Читать книгу Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021 - Jo Zybell - Страница 14

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Apokalyptos

Aus den Johanna-Dateien

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12. 5. 2021

Heute hat Mary-Lou mir ihren Freund vorgestellt. Großer Bursche, blond, dunkelblaue Augen; Pete Holden heißt er. Ein attraktives, höchst sympathisches Mannsbild mit einem nichtssagenden Namen. Hat in Informatik promoviert und studiert jetzt Medizin im gleichen Semester wie Mary-Lou. Die Art wie sie ihn anschaut – anschmachtet – lässt mich das Schlimmste befürchten. Ich sage es nicht gern: Vor dreiundzwanzig Jahren habe ich Louis auf ähnliche Weise angeschaut; ein knappes Jahr danach hatten wir eine Tochter.

Mister Holdens Mutter ist Tänzerin, sein Vater Hafenarbeiter. Sein älterer Bruder spielt Fußball für irgendeinen schottischen Verein. Ich freue mich auf Louis’ Gesicht, wenn ich ihm das erzähle. Nächste Woche, zum Geburtstag ihres Vaters, wird Mary-Lou Mister Holden offiziell in die Familie einführen. Der Ärmste!

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2. 7. 2021

Heute haben sie mir den World Press Photo Award verpasst. Für das Bild vom US-Panzer mit dem Toten in der Luke und den Geiern auf dem Geschützrohr. Die Preisverleihung fand in der Empfangshalle des Broadcasting House statt. Sandy McAllister hat moderiert, Springs, von der TIMES, die Laudatio gehalten. Ich weiß nicht mehr, worum es ging; die üblichen Lorbeeren eben.

Der Innenminister – wahrscheinlich kam er aus Höflichkeit Lou gegenüber – drückte mir die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen, Mrs. Barkley. Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit – es ist eine echte Friedensarbeit.“

Und du bist ein echter Phrasenproduzent, dachte ich. Auf dem Nachhauseweg aber schämte ich mich für diesen Gedanken. Ich saß stumm neben Louis auf dem Beifahrersitz und machte mir klar, warum ich all diesen Mist und all dieses Elend fotografiere: Weil ich die naive Hoffnung nicht loswerden kann, dass es eventuell von der Erdoberfläche verschwindet, wenn nur genug Menschen es lang und oft genug anschauen müssen.

Zu Hause mit Louis zwei Flaschen Sekt geleert. Anschließend an seiner Brust geheult wie ein Kind.

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3. 8. 2021

Mary-Lou ruft nur noch selten an. Der schöne Mister Holden beschlagnahmt sie. Morgen fliegen Louis, Stuart und ich nach Los Angeles. Letzter Urlaub mit dem Jungen wahrscheinlich. Er wäre jetzt schon am liebsten mit ein paar Freunden nach Südfrankreich zum Zelten gefahren. So geht alles einmal zu Ende. Und Louis und ich? Wird das auch zu Ende gehen, wenn Stuart erst aus dem Haus ist? Ich will nicht darüber nachdenken ...

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29. 8. 2021

Die TIMES berichtet von einem seltenen astronomischen Ereignis: Ein Asteroid wird die Erdbahn nur 15 Millionen Kilometer entfernt kreuzen, in fünf bis sechs Monaten. Zwei Briten haben ihn vor ein paar Tagen entdeckt. Nach ihnen ist der Himmelskörper benannt: „Apokalyptos“.

An diesem Sommertag ist er noch über eine Milliarde Kilometer weit entfernt. Unvorstellbare Distanz. Warum beachte ich diese kurze, unwichtige Nachricht eigentlich? Vielleicht, damit ich mich nicht mit dem Dreck auf diesem Globus beschäftigen muss ...

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3. 9. 2021

Springs hat mir vorgeschlagen eine gemeinsame Reportage über das Leben eines Kriegsreportes zu schreiben. Ich habe mir Bedenkzeit erbeten. Wenn ich zusage, dann vor allem seinetwegen: Frank ist charmant, er hat Stil, und er sieht gut aus. Mit anderen Worten: Das krasse Gegenteil von Louis ...

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11. 9. 2021

Der Asteroid beherrscht die Nachrichten, den Boulevard und den Markt, sogar in den alltäglichsten Gesprächen ist er gegenwärtig.

BBC bringt morgens und abends seine aktuelle Entfernung von der Erde und verrät bei der Gelegenheit, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Kollision gerade veranschlagt wird. Die schwankt nämlich seit „Apokalyptos“ Entdeckung zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig Prozent. Im Moment liegt sie angeblich bei einundvierzig Prozent.

Einundvierzig Prozent! Das ist zu viel, um wirklich gelassen zu bleiben, oder? Ich jedenfalls fürchte mich schon ein wenig.

Boulevardblätter wie die SUN berichten auf eine Weise, dass man meint, der Weltuntergang sei schon beschlossene Sache. Die europäischen Regierungen verdächtigt man, ihre Bürger bewusst falsch zu informieren, um Chaos zu vermeiden.

In den Wirtschaftsteilen seriöser Zeitungen liest man von Massenpleiten im Versicherungs- und Baugewerbe und von einem Boom in der Reise-, Optik- und Lebensmittelindustrie. Die Leute schließen keine Versicherungen mehr ab und kündigen die bestehenden. Die Leute wollen keine Häuser mehr bauen – Autos kaufen sie übrigens auch nicht mehr – und decken sich stattdessen mit Vorräten ein, besorgen sich Feldstecher und Teleskope und reisen nach Hawaii oder Spanien oder sonst wohin, um den Asteroiden durch Großteleskope betrachten zu können. Vermutlich erhoffen sie sich objektive Aufklärung von den professionellen Astronomen dort.

Sandy McAllister von der BBC freut sich über die unglaublichen Einschaltquoten und hält das Ganze für eine ähnliche Hysterie, wie sie in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ausbrach, als den Halley’schen Kometen seine Reise durch den Kosmos mal wieder an der Erde vorbeiführte. Sie erklärt mir, dass sie ihren nächsten Sommerurlaub in der Karibik verbringen will und fügt überlegen lächelnd hinzu: „Falls es die Karibik und mich noch gibt im nächsten Sommer.“

Frank Springs von der TIMES flucht auf den Boulevard, der die Sache seiner Meinung nach aufbauscht, um die Auflage seiner bunten Blätter zu steigern. Allerdings räumt er ein, dass möglicherweise gewisse Politiker die Hysterie schüren; Populisten, die seiner Meinung nach schon seit Jahren auf den Niedergang der freiheitlich-demokratischen Ordnung und auf ihre Chance warten. Seine Zeitung vermeidet den Begriff „Kollision“. In der TIMES ist nur davon die Rede, dass der Asteroid die Erdbahn kreuzen wird.

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13. 9. 2021

„Was hältst du davon?“, habe ich Louis heute gefragt. Er zog die Brauen hoch. „Wovon?“ Dann lachte er. „Ach so! Dieser Asteroid?“ Er winkte ab. „Unverantwortlich, was die Medien uns da einbrocken. Schlimmer noch als das ganze Gerede und Geschmiere damals über die bevorstehende Klimakatastrophe.“ Die Tatsache, dass diese inzwischen weltweit Auswirkungen zeigte, ließ er unter den Tisch fallen. „Du wirst dich doch nicht etwa von dieser Endzeitstimmung anstecken lassen?“

Über eine Milliarde Kilometer sei der Asteroid noch von der Erde entfernt, hieß es heute in den Nachrichten. Eine Milliarde Kilometer – das klingt unvorstellbar weit weg; beruhigend weit weg. Doch nach Louis Antwort beruhigt mich nichts mehr. Er war schon immer ein schlechter Lügner.

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14. 9. 2021

Auftrag von Reuters. Ich soll ins kolumbianische Amazonasgebiet fliegen. Angestellte eines Edelholzkonzerns sollen dort Hunderte von Indios massakriert haben. Eine Spezialeinheit der kolumbianischen Armee und ein internationaler Journalistentross werden in das Waldgebiet vordringen. Reuters will, dass ich mich anschließe und fotografiere.

Ich werde ablehnen.

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17. 9. 2021

Der Asteroid ist immer noch über eine Milliarde Kilometer weit entfernt.

In den BBC-Nachrichten hieß es heute, er würde Ende Januar nächsten Jahres die Erdbahn kreuzen, und der TIMES zufolge beträgt die Kollisionswahrscheinlichkeit vierundvierzig Prozent, die SUN geht von über fünfzig Prozent aus und empfiehlt die Keller zu Schutzbunkern auszubauen. Es dürfte also wieder Schwung in die Baubranche kommen.

Louis will wissen, warum ich den Reuters-Auftrag abgelehnt habe. Meine Antwort: „Es ist nicht die Zeit, in der man seine Kinder allein lässt.“

Er macht große Augen und wiederholt seine Phrase über die Massenhysterie, von der sich kein gebildeter Mensch anstecken lassen sollte. Ich: „Wie bereitet das Kabinett sich auf eine mögliche Katastrophe vor?“

Er: „Wir sind mit allen Nato-Regierungen im engsten Kontakt.“

Wie beruhigend.

Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021

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