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Comédie humaine der Zwischenkriegszeit

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Wir haben Alle die Welt überschätzt: selbst ich, der ich zum absoluten Pessimistischen gehöre. – Die Welt ist sehr, sehr dumm, bestialisch. Ein Ochsenstall ist klüger. Alles: Humanität, Zivilisation, Europa, selbst der Katholizismus: Ein Ochsenstall ist noch klüger. (Roth, Br 262)

Joseph Roths Werk ist thematisch, zeitlich und räumlich so geschlossen, und zwischen seinen Figuren bestehen so vielfältige Querverbindungen, daß sein gesamtes Werk wiederholt als einziger großer Text bezeichnet wurde.153

Sein erzählerisches Werk erscheint als ein einziger Versuch, die Beschädigungen seiner Epoche auszuloten und eine Comédie humaine im Balzacschen Sinne zu verfassen. Die Handlungszeit seiner Romane spannt sich von ›den letzten Tagen der Menschheit‹ mit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie bis zur Auflösung der Ersten Republik Österreich durch den sogenannten ›Anschluß‹ im Jahre 1938. Figuren erscheinen immer wieder, spiegeln sich in denen früherer Werke und stellen Querverbindungen im gesamten Werk her. Ebenso sind die Orte immer wieder dieselben, oftmals mit der gleichen Konnotation: Galizien ist wiederkehrend der Ausgangspunkt der Protagonisten als verlorene ›Heimat‹ der noch intakten k.u.k.-Monarchie. Wien ist als Zentrum des Reiches die karnevaleske Metropole des alten, schon matten Glanzes vor dem Krieg und der Verstümmelung danach. Gegenbilder des Habsburgerreiches sind Rußland, Berlin und Paris, die persönlichen Stationen Roths auf seiner ›Flucht ohne Ende‹: Rußland wird für Roth zur Ernüchterung über die Revolution154, Berlin ist die »eingebildete Metropole«155, hektisch, kulturlos und vulgär, und Paris ist die »wirkliche Weltstadt«156, letztes Bollwerk der untergehenden europäischen Kultur. Die Geschlossenheit zwischen Zeit, Raum und Figuren verleiht Roths Werk eine Intensität, die ihn zurecht zum Chronisten Österreichs macht. Für Joseph Strelka fügt sich Roths Werk »zu einer Art einzigem großen Erzählwerk rings um die Geschichte des Endes der Monarchie, ihrer Menschen und ihres Wesens«157 zusammen. Ulrich Greiner brachte dies auf folgende Formel: »Im Grunde hat Roth in all seinen fünfzehn Romanen einen einzigen Roman geschrieben, den Roman des Mannes (und immer sind seine Hauptfiguren Männer), der zur Modernität, zum Leben in der Gegenwart verdammt ist, der diese Wirklichkeit aber nicht erträgt, sondern der flieht, in die Einsamkeit, in die Revolution, in die Vergangenheit.«158

Die Gespaltenheit Roths offenbart in der Person und seinen literarischen Figuren die Bewußtseinskrise der Moderne. Peter Sloterdijk hat in seiner Kritik der zynischen Vernunft Joseph Roth als frühen Diagnostiker eines Menschentyps dargestellt, in dem sich äußere Geschäftigkeit und Erfolge mit der Einsicht in die Haltlosigkeit des eigenen Tuns die Waage halten.159 Sein Werk erscheint als eine einzige Variation über das Thema dieser Ernüchterung, den Verlust von Idealen und der Haltlosigkeit des Daseins: Gabriel Dan im Hotel Savoy, Nikolas Brandeis in Rechts und Links, Friedrich Kargan in Der stumme Prophet, Franz Tunda in Die Flucht ohne Ende, Mendel Singer in Hiob, Carl Joseph Trotta in Radetzkymarsch, Franz Trotta in Die Kapuzinergruft, Rittmeister Taittinger in Die Geschichte von der 1002. Nacht, Andreas in Die Legende vom Heiligen Trinker – all diese Ich-Figurationen Joseph Roths gehen an ihrer Desillusionierung gegenüber einer sich ständig verändernden Realität zugrunde. Es entsteht ein Bild von Roth und seinem Romanpersonal, das »in gewisser Weise signifikant ist für eine sehr viel allgemeinere Disposition des Menschen im 20. Jahrhundert.«160 Karl-Heinz Bohrer schreibt über die 1970 erschienen Briefe Roths: »Die Epoche explodiert, weint, stirbt in ihnen, bevor die Menschen starben.«161

Historischer Hintergrund dieser fundamentalen Erschütterung seiner Figuren ist der »Untergang der Welt« (Roth 5, 293, 299, 336, 343, 447), wie Roth es oftmals bezeichnete: der Zusammenbruch der Donaumonarchie.

Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.

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