Читать книгу Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021 - Jo Zybell - Страница 17

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Apokalypse

Aus den Johanna-Dateien

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19. 9. 2021

Gestern in der Royal Albert Hall: Schlussveranstaltung der Promenadenkonzert-Saison, die Royal Philharmonics spielen Beethoven, und Mary-Lou flüstert mir ins Ohr, ich solle mich umdrehen und den großen, kahlköpfigen Mann unter den stehenden Zuhörern am Eingang anschauen, das sei Roger Scott, einer der beiden Entdecker des Asteroiden. Ich drehe mich um, sehe aber keinen Mann, auf den Mary-Lous Beschreibung passt.

Nach dem Schlussakkord rauschender Beifall. Der König betritt die Bühne, donnernder Beifall. Der König sagt sein jährliches Grußwort auf, orkanartiger Beifall und die üblichen Geschmacklosigkeiten der Royalisten: Fähnchen-Gewedel und Rule-Britannia-Gebrüll.

Plötzlich dröhnt eine hektische Männerstimme aus den Lautsprechern. Ein ältlicher Graubart steht am Rednerpult und liest aus der Bibel vor. Ich verstehe nur Bruchstücke, weil die Stimme des Mannes sich überschlägt und Louis neben mir sich lautstark über den Störer ereifert. Es geht um ein Erdbeben, um eine dunkle Sonne, einen blutigen Mond und um Sterne, die vom Himmel fallen. Irgendeine Stelle aus der Bibel. Ein paar Sekunden lang kann er ungehindert lesen, dann stürmen Ordner die Bühne und zerren ihn herunter.

Danach ist die ausgelassene Stimmung dahin, Beethovens Musik und das Grußwort des Königs weit weg. Weiter, als der Asteroid. Ohne, dass einer ihn an diesem Abend öffentlich erwähnt hätte, schwebt er, während wir aus der Royal Albert Hall schleichen, über unseren Köpfen.

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20. 9. 2021

Im Museumscafé mit Mary-Lou getroffen. Sie sieht blass aus, aber strahlt. Der schöne Mister Holden habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie habe Ja gesagt. „Wie schön“, sage ich, in Wahrheit aber frage ich mich, wie lange die Ehe meiner Tochter in den Zeiten des Asteroiden dauern kann: Drei Monate? Oder vier? Es schnürt mir das Herz zusammen.

Ich muss Mary-Lou versprechen, ihrem Vater und ihrem Bruder nichts zu verraten, das wolle sie selbst tun. Ich schwöre.

Irgendwann kommt das Gespräch auf den Vorfall in der Royal Albert Hall am Sonntagabend. Und jetzt spürt ihn auch Mary-Lou, den Schatten des Asteroiden – schwer und düster lastet er auf uns. Mary-Lou weint. Seltsam: Ich habe sie noch nie in der Öffentlichkeit weinen sehen.

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21. 9. 2021

Am Morgen die Apokalypse des Johannes zu lesen begonnen. Im sechsten Kapitel fand ich die Stelle, die ich suchte; die Verse, die der graubärtige Fanatiker – als solchen bezeichnet Louis den Mann – in der Royal Albert Hall ins Mikrofon geschrien hatte. Wieder und wieder musste ich sie lesen, sie gingen mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf.

Sie lauten folgendermaßen: Da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der ganze Mond wurde Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von starkem Wind bewegt wird. Und der Himmel wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln werden wegbewegt von ihren Orten ...

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22. 9. 2021

Heute Abend hat laut BBC „Apokalyptos“ die Milliarde unterschritten. Neunhundertachtundneunzig Millionen Kilometer ist er noch von uns entfernt. Fast sieben Millionen Kilometer legt er an jedem Erdentag zurück. Unvorstellbar.

Die TIMES will erfahren haben, dass er die Erdbahn am 28. Januar nächsten Jahres in einer Entfernung von acht Millionen Kilometern kreuzen wird. Vor zwei Wochen war noch vom 2. Februar und von fünfzehn Millionen Kilometern die Rede. Ich dachte immer, Asteroidenbahnen seien relativ stabil und ließen sich zuverlässig berechnen ...

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2. 10. 2021

Morgens Streit mit Louis. Er ist dagegen, dass Mary-Lou ihren schönen Mister Holden heiratet.

Am Abend komme ich vom Reiten, und das ganze Haus riecht nach Haschisch. Laute Musik aus dem Obergeschoss. Ich gehe nach oben, die Tür zu Stuarts Zimmer steht weit auf, mein Sohn liegt mit Sarah im Bett, der Tochter von Wanda Cox. Der Raum hängt voller süßlicher Rauchschwaden. „Hi, Mom“, sagt mein Sohn, „wir sollten uns was Gutes tun für den Rest unserer Tage, findest du nicht?“ Er lächelt sehr entspannt und hält mir die Tüte hin. Ich bin sprachlos und schließe die Tür.

Ich werde nichts sagen. Soll sein Vater sich mit ihm auseinandersetzen, wenn er Lust hat.

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4. 10. 2021

Gestern haben sie den Mann, der in der Royal Albert Hall aus der Johannes-Apokalypse vorgelesen hat, zu acht Monaten auf Bewährung und 4.500 Euro Geldstrafe verurteilt. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ...

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7. 10. 2021

Heute eines der immer seltener werdenden Gespräche mit Louis.

Ich: „Gestern war ich bei meinem Galeristen in Westminster und hab gesehen, dass die Gegend um Westminster Abbey und die Houses of Parliament abgesperrt ist.“

Er, in die TIMES vertieft: „Stimmt.“

Ich: „Ziemlich weiträumig.“

Er, ohne von der Zeitung aufzusehen: „Nun ja, die übertreiben mal wieder.“

Ich: „Was wird da gebaut?“

Er, schulterzuckend: „Nichts Besonderes. Nur längst fällige Renovierungsarbeiten.“

Das war alles. Sicher, er erzählt auch sonst nicht viel aus dem Ministerium. Aber derart zugeknöpft wie in den letzten Wochen habe ich Louis noch nie erlebt.

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16. 10. 2021

Nachts aus dem Schlaf hochgeschreckt: Polizeisirenen unten auf der Straße. Auch ein Ambulanzwagen stand vor der Nachbarvilla. Gegen Morgen kamen zwei Leichenwagen. Mitarbeiter eines Bestatters trugen vier Leichensäcke aus dem Haus.

Ich gehe auf die Straße und erfahre, dass die ganze Nachbarsfamilie tot ist. Gift, vermutet man.

Der dritte Selbstmord in der Straße innerhalb von zwei Wochen. Schwindelerregend die Zahl derer, die seit Anfang September in London freiwillig in den Tod gegangen sind: Dreitausendsiebenhundertdreiundachtzig Personen. Es ist wie eine Epidemie.

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21. 10. 2021

Louis und Stuart streiten lautstark. Wegen Stuarts Haschischkonsum, und weil er seit Tagen nicht in der Schule war. Später hält Sarahs Wagen vor dem Haus. Stuart wirft eine große Tasche in den Kofferraum, steigt ein und fährt mit ihr weg. Den ganzen Abend mit ihm telefoniert. Er will nicht zurückkommen.

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23. 10. 2021

Im Hydepark in eine Massenveranstaltung geraten. Irgendein Sektenprediger zog die Leute in seinen Bann. Der Asteroid sei der wiederkehrende Messias. In den Zeitungen liest man fast täglich von solchem und ähnlichem Unsinn. Der Asteroid macht die Menschen verrückt.

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25. 10. 2021

Mary-Lou schwanger! Ich werde Großmutter! Ich fasse es nicht ...

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29. 10. 2021

Louis sieht schlecht aus. Er ist nervös und arbeitet sechzehn Stunden am Tag. Wenn ich nachfrage, weist er auf die stark gestiegene Kriminalität in allen Teilen der Stadt und des Landes hin. Raub, Mord, Einbruch, Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Es ist, als ob die über Jahrhunderte mühsam gezähmte Barbarei über den Damm aus Gesetz und Ordnung gekrochen wäre.

„Der Asteroid macht uns jetzt schon kaputt“, habe ich heute zu Louis gesagt. „Noch können wir uns in unseren Häusern vor ihm verstecken, aber was tun wir, wenn Apokalyptos tatsächlich mit der Erde kollidiert? Wo verstecken wir uns dann?“

Seine Antwort ließ mich aufhorchen: „Mach dir keine Sorgen, Joan. Es wird alles gut, vertrau mir.“

Irgendetwas läuft da im Innenministerium, irgendein geheimes Projekt; Und ich ahne dunkel, was für eins ...

Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021

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