Читать книгу Hände weg!? - Joachim Kügler - Страница 11
eher ein Textparlament
ОглавлениеDie Bibel ist mehr als eine Sammlung, eher so etwas wie eine Versammlung: Die Texte verschmelzen nicht zu einem Text, aber sie stehen auch nicht isoliert. Sie beziehen sich aufeinander, sie beleuchten, erhellen, kritisieren sich gegenseitig und widersprechen sich bisweilen sogar. So sollte man diese Textversammlung eher als ein lebendiges Netzwerk ansehen, das eine Einheit im Gespräch bildet, aber nicht die eine Mitte oder den einheitlichen Erzählfaden hat.
Der Pastoraltheologe Ottmar Fuchs hat die Bibel einmal eine „Lernschule der Pluralität“ genannt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.3 Er drückt mit dieser Formulierung treffend aus, dass die Bibel eine wirklich erstaunliche innere Pluralität aufweist, ohne dass die Texte beziehungslos nebeneinanderstehen. Wenn er von „Lernschule“ spricht, dann meint er darüber hinaus aber auch, dass Kirche und Gesellschaft an der Bibel lernen können, wie Pluralität und Einheit, Beziehung und Freiheit zusammengehen.
Blickt man ein wenig in die Geschichte, so ist festzustellen, dass die christlichen Kirchen die Bibel auch immer so gelesen haben, nämlich als eine Versammlung von Texten, die eine Einheit bilden, weil sie sich aufeinander beziehen, die man aber nicht unbedingt als einen fortlaufenden Text nacheinander lesen muss. Wer also so etwas wie einen Roman lesen will, der/die sollte lieber nicht zur Bibel greifen. Wer den einen gradlinigen Erzählfaden sucht, ist bei Dan Brown vermutlich besser aufgehoben.
Das heißt aber nicht, dass es in der Bibel überhaupt keine Signale für bestimmte Leserichtungen gibt. Vielmehr gibt es durchaus Teile, die man am besten vor anderen Texten liest, und manches sollte man auch eher fortlaufend lesen.
So lohnt es sich zum Beispiel sicher, das Alte Testament zu kennen, bevor ich das Neue Testament lese, weil mir sonst die vielen Anspielungen und Verknüpfungen entgehen, mit denen die neutestamentlichen Texte auf das verweisen, was für die frühen Christinnen und Christen die Bibel war. Die früheste Kirche kam ja aus dem Judentum und sie kannte das Neue Testament noch nicht, weil die betreffenden Texte ja erst geschrieben wurden: die Briefe des Paulus, später die Evangelien, die anderen Briefe und die Johannesoffenbarung. Für die erste, apostolische Generation war die Heilige Schrift das, was wir heute Altes Testament nennen. Wenn sie also die Botschaft von Jesus als Offenbarung Gottes – und zwar des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs! – erzählen wollten, dann mussten sie die Geschichte von Jesus als Fortsetzung der Geschichte Israels mit Gott erzählen, dann mussten sie die Texte ihres Jesus-Glaubens in Beziehung setzen zu ihrer Bibel. Deshalb sind alle neutestamentlichen Texte gespickt mit Rückverweisen auf die jüdische Bibel, die die frühe Kirche übrigens nicht im hebräischen Original, sondern in einer griechischen Übersetzung („Septuaginta“) las.
Durch eine Fülle von Motiven, Zitaten und Anspielungen sind die frühchristlichen Schriften, die später (ab dem 2. Jh. n. Chr.) dann als Neues Testament gesammelt wurden, mit der jüdischen Bibel verwoben. Wer also das Alte Testament nicht kennt, wird sich mit dem Neuen Testament schwertun. Um noch einmal Agatha Christie zu bemühen: Was nützt die intelligenteste Enttarnung des Mörders, wenn ich nicht weiß, wer wann und warum umgebracht wurde? Mit den Rückverweisen der neutestamentlichen Texte auf die jüdische Bibel ist also eine grobe Leserichtung in die Texte selbst eingeschrieben: erst das Alte Testament, dann das Neue. Wer dazu keine Lust hat, der/ die muss damit leben, dass entweder vieles unverständlich bleibt oder immer wieder Zurückblättern notwendig ist, um die betreffenden alttestamentlichen Bezugstexte kennen zu lernen. Eine gute Hilfe dazu sind übrigens die Hinweise, die in den meisten Übersetzungen am Rand oder in Anmerkungen stehen.