Читать книгу Der Gott des Zwielichts - Joachim Kurtz - Страница 4

Der Hang war steil,

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die Stämme von hohem und schlanken Wuchs, und um die bastgeschnürten Fellstiefel der leicht gebeugten Gestalt, die mit weit ausholenden Schritten bergan stapfte, raschelte das Laub vom Vorjahr. Das einzige noch vorhandene Grün trugen die Kiefern, die vereinzelt zwischen den Buchen und weniger zahlreichen Eichen aufragten. Die Wintersonnwende lag mehr als zwanzig Tage zurück, und wer dafür sehr empfänglich war, nahm bereits eine leise, ganz leise Veränderung in der Länge des Tages gegenüber der Nacht wahr. Aber Kälte und Frost waren noch lange nicht überstanden, das heißt eigentlich hatten sie erst begonnen, auch wenn es gerade trügerisch milde war und kein Schnee lag. Der Himmel war überzogen von gleichmäßigem Grau. Ein matter, schwefliger Glanz drang durchs Geäst und legte sich fahl auf die Stämme, wenn der Schleier sich ab und an etwas lichtete.

Der einsame Wanderer schien seinen Weg zu kennen, zielsicher schritt er voran und zog kurze Furchen durch das knöchelhohe Laub, das gleich darauf wieder in sich zusammenfiel. Er schien kräftig und hochgewachsen, zäh wie Wurzelholz, und ein breiter, dichter, von stahlgrauen Strähnen durchzogener Bart wucherte in seinen Umhang hinein, der über der Brust von einer silbernen Spange zusammengehalten wurde. Die Kapuze hatte er zurückgeschlagen. Alle zwei bis drei Schritte stieß er die Spitze seines knorrigen Wanderstabs, der lang genug war um leicht seine Schulter zu überragen, fest in die Erde.

Dabei sah er keineswegs aus, als ob er einer Gehhilfe bedürfe. Niemand hätte sagen können, wie lange er wohl unterwegs gewesen sein mochte, aber er schien nicht müde. Andererseits mußte er von weither gekommen sein, denn in einem Umkreis von zwei Tagesmärschen gab es nicht die geringste Spur menschlicher Besiedlung, geschweige denn eine Unterkunft, die ihm hätte zur Rast dienen können. Auch trug er kein Marschgepäck, es sei denn er hatte noch etwas unter seinem grobgewebten Umhang verborgen. In seinem Blick lag Entschlossenheit, wenn auch überschattet von einer gewissen Melancholie. Dunkles Haupthaar teilte sich rechtsseitig an seiner Stirn und floß ihm dick, aber ungleichmäßig verteilt über die Schultern.

Er beschritt den Hang in einer Zickzacklinie, ging aber nach links immer ein gutes Stück weiter als nach rechts, und mit deutlich weniger Steigung, so daß er nur langsam an Höhe gewann. Stetig arbeitete er sich in westlich-nordwestlicher Richtung zwischen den Bäumen voran. Abgesehen von einigen Haselsträuchern war nur wenig Unterholz vorhanden, das weiter unten im Tal wesentlich dichter wuchs.

Dort angekommen, wo die Bergflanke sich sanft zur anderen Seite hin wölbte und einen kaum merklichen, abfallenden Grat bildete, machte er halt. Er schien auf etwas zu lauschen, aber nicht auf den schnarrenden Ruf der Krähe, der aus geringer Entfernung zu vernehmen war. Sein Blick war einwärts gerichtet. Weil er aber dastand wie ein Fels, schien er nicht in sich selbst, sondern vielmehr tief ins Innere des mit ihm wie verwachsenen Erdreichs zu blicken. Dorthin waren jetzt in der Tat alle seine Sinne gerichtet. Er verharrte unbeweglich wie ein Standbild und hielt seinen Stab frei über den Boden. Lange stand er so. Bis er den Stab mit einer plötzlichen Bewegung abwärtsrammte. Und dann noch einmal. Und, mit aller Kraft, ein drittes Mal.

Der dritte Stoß blieb nicht unbeantwortet. Von weit her war ein dumpfes Grollen zu vernehmen, tief aus den Eingeweiden der Erde, und fast zeitgleich erschauerte der Berg. Der Boden bebte nur leicht, und doch setzte sich das Zittern an den Baumstämmen fort, lief wie eine Welle bis hinauf in die Kronen und in die äußersten Zweige. Vereinzelt segelten dürre Blattreste zu Boden, fielen abgestorbene Kiefernnadeln herab. Der Wald wurde aus seiner Winterruhe aufgeschreckt. Der Eichelhäher pfiff, und ein Eichhörnchen huschte verschreckt über nackte Äste.

Der Wanderer wandte wie suchend den Kopf. Dann, nach einem kurzen Moment des Zögerns, hielt er auf eine Felsspalte zu, die sich im Schoß des vor ihm hingebreiteten Hanges geöffnet hatte, jetzt nicht ohne Anzeichen leichter Erschöpfung.

Er tastete sich voran an trockenen, frisch geborstenen Wänden. Entlang unzähliger Windungen ging es tief ins Innere des Bergs. Bereits wenige Schritte nachdem er den Eingang hinter sich gelassen hatte, herrschte pechschwarze Finsternis. Kein Laut der Außenwelt drang mehr herein. Weiter und weiter ging es hinab, Biegung um Biegung wand sich der klammenge Weg in den Fels, sinnverwirrend, weil ohne jeden Anhalt zur Orientierung.

Wer jedoch die Fähigkeit besitzt, mittels Stockschläge den Schoß der Erde zu sprengen, oder eine andere Macht dazu zu bewegen ihn in seinem Namen zu öffnen, der ist sicher auch sonst auf keine gewöhnlichen Mittel angewiesen. Irgendwann, nach einer schier endlosen Wegstrecke, begann sich die rechte Felswand immer mehr herabzuneigen, bis die Enge erdrückend wurde. Der Spalt hatte jetzt eine leichte Schräglage und wurde so schmal, daß man sich nicht einmal mehr hätte umdrehen können. Dann schien auf einmal gar kein Durchgang mehr vorhanden zu sein, als die Wände so weit zusammenrückten, daß kaum mehr eine Hand dazwischen paßte. Genau an dieser Stelle war aber auch ein Luftzug zu spüren.

Eine Donnerstimme hallte mit solcher Macht durch den Fels, als ob sie allein den Durchgang sprengen sollte:

„Faowgh!!!“

Dumpf setzte sich das Echo auf der anderen Seite des Spalts fort und verlor sich in der Weite einer Felshalle gewaltigen Ausmaßes. Sonst war keine Antwort zu vernehmen, aber dafür begann sich der Felsriß nach und nach glutrot in der Dunkelheit abzuzeichnen, wie eine Ader schmelzenden Erzes.

„Faowgh!“ brüllte der Besucher erneut. „Laß mich ein, du stinkende Schlange! Du bist der einzige Gebieter an diesem Ort. Nur dir gehorcht das Skelett der Erde, das weißt du genau.“

Das Schauspiel vollzog sich als das, was es im Grunde war: ein Erwachen. Die rubinrot gewordene Lichtader veränderte weiter ihre Farbe, langsam, aber stetig. Fast blendend drang es jetzt durch den engen Spalt, ein orangegelber Widerschein, der die ruppigen Ausformungen der Felswand betastete, sie aus der schwarzen Einförmigkeit herausmodellierte. Und eine weitere Stimme ertönte. Nicht laut, nicht ohrenbetäubend, aber dunkel und alles durchdringend, alptraumhaft nah, ein langgezogenes Grollen aus den Tiefen einer Kehle, deren entsetzliche Vorstellung allein genügt hätte, einen Mann um den Verstand zu bringen. Lange rollte die ungeheure Stimme dahin, bis sie schließlich am Ende einen deutlich verständlich Namen artikulierte:

„Rrrrrrrrrrrrakhmyr......“

„Ja, ich bin es“, donnerte es zurück. „Rakhmyr. So nennt mich dein Volk, Faghnar das meine. Und nun öffne den Spalt und laß mich hinein. Hast du mich etwa nicht gerufen? So zwinge mich auch nicht, in Gestalt einer Maus vor dich zu treten....“

Noch immer tat sich nichts, wurde dem Verlangen des Besuchers nicht stattgegeben. Der Herr dieses Ortes schien seine Macht auszukosten. Wieder ertönte das Grollen, das der, dem es galt, als hämisches Lachen zu deuten wußte.

„Faowgh“, klang es jetzt fast wie eine Bitte, „im Namen des Feuers, das du hütest, und im Namen von Ghléan, geachtet von dir und den deinen: öffne den Fels und laß mich ein!“

„Ha! in Gestalt einer Maus“, tönte es höhnisch zurück. „Das sähe dir ähnlich, erbärmlicher Vagabund. Passen würde es jedenfalls zur Farbe deines Gewands. Aber bitte – “ Auf die letzten Worte folgte ein sengender, weißglühender Blitz, und mit einem letzten, betäubenden Krachen barst die Öffnung auseinander. „Niemand soll sagen dürfen, Faowgh wüßte Gäste nicht zu empfangen.“ Faghnar wartete, bis auch die letzten Gesteinsbrocken herabgepoltert waren und betrat so befreit die Halle.

Und stand endlich vor ihm: Faowgh, dem Gewaltigen, dem Einzigen seiner Art. Und er sein Rivale.

Es waren die Augen, die leuchteten. Seitlich am Kopf sitzend, verströmten sie Glutlicht wie das einer Esse. Faghnar war auf einem erhöhten Felsvorsprung in die Halle getreten, und Faowghs linkes Auge war das erste was er zu sehen bekam, da es sich auf gleicher Höhe mit ihm befand. Er schlug seinen Mantel enger um sich und schritt darauf zu. Was leuchtete, waren die vorstehenden Augenbälle, und obwohl ihr Licht die Felshalle fast bis in die letzten Winkel erhellte, war es nicht grell. Aber mitten in dem Leuchten stand die Pupille, mannshoch, oben und unten spitz zulaufend, ein pechschwarzer Spalt von Dunkelheit in einem Meer von Licht, eine Bresche zu den Abgründen unsagbarer Finsternis. Unterhalb der Augen rundeten sich mit weitem Schwung die Backenknochen, und darunter wiederum waren Schädel und Unterkiefer ineinander gefügt. Zwei Reihen spitzer, ungleichmäßiger, elfenbeinfarbener Zähne verliefen weithin bis zur Kopfspitze, wo sich die Nüstern blähten. Wie ein schmaler, roter Bach schlängelte sich die Zunge über die Zahnpalisade und gabelte sich am Ende.

Der Drache verharrte bewegungslos, und Faghnar ließ sich furchtlos nieder. Genau dem Auge gegenüber setzte er sich, so nahe, daß er es mit der Spitze seines Stabes hätte berühren können.

Eine ganze Weile geschah nichts. Keiner von beiden hatte auch nur die geringste Eile. Faghnar wandte den Kopf nach rechts und ließ den Blick über Faowghs langen, massigen, gewunden daliegenden Körper gleiten, der das Innere des Berges wie dessen äußeres Abbild durchzog. Er genoß einen Anblick, wie er nur den wenigsten je vergönnt war: Myriaden und Abermyriaden von Schuppen glitzerten smaragdgrün vom Rumpf und von den Gliedmaßen, brachen das aus den Augen strömende Licht und ließen den Widerschein ringsum über die Felswände tanzen. Eine lange Reihe knochiger Zacken krönte den Körper, schlängelte sich wie ein zerklüfteter Bergkamm vom Kopf her über den Rücken, aus dem Nacken heraus mählich ansteigend, bis sie etwa über den Lenden den höchsten Punkt erreicht hatte und von da aus sanft wieder abfiel, um als Aneinanderreihung zahlloser kleiner Zinnen dem Schwanz bis an die eingeringelte Spitze zu folgen. Zwischen den muskulösen Beinen lag gefaltet ein ledriger Flügel, der ausgebreitet an den einer gigantischen Fledermaus erinnert hätte. Jede seiner vier knöchernen Streben, wie auch die Spitze an der sie miteinander verwachsen waren, liefen zu einer scharfen Kralle aus. Der gegenüberliegende Flügel war nicht zu sehen, der dazwischenliegende Rumpf verdeckte ihn.

Schließlich war es Faowgh, der das Schweigen brach:

„Es ist lange her, seit wir uns zuletzt begegnet sind, Rakhmyr…. sehr lange!“

„Oh ja, alter Freund, eine lange, lange Zeit. Selbst für unsereinen.“

„Aber keiner von uns würde je vergessen, nicht wahr?“

„Das will ich meinen!“

„Weder du noch ich.“

„Und du sicher am wenigsten.“

„Nicht ohne Grund, wie du weißt.“

Faghnar sinnierte vor sich hin. Seinem geschuppten Gastgeber war keine Regung anzumerken, aber wenn es irgendwen gab, der ihn kannte, dann er, Faghnar. Stille umfing sie, tief wie ein See. Die Erinnerung trieb darin wie ein Schatten. Sie war ihnen beiden gemeinsam und verband sie wie eine Brücke, war beredter und lebendiger als jedes Gespräch. Auge war auf Auge gerichtet, aber dazwischen standen die Bilder. Faghnar hielt mit geballten Fäusten den Stab, den er vor sich auf den Knien liegen hatte, wie zur Abwehr einer Gefahr.

„Nun“, nahm er den Faden wieder auf, „weshalb hast du mich gerufen? Dein gräßliches Knurren drang bis in die entferntesten Täler und die Ebene, ich hörte es durch die Winterstille, als es den Reif von Halmen und Ästen vertrieb. Unter jedem Stein, den ich umdrehte, konnte ich es hören. Der Bhréandyr beschleunigte seinen Lauf. Und eine Natter sah ich ihr Nest verlassen, das war das untrüglichste Zeichen, eine Schlange, mitten im Winter! Die Richtung in die sie floh wies mir den Weg, ich brauchte nur entgegengesetzt zu gehen….“

„Und du hast nicht gesäumt, wie ich sehe.“

„Dazu hatte ich auch keinerlei Anlaß.“

„Nein?“

„Ich hatte auf deinen Ruf gewartet.“

„Du wolltest mich sehen?“ fragte Faowgh listig.

„Tu nicht, als wüßtest du es nicht!“

Faghnars Stimme verriet Ärger. Erst nach einer Weile fuhr er fort:

„Etwas Seltsames geht vor sich. Im Herbst fand ich Aufnahme bei einem Flußfischer und Fährmann. Er und sein Weib bewohnen eine ärmliche Hütte am diesseitigen Ufer des Bhréandyr. Ich brauche dir nicht zu sagen, was für ein hartes Leben sie führen. Es gab wenig Lachse dieses Jahr, fast sah es so aus, als würden sie ganz ausbleiben. Die Steuern dagegen drücken wie immer. Und mehr noch als sonst, denn der Großkönig führt Krieg gegen die Stämme im Osten….“

„Ja!“ fiel ihm Faowgh grimmig lachend ins Wort. „Seltsames geht vor sich, da hast du recht. Ammen und alte Weiber verlernen die Kunst des Erzählens. Die Vandrimar vergessen, daß auch sie einst von Osten kamen. Hat Mraeghdar an den langen Winterabenden nichts von den Taten der Alten vernommen? Mangelt es ihm an Barden, die davon singen? Oder ist es Neid auf ihren Ruhm, der ihn plagt, so daß er eigene Siege erkämpfen muß?“

„Mraeghdar ist jähzornig und grausam“, versetzte Faghnar. „Ich liebe ihn nicht. Einmal sah ich, wie er ein Pferd erschlug weil es lahmte. Was sage ich, ein Pferd – das edelste Roß aus seinem Gestüt! Als der Marschall, der es herangezogen hatte, weinend vor ihm auf die Knie fiel und ihn bat, das Tier zu verschonen, geriet der Herrscher vollends außer sich. ‚Du bettelst um Milde für eine Mähre?’ brüllte er ihn an. ‚Nimm den Gäulen die Arbeit ab, wenn du so um sie besorgt bist!’ Darauf ließ er ihn nackt vor einen Pflug spannen, den er ihn über ein distelbewachsenes Brachfeld ziehen hieß, und peitschte ihn dabei halb zu Tode.“

Faghnar hielt einen Moment inne.

„Zu solchen Schandtaten ist Mraeghdar fähig, und zu schlimmeren. Aber die Feindschaft mit den Stämmen im Osten hat er nicht gesucht. Es waren die Feinde, die ihn gesucht haben, ihn und sein Volk, zu dessen Schutz er verpflichtet ist.“

„Die Vandrimar sind Krieger und stolz darauf“, entgegnete Faowgh. „Wollen sie ihr Handwerk nicht verlernen, brauchen sie Feinde; die Bedrängten von einst sind zunichte, und ihr Platz ist es, den sie eingenommen haben.“

„Sie sollten ihren Bedrängern dankbar sein, meinst du?“

Das Schweigen des Drachen faßte Faghnar als Bestätigung auf.

„Und auf ihre Art sind sie es“, stimmte er selbst zu. „Aber du bringst mich von meiner Erzählung ab. Wie ich sagte: ein Flußfischer, in einer Biegung des Rymnaegh Bhréandyr. Zwischen Weiden am Ufer steht seine Hütte, auf Pfählen, hoch genug, um nicht überschwemmt zu werden, wenn im Frühjahr der Fluß die Ebene flutet. Zieht sich das Wasser dann wieder zurück, sammeln Eltern und Kind die Krebse von den Uferwiesen und aus dem Gesträuch….“ Bei den letzten Worten verdüsterte sich Faghnars Miene. „So pflegten sie jedenfalls zu tun. Der Fischer und seine Frau hatten eine Tochter. Hätte das Mädchen diesen Winter überstanden, wäre es ihr neunter gewesen. Es war ihr einziges Kind.“ Faghnar verlagerte seinen Oberkörper ein wenig nach vorne und stemmte seinen Stab wie eine Lanze zwischen den Knien auf, ehe er hinzufügte: „Und ihr einziger Reichtum. Was war sie für ein Geschöpf! Wie sie ihre dunklen Augen über den breiten, geröteten Wangen weitete, als sie mich zum ersten Mal sah. Die Locken fielen ihr wie bronzene Ringe über die Schultern, und leichter als ein Wiesel sprang sie zwischen den Bäumen herum. Sie war es auch, die mich fand.“

„Einen gewaltigen Schreck wirst du dem armen Ding eingejagt haben mit deiner borstigen Fratze….“

Faghnar schüttete sich aus vor Lachen.

„Ja, das mag wohl sein. Wie ein Blitz lief sie zu ihrem Vater, der mir kurz darauf mit der zitternden Kleinen an der Hand entgegenkam, argwöhnisch zunächst. Er fragte mich, wo ich herkäme, wo ich hinwolle, was meine Absichten seien. Ich gab mich als wandernder Korbflechter zu erkennen. Er prüfte mich weiter mit Fragen und abschätzigen Blicken, und es brauchte seine Zeit, bis sein Mißtrauen verflogen war. Und doch saß ich am gleichen Abend bei den Fischersleuten am Herdfeuer und teilte ihr ärmliches Mahl. Am schnellsten gewöhnte sich nach dem ersten Schrecken das Mädchen an mich, wie es Kindern eigen ist: eben bist du ihnen noch fremder als ein Reiter aus der Steppe, und im nächsten Augenblick hängen sie an dir wie eine Klette. Sie bettelte ihre Eltern an, mich bei ihnen bleiben zu lassen, und so geschah es.

In den folgenden Tagen half ich dem Mann beim Ausbessern seiner Fischwehr und zeigte ihm dabei viele Handgriffe. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, was er alles von mir lernte. Ich nahm dafür nichts als den Schlafplatz am Herd, und an Speise gerade so viel, wie die guten Leute für mich entbehren konnten. Sicher wäre ich den ganzen Winter bei ihnen geblieben, wenn nicht….“

„Wenn nicht?“

Faghnar strich sich den Bart und erwiderte Faowghs grimmen Blick.

„Es geschah, was nie hätte geschehen dürfen. Ein Unheil, das selbst ich nicht von der Familie abwenden konnte. Eines Morgens nach dem ersten Frost zog das Mädchen alleine los, Schlehen zu sammeln. Ich witterte nicht die geringste Gefahr weit und breit, so blieb ich zurück und schnitt Schilf, um das Dach auszuflicken. Der Fischer war den ganzen Tag damit beschäftigt, mit zwei Zimmerleuten Eichenstämme den Bhréandyr hinauf zu flößen. Es wurde Mittag, ich war mit Schilfschneiden fertig und die Kleine war immer noch nicht zurück. Die Mutter schien unbesorgt. Sie wußte, daß ihre Tochter ein Kind der Wälder war, tiefer mit ihren Geheimnissen und Gefahren vertraut als eine Wildkatze. Also machte ich mich daran, die schadhaften Stellen am Dach der Hütte zu beheben. Die Stunden verstrichen, das Mädchen kam immer noch nicht zurück, aber ich war weiterhin unfähig, das Unheil zu orten. Mein einwärts gewandtes Auge versagte. Allmählich wurde es Abend, das Ende eines kühlen, sonnigen Tages, der den Winter ankündigte, und als der westliche Rand des Himmels zu glühen begann wie ein Eisen in der Schmiede, sah ich Ghléan, meine Schwester. So wie ich sie am liebsten sehe: jung, eine Jägerin, mit ihrem silbernen Bogen das Firmament herabsteigend. Und da, genau in diesem Augenblick, durchbohrte es mich wie ein Pfeilschuß aus dem Hinterhalt.“

Faghnar krallte seine breiten, knochigen Hände um den Schaft und blickte zu Boden.

„Auch wußte ich sofort, daß jede Rettung zu spät kam. Ghléan war von jetzt an mein Auge, in dem sie sich spiegelte. Ihr Blick geht überall hin, wie du weißt. Ich erstarrte, als ich das Geschehene sah. Je mehr ich mir bewußt wurde, wie nahe das Kind schon gewesen war, desto hilfloser wurde ich in meiner Wut. So nahe, wie der Rabe mit dreihundert Flügelschlägen fliegt, und ich stand hier auf dem Dach und verrichtete die Arbeit eines Tagelöhners! Meine nächste Umgebung zerfloß in einem Nebel; ich sah nur das Kind, wo es lag. Es war die Stimme der Mutter, die mich wieder zu mir brachte. Sie war nun doch in Sorge und rief vom Rand der Lichtung aus laut nach ihrer Tochter. Als sie vom Wald her keine Antwort erhielt, rief sie mich. Und, Faowgh, dies eine behalte für dich, wie groß unser Zwist auch sein möge: daß Faghnar sich schämte, den Blick eines einfachen Weibes als ein Lügner erwidern zu müssen. Ich verstellte mich wie die Spielleute, wenn sie Krieger oder niederes Volk unterhalten….“

„Das ist nichts Neues an dir“ unterbrach Faowgh.

„….und verschwieg somit, was ich bereits mit Sicherheit wußte. Die Frau blickte mich vertrauensvoll an. Sie las in meinen Zügen wie jemand der nicht weiß, ob seine Sorgen begründet oder unbegründet sind, aber doch eine Bestätigung für das letztere sucht. Gerade als sie mich alleine auf die Suche nach dem Kind schicken wollte, hörten wir die Stimme des Fischers, der froh war sein Floß am Ufer zu vertäuen, müde von seinem Tagwerk und sehnsüchtig nach dem wärmenden Herdfeuer. Als er vernahm, daß seine Tochter seit dem Morgen nicht aus dem Wald zurückgekehrt war, wurde er so fahl wie die Asche, die sein Weib jeden Morgen in den Fluß streut. Er verlor keinen Augenblick mit weiteren Fragen. Ich begab mich eilends mit ihm auf die Suche, nahm eine andere Richtung als er, wußte aber seine Schritte so zu lenken, daß er die Leiche des Kindes selbst finden mußte. Und dann….“

Faghnar seufzte.

„Dann hörte ich seinen Schrei.“

Gedankenverloren kratzte Faghnar mit der Spitze seines langen Stabes auf dem Boden herum, als wolle er damit Worte aus dem Fels stochern, um seine Erzählung fortzuführen.

„Ich kenne die Schreie der Menschen, Faowgh. Ich habe sie oft gehört. Ich hörte sie auf den Schlachtfeldern, wo das Morden tausendfach war, und ich hörte die Klage der Mütter um ihre gefallenen Söhne und geschändeten Töchter, oder wenn sie selbst den siegreichen Feinden anheimfielen. Aber nie, nicht einmal aus den Mündern der lebendig ins Feuer geworfenen, hörte ich einen Schrei wie den des Fischers, als er sein einziges Kind fand.“

„Warum tatest du nichts, ihm den Anblick zu ersparen?“ fragte der Drache. „Liebst du die Vandrimar nicht mehr?“

„Ich liebe sie mehr denn je. Aber was wäre durch Unwissen für den Mann gewonnen gewesen? Die nie sich erfüllende Hoffnung, seine Tochter eines Tages lebendig wiederzusehen? Die Barmherzigkeit einer Täuschung? Nein. Laß die Menschen der Wahrheit ins Auge sehen, selbst wenn sie daran zerbrechen! Nur wer die bittere Wahrheit erträgt, ist stark genug das Leben zu meistern.“

Nach einer Weile fuhr Faghnar fort:

„Sie war entsetzlich zugerichtet. Die Kehle klaffte weit und rot auseinander, zerrissen von einer gewaltigen Kralle. Es war nicht der glatte Schnitt einer Klinge, der sie durchtrennt hatte.“ Bei den letzten Worten verhärteten sich Faghnars Züge, und ein gefährliches Funkeln lag in seinem auf Faowgh gerichteten Blick. „Ich fand ihren Vater über sie gebeugt, ihren Kopf in seiner Armbeuge, er wiegte sie sanft hin und her. Sein Blick war gebrochen, aber noch trat keine Träne in seine Augen. Er hielt sie wie jemand, der sein Kind zum allerletzten Mal in den Schlaf wiegt. Er bemerkte zuerst gar nicht, daß ich neben ihn getreten war. Ganz langsam wandte er mir schließlich den Kopf zu, den Mund wie zum Weinen verzerrt, aber kein Laut drang aus seiner Kehle. Es dämmerte, fast wurde es schon Nacht, und wir hörten die Frau vom Waldrand her rufen. Schließlich überwand er sich und hob sachte das Kind vom Boden auf. Ich ging ihm voraus, der Mutter entgegen, um sie auf den Anblick vorzubereiten. Dafür bedurfte es keiner Worte. Als sie mich langsam und schweigend auf sie zutreten sah, fiel sie zunächst in eine ähnliche Starre wie zuvor schon ihr Mann, mit vor das Gesicht geschlagenen Händen. Dann sah sie den Vater mit dem toten Kind auf dem Arm hinter mir herschreiten und….“

Faghnar hielt in seiner Erzählung inne. Sein Blick ging ins Leere. Zweifellos hatte er manches aus seinem Bericht ausgelassen, als er nach einer Weile fortfuhr:

„Es war eine heitere, sorgenfreie Zeit, die ich den Fischern beschert hatte. Bis jener Mord geschah und ihr ein häßliches Ende setzte. Nie hat Faghnar jemandes Gastfreundschaft schlechter vergolten als durch seine Unachtsamkeit an jenem Tag. Wie konnte dies unter meiner Obhut geschehen?“ haderte er mit sich selbst. „Wie konnte ich mich so schändlich täuschen lassen? Ich, Faghnar, von dem die Menschen lernten, sich das Feuer dienstbar zu machen!?“

Er hielt inne und durchbohrte seinen Zuhörer mit einem herausfordernden Blick. Der Drache erwiderte ihn unbeeindruckt und schien nicht im geringsten bereit, auf eine Provokation einzugehen.

„Noch immer weiß ich nicht, welcher Art von Blendung ich erlag. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Und es wird ewig an mir haften. Keine Vergeltung wird den Eltern je ihre Gram nehmen können. Wölfe geben ihr Leben hin, um das ihrer Welpen zu sichern. Was könnte es da für die Menschen schlimmeres geben, als den Tod ihrer eigenen Nachkommen beweinen zu müssen?

Die Fischer bahrten das Kind in der Hütte auf“, setzte Faghnar seine Erzählung fort, nachdem er eine Weile dumpf vor sich hin gebrütet hatte. „Der Frost dauerte an. Das Herdfeuer ließen sie während der folgenden Tage beinahe erlöschen, aber die Frau streute getrockneten wilden Thymian auf die spärlich flackernde Glut. Das Mädchen lag zugedeckt bis zur Brust, und der Hals war mit Birkenrinde umwickelt, so daß die gräßliche Wunde nicht zu sehen war. Der Mund war ganz leicht geöffnet, und die Augen hatte ihr der Vater geschlossen als er sie fand. Näher hätte ihr Anblick dem eines schlafenden Kindes nicht kommen können. Die Fischer sind zähe Leute und das Weinen nicht gewöhnt, weswegen ihre Tränen bald versiegt waren. Aber die Stille, steinern und kalt wie der Schmerz den sie in der Brust trugen, erfüllte die Hütte wie die lauteste Klage. Tag wurde zu Nacht, auf Nacht folgte Morgen, und immer wachte jemand neben dem Leichnam. Oft saßen der Fischer und ich Seite an Seite. Einmal brach er sein bitteres Schweigen mit den Worten:

‚Du bist ein Wanderer und kommst viel herum. Sag mir: hast du je eine Wunde gesehen wie die, welche die Kehle meiner Tochter durchtrennt?’

Ich verneinte, der Wahrheit gemäß.

‚Und hast du je von einem wilden Tier gehört, daß seine Jagdbeute liegen läßt ohne seinen Hunger daran zu stillen?’

Ich verneinte abermals. Wir waren im ersten Licht des folgenden Tages zum Ort des Überfalls zurückgekehrt, zu sehen, ob wir irgendwelche Spuren fänden. Die des Kindes verfolgten wir zurück, soweit sie uns in den Wald hineinführten, entdeckten aber nicht den geringsten Hinweis auf das fremde Wesen, das es getötet hatte. Einzig der gewaltsame Tod des Mädchens zeugte von seiner Existenz.

‚In harten Wintern sind wir hier oft vor den Wölfen auf der Hut’ sagte der Fischer, ‚aber dafür wäre es noch zu früh. Flußaufwärts gibt es eine Stelle, wo der Bär sich jeden Herbst Lachse fängt, was meiner Ausbeute in guten Jahren kaum schadet. Dieses Jahr mußte er wohl darben. Aber der Abdruck seiner Tatzen wäre nicht zu übersehen gewesen, wenn....’

Er ließ unausgesprochen, was er andeuten wollte, und ich stimmte ihm stillschweigend zu.

‚Was immer es war’ führte er seinen Gedanken schließlich zu Ende: ‚Es tötete meine Tochter um des Tötens willen. Aber warum? Gegen welchen Gott oder Dämon des Waldes haben wir uns nur verfehlt?’

Er erwartete nicht, daß ich es wüßte, schließlich war ich für ihn nur ein einfacher Korbflechter, so wenig mit tieferen Dingen vertraut wie er selbst. Allein, ich hatte seine Zuneigung gewonnen. Aber noch war es nicht Zeit, mich ihm zu offenbaren, zumal meine eigene Ratlosigkeit der seinen tatsächlich gleichkam.

Am folgenden Morgen erhob sich die Frau von ihrem Lager, kniete neben der Bahre nieder, streichelte ihrer Tochter noch einige Male zärtlich durchs Haar und ging dann zur Feuerstelle, wo sie lange sitzenblieb. Ich brachte ihr trockene Zweige und Äste und legte sie ihr vor die Füße, aber sie hatte schon von selbst verstanden, daß es Zeit war Abschied zu nehmen. So wischte sie sich zwei letzte große Tränen ab, die über ihr Gesicht rollten, und blies das Feuer an. Später an diesem Tag schichtete der Mann nicht weit vom Flußufer Reisig und Äste aufeinander, während sie an dem Kind die letzten Vorbereitungen zur Bestattung traf. Eine Puppe, die sie ihr einmal genäht, und ein Holzpferdchen, daß der Vater ihr geschnitzt hatte, waren die einzigen Grabbeigaben. Gegen Abend trugen wir den Leichnam hinaus und betteten ihn unter dem bleigrauen Himmel auf den Scheiterhaufen. Die Mutter schritt neben uns her und brachte Feuer in einem irdenen Gefäß. Sie stellte es am Fuß des Scheiterhaufens ab; wir sahen schweigend zu, wie der eisige Wind das Reisig entfachte, und im Nu loderten die Flammen mannshoch. Niemand wollte sehen, wie sie den vorzeitig seines Lebens beraubten Körper verzehrten, und so verbargen wir das Gesicht vor ihnen oder blickten starr zu Boden. Und während sie nach und nach herunterbrannten, wurden wir von der blauen Dämmerung eingehüllt.

Schließlich bückte sich die Frau und entzündete an der noch züngelnden Glut ein Talglicht, leicht genug, daß die Strömung des Flusses es auf einem breiten, flachen Korb aus Schilf trug, den ich eigens geflochten hatte. Vorsichtig bestieg sie damit das Floß, ihr Mann folgte ihr und stieß es vom Ufer ab, wo er es mit einem langen Seil vertäut hatte. Ich blieb wartend zurück. Als sie die Mitte des breiten Stroms erreicht hatten, empfahlen die Eltern die Seele ihres Kindes dem Bhréandyr, daß er sie sicher geleiten möge. Dann ließ die Mutter langsam, ganz langsam das Licht zu Wasser, und nachdem die Strömung es einmal erfaßt hatte, trieb es wie ein verirrtes Glühwürmchen durch die hereinbrechende Nacht. Ich sah, wie es sich flackernd entfernte und hinter der nächsten Flußbiegung von der Dunkelheit geschluckt wurde.“

„Und dafür bist du gekommen? Mich mit Begräbnisgeschichten zu langweilen?“

„Oh, ich bedaure sehr, daß ich nichts kurzweiligeres zu berichten habe; aber eigentlich kam ich ja in der Hoffnung, du würdest mir etwas erzählen.... Oder warum sonst hast du mich gerufen?“

„Das hat Zeit“, grollte es tief aus Faowghs Kehle. „Du bist doch nicht in Eile, Freund Rakhmyr?“

„Dann interessiert es dich vielleicht zu hören, was ich auf meiner weiteren Reise alles in Erfahrung brachte“, sprach Faghnar weiter. „Ich verließ die Fischer wenige Tage später, um flußaufwärts gen Kadhlynaegh zu ziehen. Ich sagte nicht Lebewohl, sondern machte mich in aller Frühe auf den Weg, als beide fest schliefen, noch immer erschöpft von den Tagen und Nächten des Trauerns. Aber ich hinterließ ihnen ein Abschiedsgeschenk, und ich bin sicher daß sie es als solches erkannt haben.

Bis ich die Stadt des Königs erreichte, stand der Mond wiederum im ersten Viertel. Ich reiste in vielerlei Gestalt, wie es meine Gewohnheit ist, und doch immer im gleichen Gewand. Bald war der Wald meine Straße, bald wanderte ich über die immer dichter besiedelten Auen. Zunächst legte ich meinen Weg bei Tag zurück. Nun ist mir während des langen Zeitalters seit Beginn meiner Wanderung an Gutem und Schlechtem alles von den Menschen widerfahren, was du dir auszudenken vermagst, außer dem einen: daß mich jemand nach Anbruch der Dämmerung noch durch seine Tür treten hieße. Denn das einfache Volk, mit dem ich am meisten verkehre, fürchtet die Nacht wie den ärgsten Feind, und mit ihr alle Kreaturen die sie hervorbringt. Aber diesmal kam es anders.

Ein alter Köhler, der die entlegenste Waldhütte in den Bergen südlich von hier bewohnte, fand mich nach Sonnenuntergang auf der Lichtung, wo er seinen Meiler hatte. Er war taub wie eine Nuß und schien etwas sonderbar, wie alle Menschen die so einsam und abgeschieden ihre Tage fristen. Aber seine Augen waren schärfer als die eines Habichts, jedenfalls auf eine gewisse Entfernung, und sogar im Halbdunkel. Er fürchtete sich kein bißchen; sobald er mich sah, rief er mich herbei und nötigte mich ohne Umschweife, bei ihm einzukehren. Die ersten Sterne funkelten wie geschliffene Gemmen am Abendhimmel, er sagte, es würde eine bitterkalte Nacht werden, und er wolle mich nicht draußen erfrieren lassen. Er meinte aber, noch eine weitere Erklärung für seine Gastlichkeit schuldig zu sein. Er fügte nämlich hinzu:

,Haeldwyr hat bereits ausgeschirrt, und Ghléan macht sich spät auf den Weg. Am frühen Morgen wärt Ihr mir weniger willkommen gewesen.’

So folgte ich ihm zu seiner Hütte, die geschützt hinter einem Bergvorsprung auf der Talsohle stand, nicht weit von der Lichtung entfernt. Dort teilte er seine dünne Nachtsuppe mit mir. Ich erwartete, daß er mich nach meinem Tun und Treiben ausfragen würde, aber er zeigte nicht das geringste Interesse daran, was draußen in der Welt alles vor sich ging. Ein anderes Leben als sein Köhlerdasein vermochte er sich gar nicht vorzustellen. Er hat das Handwerk von seinem Vater gelernt, und der von dem seinen. Er selbst ist kinderlos geblieben und seine Frau vor vielen Jahren davongelaufen, wahrscheinlich mit einem der Händler, von denen er im Tausch gegen seine Kohlen das nötigste zum Leben erwirbt. Menschliche Gesellschaft verabscheut er nicht, sie ist ihm vielmehr egal. Der Wald dagegen ist ihm Vater und Mutter. Er war die Wiege, der er entwachsen ist, und bald wird er das Grab sein, das ihn aufnimmt. Alle Dinge des Waldes, selbst wenn er sie nicht benennen kann, sind ihm seit jeher so bekannt, als gäbe es nichts anderes.

Als wir noch an der rußigen Feuerstelle beisammen saßen und einen Krug von seinem selbstgebrauten Met tranken, fragte ich ihn in Anspielung auf seine Einladung, oder besser darauf, wie er sie begründet hatte:

‚Wie kommt es, daß Ihr den Mond am Taghimmel mehr fürchtet als die Nacht ohne Mond?’

Er wandte den Kopf zur Seite, um mir das andere Ohr hinzuhalten, mit dem er etwas besser hörte, und forderte mich auf meine Frage zu wiederholen. Ich rief laut:

‚Ihr sagtet vorhin ganz richtig, daß der abnehmende Mond erst spät in der Nacht aufgeht. Weshalb hätte es Euch nicht behagt, mich am Morgen anzutreffen, wenn er noch hoch am Himmel steht?’

Er sperrte seinen mit wenigen gelben Zähnen bestückten Mund auf und blinzelte mich an, als hätte ich ihn gefragt warum Forellen nicht auf Bäumen wachsen. Dann schien ihm zu dämmern, daß ich sicher von weit her kam, von den Ufern des Bhréandyr vielleicht, den er nur aus Erzählungen kannte, oder womöglich von noch weiter weg. Und wie alle Fremden stellte ich seltsame Fragen. Er antwortete:

‚Haeldwyr verehre ich vor allen anderen Göttern. Er zeigt sich geradeheraus, wie er ist, sein Licht bringt den Tag und schärft meinen Blick. Ghléan und ihr Zwielicht sind dagegen verräterisch; immerzu wechselt sie ihre Gestalt, und weder bekennt sie sich zum Tag noch zur Nacht. Aber sie fürchte ich nicht. Was ich fürchte, sind die Wesen die mit ihr kommen und gehen....’

‚So, als hätten sie den Mond zum Taggestirn?’ warf ich ein.

‚Ich weiß ja nicht, wie Ihr es haltet’ sprach er weiter. ‚Aber Ihr seht mir nicht aus wie ein Mondwandler. Sucht Ihr nicht Zuflucht bei Nacht und geht Euren Geschäften dann nach, wenn die Sonne Eure Wege erhellt? So steht auch mir der Sinn. Der Mond mag kommen und gehen, wie er will: ich verrichte meine Arbeit bei Tag, und schlafe und wache mit Haeldwyr. Wenn Gnidhr ihm die Tore im Osten öffnet, bin ich meistens schon auf den Beinen, und spätestens wenn Haeldwyr seinen Wagen von Westen her wieder in die Unterwelt lenkt, zieht es auch mich unter mein Dach. Es sei denn, ich muß den brennenden Meiler bewachen. Im Wald aber wohnt manche seltsame Kreatur. Viele schlafen am Tag und kommen nachts aus ihrer Höhle, wie der Dachs. Und wieder andere richten sich nur nach dem Mond. Vor ihnen hüte ich mich am meisten.’

‚Und solche Wesen sind Euch begegnet?’ wollte ich wissen. Darauf kicherte der Alte wie ein erfahrener Haudegen, der sich in seinen Heldentaten sonnt und sich über die Unbedarftheit seiner Zuhörer lustig macht, vor denen er sie zum Besten gibt.

‚Ob sie mir begegnet sind?’ gluckste er. ‚Sie achten der Zäune und Wege, das ist unser Glück. Wo immer ein Feuer brennt und die Mitte einer Wohnung oder Arbeitsstätte bezeichnet, halten sie sich außerhalb der gesteckten Grenzen, der sichtbaren wie auch der unsichtbaren. Dem Auge entfliehen sie schneller als ein flinkes Wiesel, aber früher konnte ich sie oft hören. Und glaubt mir, ich spüre ihre auf mich gerichteten Blicke wie stechende Lanzen. Aber ihr Treiben ist unverläßlich und folgt keiner Regel oder festen Gewohnheit. Wenn sie auch nur mit dem Mond hervorkommen, so tun sie es längst nicht immer. Sie können mitunter Jahre ausbleiben, und ich bin überzeugt, sie wollen mich leichtsinnig machen und zur Unvorsicht verleiten. Aber so einfach ist der alte Bléaghwyn nicht zu überlisten. Sie haben es auf mich abgesehen, ja, denn sie wissen, daß ich zu gewissen Zeiten meinen Bereich verlassen muß, um gefälltes Holz beizuschaffen. Sie hoffen, daß ich den Mond vergesse und ihnen in die Falle laufe. Aber nicht mit mir, oh nein, nicht mit dem alten Bléaghwyn!’

Er kicherte weiter in sich hinein, und wer es nicht besser wüßte, hätte ihn in diesem Moment für verrückt halten mögen. Aber ich sah das Blitzen in seinen Augen, und es sagte mir, daß er wußte wovon er sprach.

‚Habt ihr je in irgendeiner Weise Schaden an ihnen genommen?’ fragte ich schließlich. Daraufhin kratzte er sich die weißen Bartstoppeln und sinnierte lange vor sich hin. Er schlürfte ein paar Mal an seinem Metkrug, ehe er weitersprach:

‚Ich war das dritte von vier Geschwistern. Meine Schwester, die älteste von uns, wurde in ihrem fünfzehnten Sommer einem Schmied zur Frau gegeben. Mit ihm zog sie weit weg, in die Ebene. Hernach habe ich sie nur noch zwei Mal gesehen. Mein jüngerer Bruder betrieb lange mit mir zusammen die Köhlerei. Noch vor der nächsten Sonnwende jährt es sich zum dreiundzwanzigsten Mal, daß er beim Aufstechen des Meilers eingebrochen und an den Brandwunden gestorben ist. Aber mein älterer Bruder....’

Er trank noch einen tiefen Zug, ehe er den Satz beendete:

‚Zwei oder drei Jahre, ehe sich die Schwester vermählte, ging er eines Morgens Gründlinge fangen und kam nicht wieder nach Hause....’

Es war nicht leicht, ihm die ganze Geschichte zu entlocken. Er erzählte sie stockend und verworren, auch wurde ihm die Zunge immer schwerer vom Met. Herauszuhören war aber, daß irgendwann die Schwester gelaufen kam und vor Entsetzen schrie, weil sie gesehen hatte daß der Bach Blut mit sich führte. Als man den Knaben talaufwärts suchen ging, fand man seinen entstellten Leichnam am Ufer liegend. Auch habe er an jenem Vormittag zum ersten Mal bewußt den Mond am blauen Taghimmel gesehen, sagte der Köhler. Es ist ihm unmöglich, diese Erinnerung nicht mit dem gewaltsamen Tod seines Bruders in Zusammenhang zu bringen.“

Faowgh sagte in die auf Faghnars letzten Satz folgende Stille hinein:

„Der Köhler spricht nicht schmeichelhaft von deiner Schwester.“

„Es wäre auch nicht recht, dies von ihm zu erwarten. Ghléan wandert über ihn hin, ein ums andere Mal, und achtet nicht seinergleichen und ihrer Geschicke. Vielleicht daß sie ihm etwas Licht spendet, in den langen Nächten wenn er auf der Hut sein muß, daß sein Meiler weder erlischt noch zu heiß wird. Und auch das nur, wenn ihr der Sinn danach steht. Kein Wunder, daß sie ihm launisch erscheint, und eins weiß ich sicher: sie selbst würde es ihm am wenigsten verdenken.“

„Und der Tod seines älteren Bruders.... gibt er nicht ihr insgeheim die Schuld?“

„Das habe ich so nicht verstanden. Er weiß von Wesen im Wald, darunter einige, von denen er sich bedroht fühlt. Er weiß, daß ihr Schlafen und Wachen vom Kommen und Gehen des Mondes bestimmt wird, und was ihn darauf brachte, ist eine schreckliche Erinnerung aus seiner Kindheit. Nun gibt es aber auch andere schädliche Kreaturen, die er meidet, und keineswegs alle lieben den Mond oder die Nacht. Etwa die Hornissen. Am gefährlichsten sind sie am hellen Tag und in der größten Sommerhitze. Im Schwarm können sie so todbringend sein wie ein Rudel Wölfe. Beschuldigt der Köhler nun Haeldwyr, daß sein strahlendes Licht die Hornissen hervorbringt und ihm auf den Hals hetzt? Nein. Stattdessen trifft er Vorkehrungen, ihren Weg nicht zu kreuzen. Die Sonne aber verehrt er als Lebensspender.“

„Und den Mond und dich selbst als vagabundierende Gaukler, in stets wechselnder Verkleidung?“

„Ob er Faghnar für einen Gaukler achtet, habe ich ihn nicht gefragt. Ich weiß nur, daß er einem müden Wanderer Herberge bot, als dieser kaum damit rechnen durfte.“

„Ob er ahnte, welch hoher Besuch ihn beehrte?“

„Wenn ja, so spricht dies für seinen Scharfsinn, und wenn nicht, ist seine Gastfreundschaft umso aufrichtiger zu werten.“

„Wenn er dich insgeheim erkannte, dann wußte er wohl auch, daß er einen Dieb unter sein Dach lud?“

„Denselben, dem er sein Köhlerfeuer verdankt.“

„Stolze, ruhmreiche Völker der Vandrimar! Sie schmelzen ihr Erz und sie schmieden ihre Waffen in dem Feuer, das sie der Arglist eines Unsterblichen zu verdanken haben. Was Wunder, daß sie ewige Habgier und Zwist auf sich luden!“

„Das gleiche Feuer, womit sie das Eisen hervorschmelzen, dient ihnen zum Brennen von Glas und Ziegel. Ihre Städte zeugen davon. Aus dem Eisen schmieden sie nicht nur Stahl für Schwerter und Lanzen, sondern auch Kessel, Faßreifen und Pflüge. Und aus dem Gold, das sie so oft gegeneinander aufbringt, fertigen sie dennoch Kunstwerke von großer Schönheit. Ebenso aus dem Silber. Was hatten die Laeghtrimar dem entgegenzusetzen?“

„Da hast du recht. Am wenigsten den Schwertern und Lanzen.“

„Ihre Feldfeuer taugten allenfalls für Kupfer oder Zinn, und der Wolf war ihr Rivale bei der Jagd. Die Vandrimar aber lernten den Boden zu pflügen und zähmten den Ur. Die Laeghtrimar konnten nicht gegen sie bestehen.“

„Ihr Stolz gab ihnen Bestand.“

„Sofern sie nicht Diener der Vandrimar wurden oder sich mit ihnen vermischten.“

„Warum nennst du nicht die Dinge beim Wort, Freund Rakhmyr: die Vandrimar versklavten sie und raubten ihre Frauen und Mädchen.“

„Die Laeghtrimar standen an einem Scheideweg. Das Zeitalter des Drachen ging zu Ende und ein neues kündigte sich an: das der Menschen. Sollten sie die Fackel entgegennehmen oder weiterhin einer Echse huldigen?“

„Denen, die mir die Treue hielten, fehlt es an nichts. Sie haben ihren Lohn. Die deinen dagegen fristen ein Dasein, das geprägt ist von Arbeit, Kampf und unsäglichen Mühen.“

„Den Preis ihres Sieges zahlen sie ohne zu murren, denn sie wissen: sie sind die Statthalter der Welt!“

„Der hiesigen Welt, Rakhmyr, allenfalls der hiesigen.“

„Von der so manche deiner Anbeter sich nicht lösen mögen, wie es den Anschein hat.“

„Das glaubst du?“

„Widerlege es, wenn du kannst!“ forderte Faghnar den Drachen heraus. Und da er nicht gleich eine Antwort erhielt, fügte er an: „Aber vielleicht ist das ja gar nicht dein Wunsch. So höre, was mir der Köhler noch verriet, ehe ich meine Reise fortsetzte. Es war am folgenden Morgen, daß er mir zum Abschied folgende Empfehlung mit auf den Weg gab:

‚Vergeßt nicht die Gefahren, die Euch abseits der Straße auflauern, und weicht um nichts in der Welt von ihr ab. Sucht lieber Herberge an einem bewohnten Ort, wenn Ihr nicht sicher seid, den nächsten vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Und noch etwas: nehmt Euch zurück und stellt keinem Mädchen in den Wald nach – nicht, so lange Ghléan ihre Bahn nicht durchmessen hat! Haben die Waldfrauen Euch einmal betört, seid Ihr verloren. Glaubt mir, ich weiß wovon ich spreche, denn einmal war ich nahe daran. Nun nehmt den Weg, der Euch vom dortigen Rand der Lichtung aus zum Bach führt und folgt dessen Lauf. Nach wenigen Meilen kommt Ihr an eine Furt, und wenn Ihr Euch nicht allzu ungeschickt anstellt, könnt Ihr auf den herausragenden Steinen fast trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen. Paßt aber auf, daß Ihr nicht ausrutscht. Auf der anderen Seite angelangt, führt Euch der Weg weiter bis zu einer Kreuzung. Dort geht in südöstlicher Richtung, um die Straße nach Kadhlynaegh zu nehmen. Und nun lebt wohl!’

Damit schritt er seinem Meiler zu, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, und ich machte mich auf den Weg. Es war ein kalter, sonniger Wintertag, aber noch immer war kein Schnee gefallen. Ich ging wie er mir gesagt hatte, den Bach entlang und über die Furt. Gegen Mittag war ich bereits auf der alten Straße nach Kadhlynaegh und noch immer keiner Menschenseele begegnet. Was nun die Warnung des Alten anging, wußte ich daß sie berechtigt war. Solange Ghléan mich begleitete, ließ ich mit ihrer Hilfe meinen Blick schweifen. Auch mein anderes, das einwärts gerichtete Auge, spähte so scharf es nur konnte. Aber nichts war zu entdecken, was meine Aufmerksamkeit erregt hätte. Von der Ebene bis weit hinter die Köhlerhütte ins Gebirge hinein, und im gleichen Umkreis nach Norden und Süden hin, fand ich nicht die geringsten Anzeichen von dem was der Alte mir beschrieben hatte.

Neun Tage später traf ich an Mraeghdars Hofsitz ein. Wie ich schon sagte, führt er Krieg; und er ist nicht wie sein Vorgänger, der es vorzog die Herzöge um das Feuer der Burghalle zu versammeln und seine Strategien im Schutz fester Mauern zu ersinnen, statt in den windgepeitschten Zelten des Feldlagers. Mraeghdar liebt seine Krieger, er ist einer der ihren und kämpft stets in vorderster Reihe. Sie verehren ihn mehr als die Schutzgöttinnen, denen sie vor der Schlacht zu opfern pflegen. Ich wußte, daß ich ihn in Kadhlynaegh selbst nicht antreffen würde, aber das war auch gar nicht der Grund meiner Reise. Ich machte sie vielmehr um ihrer selbst willen....“

„Hättest du auf deinen Wanderungen ein Ziel, wärst du ja auch kein Vagabund.“

„....denn um die Geschicke der Vandrimar lenken zu können, muß ich unter ihnen weilen und mich mit ihren Nöten vertraut machen. So streifte ich mehr durch die abseits gelegenen Dörfer und Gehöfte, als daß ich mich an die breite Heerstraße hielt. Was ich von dem Köhler in Erfahrung gebracht hatte, knüpfte direkt an das Erlebnis bei den Fischern an. Was nun diese mit jenem gemeinsam haben ist, daß sie ein sehr entlegenes Gebiet bewohnen, die Fischer weit flußabwärts, der Köhler tief in den Bergwäldern. Hier wie da verliert sich das Siedlungsgebiet der Vandrimar in der einst den Laeghtrimar abgetrotzten Wildnis. Weder der Mord, dessen unfreiwilliger Zeuge ich geworden war noch der, den mir der Köhler schilderte, wurden von Menschenhand verübt. Warum aber waren sich beide Greueltaten so ähnlich, zumal sie doch fast die Zeitspanne eines Menschenlebens auseinander lagen? Um herauszufinden, ob derlei sich etwa häufiger zutrug, war ich vor allem auf die Erzählungen der Waldbewohner angewiesen.

Es bedurfte großer Aufmerksamkeit, aus ihren üblichen Schauergeschichten das herauszuhören, was wirklich aufschlußreich war. Aber es lohnte sich. Ehe ich Kadhlynaegh erreichte, wußte ich von wenigstens fünf weiteren Vorfällen, von denen keiner länger als zwanzig Jahre zurücklag, darunter ein Doppelmord; man zeigte mir die Stelle im Wald, wo einmal zwei junge Liebende niedergemetzelt wurden, die sich dort heimlich im Schutz einer Klippe trafen. Die natürliche Farbe des Felsbodens war gelb, wie die der Klippe selbst. Bis auf da, wo ihn das eingesickerte Blut der beiden rostrot gefärbt hatte.

Von den anderen vier Morden waren wiederum zwei an Kindern verübt worden, nämlich einem Jungen, der seinen achten Sommer nicht mehr erlebte, und seiner etwas jüngeren Halbschwester (und wenn ich hier nicht auch von einem Doppelmord spreche, dann deshalb, weil das Mädchen mehr als zwei Jahre nach dem Jungen getötet wurde, und auch nicht am gleichen Ort). Jedenfalls hatte der Vater, ein Fellgerber, danach nur noch zehn Mäuler zu stopfen. Er war bereits zum dritten Mal vermählt, und seine jetzige Frau hatte ihm bisher zwei Töchter geboren, von denen eine das ermordete Mädchen war.

Die letzten beiden Morde betrafen einen Jungbauern und einen Hirten. Sie stammten aus zwei weit voneinander gelegenen Dörfern und kannten einander nicht. Außer ihrer Abkunft als Leibeigene hatten sie nichts miteinander gemeinsam.

Nun waren aber alle diese Morde nachts geschehen, oder doch wenigstens in der Dämmerung. Daß heißt, alle bis auf einen, nämlich den an der Tochter des Gerbers; denn wie das Fischermädchen, oder der ältere Bruder des Köhlers, lief auch sie auf der Suche nach Nahrung ihrem Mörder in die Hände. Den Menschen nahebringen zu wollen, weniger die Nacht zu fürchten als vielmehr Auf- und Untergang des Mondes im Sinn zu behalten, hatte meist Gleichgültigkeit zur Folge, wenn nicht blankes Unverständnis. Ich ließ es dennoch nicht unversucht. Und vielleicht“, fügte Faghnar spitz hinzu, „vielleicht wird sich nach einem der kommenden Morde doch der eine oder andere an die Worte jenes seltsamen Vagabunden damals erinnern, und was er von einem allein im Wald lebenden alten Köhler zu berichten wußte....“

„So hast du ihn tatsächlich ernst genommen?“

„Und schwerlich wirst gerade du mich überzeugen, ich hätte nicht gut dran getan.“

Faghnar hielt seinen Stab wieder aufrecht zwischen den Knien und verharrte ebenso schweigsam und regungslos wie sein Gegenüber. Direkt vor ihm klaffte die Pupille, als wollte sie ihn verschlingen. Nirgends auf der Welt lagen gleißende Helle und schwärzeste Finsternis, sengende Glut und lähmende Kälte so nahe beisammen, waren dichter miteinander verwoben als in dieser Berghalle. Faowghs magnetischer Blick verschmolz alle nur denkbaren Gegensätze, zog sie an sich und verströmte sie von neuem, war schwarzes Licht und brennendes Eis. Aber Faghnar war gegen diese alles verschlingende Macht gefeit. Daß Faowgh es wußte, schürte seinen Drachenzorn um so mehr; dies wiederum wußte Faghnar, und so las einer aus des anderen Blick.

Endlich, nach geraumer Zeit, fragte Faowgh:

„Was unternahmst du von Kadhlynaegh aus, nachdem du den König nicht antrafst?“

„Da ich, wie gesagt, seine Anwesenheit ohnehin nicht erwartet hatte, mischte ich mich auch dort zunächst unter das einfache Volk. Ich verkehrte mit Sklaven, Mägden, Knechten, Hausdienern aller Art. Sie, die die niedrigsten und alltäglichsten Arbeiten verrichten, sind fast überall zugegen; weil man sie aber so gering achtet, vergißt man oft ihre Anwesenheit oder sieht leichtfertig über sie hinweg, und daher entgeht ihnen auch nichts. Nun war in aller Munde der Krieg in den östlichen Marken, aber kein Wort war zu hören von Bluttaten von unbekannter Hand, verübt im Verborgenen an Schwachen und Schutzlosen, und scheinbar ohne jeden Beweggrund. Natürlich geschieht, was immer geschieht: Raubmorde und tödlich endende Zankereien, auch Rachetaten, oder Morde zur Rettung der Ehre oder aus Eifersucht. Aber von den Gefahren, denen die Bewohner der entlegenen Dörfer und Waldgebiete ausgesetzt sind, ist bisher nichts in die Königsstadt vorgedrungen, denn wer schert sich schon um die furchtsamen Bauern und Viehhirten draußen auf der Heide. Und somit fand ich einmal mehr die Worte des Köhlers bestätigt: was immer sich hinter der Bedrohung verbirgt, es ist wenn auch kein Tier, so doch in der Wildnis zuhause. Herdfeuer, Wohnstätten, jedes von Menschen auf irgendeine Weise in Besitz genommene oder dauerhaft genutzte Stück Erde meidet es, oder schreckt davor zurück. Das erklärt, warum vor allem die Bewohner der Stadt bisher unbehelligt geblieben sind.

Schließlich verdingte ich mich als Helfer des berühmtesten Waffenschmieds in Kadhlynaegh, den ich rasch von meinen Fertigkeiten an der Esse überzeugte. Sein Stand, der seit jeher dem des Kriegers am nächsten kam, ist so angesehen wie nie zuvor, und bis spät in die Nacht hallt sein Amboß von Schlägen wider. Die tüchtigsten Herzöge kommen zu ihm, ihre Schwerter nach eigenen Vorgaben bei ihm fertigen zu lassen. Sie zahlen gut, und Irmwyn profitiert zudem von ihren Erfahrungen im Kampf, da sie ihm helfen seine Kunst stetig zu verfeinern.

Oft war ich zugegen, wenn von Mraeghdar die Rede war. Sie sprechen seinen Namen mit großer Ehrfurcht aus, und wer sie reden hört zweifelt nicht, daß sie ihm blind in jede Schlacht folgen würden. Ich hörte aber auch anderes aus ihren Erzählungen heraus; mißliebiges, das unausgesprochen blieb, sich nur in Form vager Andeutungen durch ihre Rede wand. Sie scheinen Dinge gesehen zu haben, an die sie sich am liebsten gar nicht erinnern möchten.“

„Schlimmer als die Morde an Kindern und anderen Unschuldigen, die dein Gemüt so beschweren?“

Faghnar strich sich über den Bart, indem er Faowgh unverwandt anblickte. Das Feuer in Faowghs Auge schien auf seinen eigenen Blick überzuspringen, wenn auch in anderer Gestalt: war es wirkliche, lodernde, sichtbar brennende Glut, die Faowghs enge Pupille einbettete, fand sie ihren Widerpart in Faghnars Blick als ein Blitzen wie aus dunklen Wolken, die ein herannahendes Gewitter verkünden. Der Drache beobachtete ihn vollkommen starr und regungslos, die Fänge weit genug geöffnet, um beide Reihen langer, spitz zulaufender Zähne zu entblößen. So drohten sie einander ohne ein einziges Wort, Faghnar indem er seine anschwellende Wut wetterleuchten ließ, Faowgh indem er seine unüberwindliche, erdrückende Macht mit der Kaltblütigkeit des Reptils zur Schau stellte. In jedem Fall war, was sie einander mitteilten, unmißverständlich. Würde jener den beständigen Provokationen erliegen und seinem Zorn Taten folgen lassen, dann würde dieser als Antwort seine ganze zerstörerische Kraft entfalten. Mit zweifellos verheerenden, weit über das Zusammentreffen der beiden Kontrahenten hinausgehenden Folgen.

„Du läßt keine Gelegenheit verstreichen“ knurrte Faghnar, „das Volk der Vandrimar deiner Mißgunst auszusetzen. Welchen Verdacht du zugleich in mir nährst, weißt du selbst am allerbesten. Aber ich werde keine Anschuldigung aussprechen, die ich nicht angemessen begründen und mit Belegen untermauern kann. Dazu wirst du mich mit all deinen Listen nicht bringen.

Du wolltest wissen, was ich von Kadhlynaegh aus zu unternehmen gedachte. Und ich kam so weit dir zu berichten, welche Erkundigungen ich in der Stadt selbst einholte, und wie ich dabei vorging. Nachdem ich also Gewißheit erlangt hatte, daß die aus den hiesigen Wäldern drohende Gefahr bisher auf einzelne Vorkommnisse beschränkt blieb und nur entlegene Gebiete betraf, hielt ich mich jetzt, als Gehilfe Irmwyns des Schmieds, über den Hergang des Kriegs im Osten auf dem Laufenden. Und was ich dabei zu hören bekam, war fremdartig und beunruhigend. Der Krieg ist ein grausames Handwerk, ist es immer schon gewesen und wird es immer sein; aber was Irmwyns Auftraggeber durchblicken ließen, deutete eine ganz und gar ungeahnte Wendung an.

Zur Sonnwende beschloß ich, Mraeghdar in seinem Winterquartier aufzusuchen; so verließ ich Kadhlynaegh vier Tage später, um weiter flußaufwärts zu ziehen. War nun den ganzen Winter immer noch kein Schnee gefallen, außer vielleicht in den höchsten Berglagen, hatte doch die ganze Zeit über bitterer Frost geherrscht. Und dann, am dritten Tag meiner Wanderung, geschah was ich am wenigsten erwartet hätte: der Winter hätte gerade erst recht beginnen sollen, aber die Kälte floh aus dem Boden und selbst aus der Luft. Die Zweige der Bäume und Sträucher und die braungefrorenen Gräser auf den Weiden warfen den Raureif von sich ab wie eine Schlange ihr Schuppenkleid. Es geschah so offensichtlich zur Unzeit und bei falschem Wind, daß ich auf der Stelle wieder kehrt machte. Je weiter ich in die Ebene zurückkam, desto untrüglicher wurden die Anzeichen. Ich folgte der Biegung des Bhréandyr nach Norden, er führte ungewöhnlich viel Wasser für diese Zeit des Jahres. Gerne hätte ich einige Tagesreisen auf einem Floß zurückgelegt, aber ich fürchtete, der Strom würde mich zu weit am Gebirge vorbeitragen und mich so zu einem Umweg nötigen. Ich war auf die Zeichen der Erde angewiesen, um deinen Aufenthaltsort zu finden, nicht die des Wassers. Das einzige was ich mit Sicherheit wußte war, daß du deine Wohnstätte irgendwo in den Wäldern des Westens hattest. Das war wenig genug, aber doch besser als nichts.

Und dann, eines Morgens, sah ich die Natter.

Sie floh wie von Sinnen, aber nicht vor mir, sondern kam im Gegenteil auf mich zu. Sie kreuzte meinen Weg genau vor meinen Füßen, wand sich der aufgehenden Sonne entgegen, und sah mich entweder nicht, oder, was wahrscheinlicher ist, die Furcht vor dem was sie trieb war größer. Ich folgte ihr und stellte fest, daß ihr Weg pfeilgerade von einem nordwestlich gelegenen Punkt wegführte. Für mich endete er am Flußufer. Für die Viper hingegen nicht, sie stürzte sich geradewegs ins Wasser und schwamm auf das andere Ufer zu.

Unverzüglich kehrte ich dem Bhréandyr den Rücken, denn von jetzt an wußte ich genau, in welcher Richtung ich dich zu suchen hatte. Unterwegs vergewisserte ich mich noch mehrmals, und bei den Säulen der Unterwelt! wenn ich es der Natter gleichtat und mich flach auf den Boden legte, warst du nicht zu überhören. Dabei war ich noch viele Meilen von den Bergen entfernt, von dem Ort, wo ich deine Wohnstätte vermutete, ganz zu schweigen.“

„Jetzt bist du es nicht mehr.“

„In der Tat nicht. Ich hoffe nur, der Weg hat sich gelohnt.“

„Beschwerlicher als der nach Osten war er jedenfalls sicher nicht. Und außerdem nicht so weit. Aber sprich: was schürte in dir die Erwartung, von mir gerufen zu werden? So sagtest du doch, zu Beginn deiner Erzählung.“

„Ich habe genug geredet, Faowgh!“ rief Faghnar zornig. „Was kann nach all dem noch von Belang sein: unsichtbare Wesen aus dem Wald, die menschliches Besitztum, Straßen und urbar gemachte Erde scheuen, aber umgekehrt jeden massakrieren, der sich bei Mond in die Wildnis wagt.... sprach ich nicht schon deutlich genug? Unzählige Geschlechter kamen und gingen seit der Zeit der Eroberung. Die Vandrimar von heute sind nicht ihre Urahnen, denen allein sie zu verdanken haben, daß sie hier geboren sind. Sie sind unschuldig an ihren Taten. Warum sollen sie dafür büßen? Was ist das für eine Rache, die den Nachkommen trifft statt den Täter?“

Faowgh verzögerte die Antwort um wenige Augenblicke und hob so die Bedeutsamkeit seiner Worte hervor:

„Du sprichst also von Tätern, Rakhmyr, von Buße sprichst du und Rache. Nichts bleibt unvergolten, du weißt es selbst, das Schlechte sowenig wie das Gute. Notfalls zahlt einer an des anderen statt. Und wieviel Zeit auch vergehen mag, alles wird früher oder später beglichen. Auf die Unschuld der Urenkel pochst du. So vernimm: nicht weniger schuldlos waren die, die einst unter den Schwertern der Vandrimar fielen!“

Faghnar schloß die Augen und ließ das Kinn auf die Brust sinken, die Finger um den knorrigen, zwischen die Knie gestellten Stab herum geschlungen. Eine Weile verharrte er regungslos, scheinbar ohne zu atmen.

Dann hob ein ungeheurer Seufzer seine Brust. Aber die Heftigkeit, mit der er die eingesogene Luft wieder von sich stieß, verkündete eine aus Ingrimm und endgültiger Gewißheit geschweißte Haltung: Entschlossenheit. Nüchtern, kalt und unbezwingbar wie ein Fels, entsprang sie seiner Einsicht in den unabänderlichen Lauf der Dinge. Als er die Augen wieder öffnete, ließ er den Blick scheinbar ins Leere gleiten. In Wirklichkeit hielt er ihn über Faowhgs Rücken hinweg auf einen Schatten gerichtet, der ihm eine Vertiefung in der gegenüberliegenden Felswand anzeigte.

„So sei es denn!“ verkündete er schließlich mit verhärteter Miene. „Aber ich warne dich, Faowgh: in diesem Fall wäre es von deiner Seite aus klüger gewesen, mich über die Ursache der Morde wie auch deinen genauen Aufenthaltsort im Ungewissen zu lassen.“

„Vergeltung“, entgegnete Faowgh, „wahre Vergeltung gibt es nur dann, wenn sie als solche erkannt wird. Wenn die Vandrimar selbst auch niemals erfahren, wofür sie büßen: du weißt es an ihrer Stelle. Du, der du dich rühmst, ihre Geschicke zu lenken und ihr Beschützer zu sein.“

„Ich darf annehmen daß, was ich bisher gesehen habe, erst der Anfang war?“

Unverändert starrte die schwarze Pupille aus der Glut des Augenballs zurück. Die spitz zulaufenden Zähne des Drachen ragten wie eine Reihe aufgerichteter Speere aus dem gewaltigen Kiefer. Das Sprechen war von keinerlei Bewegung oder Mienenspiel begleitet, denn Faowghs Stimme kam tief aus seinem Inneren:

„Ich hüte das Tor nach Ardhirunai, wie du weißt. Nicht von dort nach hier, wohl aber von hier nach dort. In diese Richtung war das Tor nur einmal geöffnet, lange genug, um jeden Laeghmar einzulassen, der dies begehrte. Wer sich innerhalb jener Frist nicht zum Gehen entschloß, mußte für immer diesseits bleiben. Aber unter den letzten die gingen waren viele, für die es bereits zu spät war. Sie finden keine Ruhe mehr in Ardhirunai. Ihretwegen bleibt die Pforte geöffnet, aber nur für den Weg herüber. Nach und nach kommen sie zurück. Bald werden die letzten hindurch sein; dann wird das Tor geschlossen, und für immer.“

„Was ist es, das diese Unglücklichen umtreibt?“

„Einzig der Wunsch nach Vergeltung, Rakhmyr. Nenn es Rachedurst, wenn du willst. All das vergossene Blut, es schreit noch immer zu ihnen. Selbst dort drüben können sie seinem Ruf nicht mehr entkommen. Unglückliche nennst du sie, und zu Recht, denn kaum daß sie wieder hier sind, quält sie die Sehnsucht nach ihrer eigentlichen Welt, deren Zutritt ihnen nun auf immer verwehrt bleibt. Für sie, die bereits in ihrem Licht gewandelt sind, gibt es nur eines womit sie den Schmerz ihrer Zerrissenheit betäuben können: unerbittliche und grausame Vollstreckung der Rache ihres Volkes. Und wie du schon sagtest, Rakhmyr: ihr Blutgericht hat gerade erst seinen Anfang genommen!“

„Und nur ihretwegen hütest du das Tor“, mutmaßte Faghnar.

„Ja, denn für sie ist in Ardhirunai kein Platz. Sie trafen ihre Wahl zu spät.“

„Werden sie jemals zur Ruhe kommen?“

„Vielleicht, daß der Tod sie erlösen kann, wenn auch der letzte Blutstropfen vergolten ist. In Ardhirunai aber finden sie nie mehr Einlaß, denn Ardhirunai gehört den Lebenden. Ein Laeghmar, der von dort wieder herübergekommen ist, führt über die ihm zubemessene Lebensspanne hinaus sein Dasein weiter – als Untoter! Sein Sinn wird allein vom Wunsch nach Vergeltung beherrscht. So sehr, daß der Körper die eigene Vergänglichkeit überwindet.“

„Der Leib bleibt immer eine sterbliche Hülle“, widersprach Faghnar; „Was, wenn jemand....“

„....ihn trotz allem tötet? Dann irrt die Seele so lange umher, bis sie einen anderen gefunden hat. Und glaub mir, sie wird einen finden; das Unheil wird also eher noch vergrößert. Aber dazu kann es schwerlich kommen, denn die Untoten sind, wenngleich aller Vernunft und Einsicht beraubt, im Gebrauch ihrer Sinne und an Kampfgeist jedem anderen Wesen weit überlegen.“

„Sogar den Göttern?“

„Was fragst du mich, statt dich selbst an ihnen zu erproben!?“

„Oh, ich hätte es längst getan, wenn die Bastarde mich nur ließen. Den ganzen Weg von den Fischern bis zur Hütte des Köhlers, und von dort nach Kadhlynaegh, hätten sie mir Gelegenheit geben können. Oft genug wandelte ich in meiner menschlichen Gestalt unter dem Mond durch tiefste Wildnis, unwissend zunächst, nur von einer leisen Ahnung begleitet, spätestens nach dem Besuch beim Köhler aber absichtlich. Seine Warnung befolgte ich nur zu Beginn, um zu sehen, ob die mörderischen Wesen vielleicht wirklich versuchen würden, mich in Gestalt einer Nymphe vom Weg abzubringen; nachdem nichts dergleichen geschah, und sie mir auch in sonst keiner Weise aufzulauern schienen, schlug ich mich bei Mond meistens quer durch den Wald. Aber wie ich es auch anstellen mochte: keine blutrünstige Bestie stellte sich mir in den Weg, oder kam mir auch nur entfernt unter die Augen.“

„Natürlich meiden sie dich. Sie besitzen ebenso wie du die Gabe, Ghléan für sich spähen zu lassen. An Schärfe steht ihr Blick dem deinen in nichts nach, so wenig wie deine wahre Natur ihnen verborgen bleibt. Was sollten sie dir auflauern, da sie dich schon nicht töten können?“

„Es stimmt, was du sagtest: ich habe es mit einem gewitzten Gegner zu tun, so umsichtig wie trügerisch und hinterhältig.“

„Der Dieb und der Meuchler, wie gut sie einander doch kennen!“

„Das ist für den Dieb nun wirklich nicht schwer: er weiß, nach welchem Meister die Meuchler geraten sind.“

Ein kurzer Augenblick der Stille trat ein, ehe der Drache erwiderte:

„Dann sollte er sich besser vor ihm hüten!“

Die Warnung war kaum ausgesprochen, als Faowghs Augenbälle grell aufflammten. In kurz aufeinanderfolgenden Intervallen zuckte blendendweißes Licht durch die Berghalle, und nicht weniger blitzartig geriet der massige Leib des Drachen in Bewegung. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er den Schwanz zu voller Länge gestreckt und peitschte ihn mit einer halben Drehung um sich selbst gegen die Höhlenwand. Mit ohrenbetäubendem Krachen stürzten Felsbrocken herab, genau auf die Stelle, die bis eben Faghnars Sitzplatz gewesen war. In einer nicht minder schnellen Bewegung warf Faowgh jetzt in gleicher Richtung den Gegenpart des Schwanzes, seinen langen Hals, auf die Spalte, die er seinem Besucher auf dessen Verlangen hin noch aus dem Schlaf heraus geöffnet hatte, und spie dabei brüllend und mit weit auseinandergerissenen Fängen einen Feuerball. Während er an der Decke zerstieb, erbebte der Berg wiederum in seinen Grundfesten, und der Eingang rutschte lärmend in sich zusammen.

Faowgh stürzte sich auf den frischen Geröllhaufen und begann ihn mit seinen gewaltigen Klauen auseinanderzuwühlen. Wütend schleuderte er die Gesteinsbrocken um sich herum durch die Halle, aber Faghnar, sein Rivale, sein Erzfeind, sein Gefangener um Haaresbreite, blieb verschwunden.

Da ertönte hinter ihm ein letztes Mal seine Stimme:

„Lebewohl, Donnerechse, und auf ein baldiges Wiedersehen! Verschließe die Tür gut, ich nehme derweil den Hinterausgang....“

Mit einem zornigen Brüllen warf Faowgh seinen schweren Leib ein weiteres Mal herum. Seine Gewandtheit war erschreckend, da schwer mit seiner gewaltigen Erscheinung in Einklang zu bringen. Doppelt so hell als zuvor erleuchteten die Blitze jetzt die Halle, während er dem Fliehenden eine Flamme hinterherschickte, die weit in den alten, von der anderen Seite her zur Halle führenden Felskorridor hineinloderte.

„Ja!“ dröhnte seine Stimme durch den Berg, „Flieh! Lauf vor mir davon, nach Diebesart, und verstecke dich wieder unter deinen Zöglingen! Bald wirst du mir zeigen können, wie überlegen ein Unsterblicher denen ist, die von Rache getrieben den Tod überwinden!“

Faghnar ließ keine Antwort mehr hören, und Faowgh wußte, daß er entkommen war. Es war sinnlos, ihn auf dem Weg nach draußen noch aufhalten zu wollen. Den Fels zu spalten und einen Korridor hindurchzutreiben, war für den Drachen ein leichtes – nicht aber das Gegenteil, nämlich ihn wieder vollständig zu verschließen. Einmal geborstener Fels blieb für immer geborsten, das Gestein wuchs nicht mehr zusammen. Er konnte den Eingang verschütten, vielleicht die Tunnelwände stellenweise enger zusammenrutschen lassen, mehr aber nicht. Und zweifellos hatte Faghnar, oder Rakhmyr, bereits eine Gestalt angenommen die es ihm erlaubte, auch durch die engsten Ritzen zu entwischen.

Faowgh hatte sich von ihm überlisten lassen, ja, und das nicht zum ersten Mal. Es war unvorsichtig gewesen, ihn von der Westseite des Berges her einzulassen, wenn es von Norden her bereits einen Zugang gab. Schließlich war Rakhmyr seinem Ruf gefolgt, weil er selbst ihn sehen wollte, ja mußte! Denn nur er, dessen ärgster Widersacher er seit undenkbaren Zeiten war, konnte ihm den Verdacht bestätigen, der hinsichtlich der mörderischen, mondwandelnden Wesen aus der Wildnis seinen Sinn beschlich; und weil er genau das wußte, hätte er den Eingang auch ohne allzulanges Suchen gefunden, zumal Faowgh ihm ein Zeichen hätte schicken können.

Es wäre sicher leichter gewesen, Rakhmyr gefangen zu setzen, solange es nur einen Zugang zur Höhle gab. Andererseits gab es dafür auch keine Garantie, denn an List und Gewandtheit war ihm sein Erzfeind kein bißchen unterlegen. So schnell und unversehens Faowgh seinen Zorn aufflammen ließ, so rasch konnte er ihn auch wieder herunterkühlen. Reue, auch über seine eigenen Fehltritte, lähmte ihn nicht. Sein Verstand war stets auf das gerichtet, was vor ihm lag, und so war die Bewegungslosigkeit, in der er jetzt wieder erstarrte, eine gewollte. Aus den langen Zeiten der Ruhe schöpfte er nicht nur Kraft, sondern auch Wissen für künftige Taten. Und das machte ihn so gefährlich.

Langsam verglomm das Licht seiner Augen, während er sich in seinen Drachenschlaf sinken ließ. Die Dunkelheit kroch aus den entfernteren Winkeln der Höhle hervor und begann sie erneut in Besitz zu nehmen. Alles was noch von dem dagewesenen Besuch zeugte, war ein Wanderstab aus Eschenholz, der in zwei verkohlte Teile zerbrochen vor dem Ausgang lag.

Der Gott des Zwielichts

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