanken kommen würde, ausgerechnet sie zu kontrollieren. Dennoch war ihr Mund trocken und ihr Atem flog. In der Tasche ihres Labormantels schloss sie die Faust um das Blutröhrchen mit dem positiven Befund.

Weiter. Lächeln, durchatmen und ganz locker weitergehen ...

In der Apotheke warteten zweiundfünfzig Dosierkassetten auf sie. Handtellergroß waren die Kunststoffbehälter, und jeder hatte sieben Fächer. Sie enthielten die Medikamente, die zweiundfünfzig Society-Mitglieder im Lauf der kommenden Woche zu sich nehmen mussten. Einer der Assistenten hatte sie anhand von Therapieplänen bereits mit den verordneten Tabletten und Kapseln gefüllt. Dr. Courtney Rubens’ Job war es, stichprobenartige Kontrollen durchzuführen.

Zuerst aber griff sie unter ihren Labormantel, löste Lillys Namensschild vom Gürtel und klebte es auf die fremde Blutprobe. Danach begann sie mit der Arbeit, die sie einmal pro Woche zu erledigen hatte. Zuerst nahm sie sich die acht Dosierkassetten der Expeditionsteilnehmer vor. Bei den Tabletten darin handelte es sich fast ausnahmslos um Mineralien und Vitamine. Nur Cox und Juli Sheldon nahmen wirksame Medikamente: Der Chefwissenschaftler einen Lipidsenker, die Biochemikerin einen Betablocker. Juli litt unter Herzrhythmusstörungen.

Courtney lud die individuellen Verordnungspläne auf den Kuppelwandmonitor und zog ein Instrument aus der Wandhalterung, das einem großen, silbernen Stift ähnelte – eine Art Detektor mit optischem Kopf. Mit dem fuhr sie langsam über die durchsichtigen Schubdeckel der Dosierkassetten. Der Rechner identifizierte die Tabletten anhand ihrer Größe, Farbe und spezifischer Maserung. Ein akustisches Warnsignal würde Courtney veranlassen, das Tablettenfach mit eigenen Augen mit dem Verordnungsplan abzugleichen. Doch wie meist blieb auch heute der hohe Piepston aus.

Courtney legte den Sensor beiseite, öffnete Lilly Fletchers Kassette und nahm aus jedem zweiten Fach eine kleine, weiße Tablette heraus; ein Vitamin-D-Präparat. Sie griff in die Brusttasche ihres Labormantels, fischte eine Tütchen mit vier kleinen, weißen Tabletten heraus und füllte die Fächer wieder auf; mit einem Hormon-Präparat. Ein Gestagen-Cocktail. Selbst dosiert, gemixt und in eine dem Vitamin-Präparat zum Verwechseln ähnliche Form gepresst. Der Wirkstoff würde Lilly vorübergehend die Menstruation ersparen.

Seit vier Wochen tauschte sie die Tabletten aus, zu jedem Wochenbeginn. Seit Lilly ihr halb verschämt, halb triumphierend gestanden hatte, dass sie mit Stallone im Bett war. Schön sei es gewesen. Na also. Gratulation.

Für die Kontrolle der anderen Dosierkassetten nahm sie sich eine halbe Stunde Zeit. Keine Beanstandung. Zurück in der Diagnostikabteilung lud sie Lillys Analysebericht auf den Monitor. Sie löschte sämtliche Ergebnisse, und gab einen Befehl ein: Wiederholen. Anschließend speiste sie den Analysator mit dem Blut aus dem fremden Röhrchen.

Zwanzig Minuten später lud sie die Ergebnisse auf einen Datenträger und versah ihn mit ihrem Kürzel. Sie war schweißnass, als sie endlich das Röhrchen mit Lillys Namensschild an den Platz steckte, an den es nicht hingehörte – in die dritte Fassung von rechts am Ständer mit den Blutproben der Expeditionsteilnehmer. Die Hände in den Manteltaschen vergraben – damit sie ja keine Gelegenheit zum Zittern bekamen – und mit schnellen Schritten – damit ja niemand ihre weichen Knie bemerkte – verließ sie das Labor. Sie brauchte eine Pause; sie brauchte eine Dusche.

In ihrem Privatraum warf sie sich erst einmal aufs Bett und atmete ein paar Mal tief durch. Im Hintergrund nagte das schlechte Gewissen an ihr. Aber schadete sie denn jemandem? Nein. Warum also ein schlechtes Gewissen haben? Weg damit!

Bald überwogen Stolz und Staunen. Niemals hätte Courtney sich zugetraut, die Sache bis zum Schluss durchzuziehen. Sie dachte an den Major. David Emerson. Sie hatte ihn vor zwei Tagen beim Schach besiegt. Schon zum dritten Mal. Und wieder hatte er Revanche gefordert. Die Aussicht war nicht dazu angetan ihren Herzschlag zu beruhigen.

Und sie dachte an Stallone. Vermutlich schlief er jetzt regelmäßig mit Lilly Fletcher. Denn nur ein einziges Mal hatte er in den letzten Wochen seine Belohnung von Courtney gefordert. Vergeblich natürlich. Vermutlich würde er bald wieder vor ihrer Tür stehen. Die Aussicht ließ Courtney kalt. Sie würde ihren verächtlichsten Blick aufsetzen, den Kopf schütteln und sagen: „Du musst mich ja für ein Schlampe halten. Oder wie kommst du auf den Gedanken, ich würde mit einem Mann schlafen, von dem meine Freundin Lilly ein Kind erwartet?“

*


Ein friedlicher Abend Mitte März des Jahres 2522. Umgeben von Dünen und Strand, von Brandung, die sich gegen einen Strand warf, und von einem Himmel, in dem das letzte Tageslicht verblasste, saß sie vor der Konsole mit ihrer Zentralhelix-Schnittstelle. Sie arbeitete sich durch die Johanna-Dateien.

Die Aufzeichnungen waren nicht immer chronologisch geordnet, und manchmal stieß Eve auf einen chaotischen Textdschungel. Während sie in ihn eindrang und dabei versuchte die Eintragungen nach den Datumsangaben zu ordnen, stieß sie auf Berichte aus den letzten Wochen vor der Katastrophe. Sie versank in die Schilderungen ihrer Urahnin, und es wurde ihr immer unbegreiflicher, wie diese Frau ihr Leben und ihr Tagebuch in den Bunker unter Stonehenge hatte retten können.

Die letzten Tage der Menschheit zogen an ihr vorbei, Angst und Schmerzen empfand sie mit, und Vorfahren von Menschen, mit denen sie täglich oder zumindest oft zu tun hatte, bekamen plötzlich Gesicht und Stimme. Urahnen von Barbara zum Beispiel; oder von Sir Lester Galahad; oder des Primes.

Die Stunden vergingen im Fluge, und es wurde Morgen. Irgendwann verblasste ein Rechteck im Nachthimmel über den Dünen, Celindas Gestalt erschien darin. „Verzeihen Sie die Störung, Ma’am. General Proud hat angefragt, ob sie schon wach sind. In London gibt es Probleme. Scheint dringend zu sein.“

„Verbinde mich mit ihr, Celinda.“

„General Proud hat angedeutet, dass ein persönliches Gespräch angemessen sei.“

Eve runzelte die Stirn. „Gut. Ich erwarte sie.“

Minuten später nur meldete Eves E-Zofe Emely Proud. Eine Luke entstand in der Brandung, die Militär-Octoyana trat ein. „Es tut mir leid, so früh schon stören zu müssen ...“ Die Proud blieb stehen und blickte erstaunt auf den Monitor in der Kuppelwand vor der Rechnerkonsole. „Oh! Sie arbeiten schon?“

„Noch.“ Eve bot ihr einen Platz in der Sitzgruppe an. „Ich habe mich die ganze Nacht mit den Aufzeichnungen einer Urahnin beschäftigt. Kaum zu fassen, was die erste Bunkergeneration alles erleben musste. Ich werde die Dateien mit nach Leipzig nehmen. Die passende Reiselektüre. Apropos: Gibt es Probleme mit der Expedition?“ Der Termin stand fest: In zehn Tagen würden Dragon I und II von London aus Richtung Festland aufbrechen.

„Leider.“ Die Proud nahm Platz. „Allerdings erfreuliche Probleme.“ Sie holte einen Datenkristall aus der Brusttasche ihrer Kombi. „Lilly Fletcher ist schwanger!“

„Oh, wie schön!“ Die Schwierigkeiten für die Expedition, die sich aus dieser Neuigkeit ergaben, lagen auf der Hand. Dennoch lächelte Eve. Sie freute sich ehrlich. Die Geburtenrate in beiden Societies lag schon seit zweihundert Jahren auf dem gleichen, niedrigen Level. „Andererseits: Schade. Lilly hätte gut zu Major Emerson und zu Barbara gepasst.“ Ausgeschlossen natürlich, eine Schwangere auf eine Expedition zu schicken. Werdende Mütter behandelte man ähnlich behutsam wie vorzeitliche Datensätze, und jede Geburt wurde zum Tagesgespräch. „Wir brauchen also Ersatz.“

„Und zwar rasch. Deswegen habe ich mich gleich bei Ihnen gemeldet, als das hier ankam.“ Emily Proud reichte Eve den Datenträger. „Ein Personalvorschlag von General Kobayashi und Major Emerson. Kennen Sie Lieutenant Dr. Rubens? Sie gehört zu Londons Hochbegabten. Obwohl sie erst Mitte dreißig ist, hat sie es schon erstaunlich weit gebracht.“

„Courtney Rubens? Die junge Ärztin?“

„Richtig. Kobayashis jüngste Offizierin. Sie hat schon an die fünfhundert Stunden Außendienst auf einem Dragon auf dem Buckel. Ihr Personaldossier finden Sie ebenfalls auf dem Kristall. Sir James und ich befürworten ihre Berufung. Aber selbstverständlich haben Sie das letzte Wort, Commander Barkley. Studieren Sie die Akte in Ruhe, aber so rasch wie möglich. In zehn Tagen geht es los, der Countdown läuft bereits. Falls Sie Lieutenant Rubens aus irgendeinem Grund ablehnen sollten, dürfte es allerdings schwierig werden, noch einen Ersatz für sie zu finden ...“

Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021

Подняться наверх