Читать книгу Der Gott des Zwielichts - Joachim Kurtz - Страница 5

Hadhuin rutschte fröstelnd näher ans Feuer heran.

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Während er geistesabwesend mit einer verkohlten Astgabel in der Glut stocherte, betastete er mit der Linken sein Nackenhaar, wie es ihm seit seiner Flucht vor etwa einem Monat zur häufigen Gewohnheit geworden war.

Aus seinem Versteck, das er sich unter einem weit auskragenden Felsvorsprung eingerichtet hatte, ging der Blick nach Westen. Den Berg im Rücken zu haben gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. So weit das Auge reichte, sah er nichts als noch mehr Berge und nackten Wald. Was jenseits des Horizonts lag, wußte er nicht. Aber der Gürtel unbesiedelter Wildnis, den er zwischen sich und der ihm bekannten Welt gelassen hatte, war breit genug um aller Wahrscheinlichkeit nach niemanden mehr auf den Fersen zu haben.

Der lichtgraue Himmel kündigte einen weiteren naßkalten Tag an. Windböen wirbelten ihm beißenden Rauch in die Augen, fluchend wandte er das Gesicht vom Feuer ab und schützte es mit angewinkeltem Ellbogen. Als er sein Versteck gefunden hatte, war er nicht zuletzt deswegen froh daß die Öffnung nach Westen wies, weil es durch den dahinterliegenden Berg gegen den schneidenden Ostwind geschützt wäre. Dafür war es jetzt dem West ausgesetzt, der zwar den Frost vertrieb, aber stattdessen Regen und Feuchtigkeit brachte.

Was immer die Zukunft für ihn bereithielt, es konnte nicht schlimmer sein als das, was der größte Teil seines bisherigen Lebens ihm beschert hatte. Auch der Tod nicht. Wenn er vor Hunger oder Kälte sterben würde, dann wenigstens als freier Mann, oder doch auf dem Weg dazu, einer zu werden, was für ihn das gleiche bedeutete. Das war es, was ihn darin bestärkt hatte, die erste Gelegenheit zur Flucht nach Einbruch der Winterkälte zu ergreifen. Hadhuin zwang sich damit gleich zu Anfang die härtesten Bedingungen auf, um sie entweder zu seiner eigenen Stählung zu überwinden oder daran zugrunde zu gehen. So oder so, er wollte nichts sehnlicher als es hinter sich bringen.

Er hatte seine Flucht nicht von langer Hand geplant. Der Impuls dazu war plötzlich über ihn gekommen, ausgelöst durch einen besonderen Umstand, den er vergeblich bemüht war, sich in Erinnerung zu rufen. Er wußte nur, daß er es nicht bereute ihm gefolgt zu sein. Nicht einen einzigen Augenblick.

Es wäre kaum dazu gekommen, wenn man ihn nicht verkauft hätte. Das befreite ihn von den Fußketten des Steinbruchs, denn sein neuer Herr, ein reicher Händler, brauchte ihn als Lastenträger. Damit galt er als Haussklave, und für einen solchen war das Tragen von Fußfesseln nicht üblich. Dies galt erst recht für ihn, dessen jetzige Verwendung eine entscheidende Verbesserung gegenüber der Schinderei des Steinebrechens bedeutete. War Flucht angesichts der harten Strafen bei der Ergreifung, wie auch der Widrigkeiten denen ein entlaufener Sklave ausgesetzt war, ohnehin schon unwahrscheinlich, so zog man sie bei jemand wie ihm schon gar nicht in Erwägung. Diese Sicht der Dinge war für Herren und Knechte gleichermaßen nachvollziehbar und entsprach so sehr der allgemeinen Auffassung, daß auch ihm zunächst gar nicht in den Sinn gekommen wäre, ihr zuwider zu handeln.

Lastenträger eines Händlers zu sein hieß mehr als alles andere, Lasttiere zu be- und entladen und sie von Verkäufer zu Käufer und wieder zurück zu treiben. Die Anstrengung stand in keinem Verhältnis zu den erbarmungslosen Bedingungen, denen er während der letzten zwölf Jahre unterworfen gewesen war. Hinzu kam, daß sein Herr sich freundlich zeigte und ihn überaus gut behandelte. Wie viel Vertrauen er in ihn setzte bewies er damit, daß er ihn bereits nach wenigen Monaten allein auf Botengänge schickte.

Tatsächlich konnte Hadhuin sein Glück zunächst selbst nicht fassen. In einem vor den Toren der Stadt gelegenen Hain, an dem er oft vorbeikam, stand ein der Pendari geweihtes Heiligtum, und er versäumte keine Gelegenheit, der Göttin dort ein kleines Dank-, manchmal auch Bittopfer darzubringen, soweit es seine Mittel, die die eines Besitzlosen waren, eben zuließen. So folgten die Tage aufeinander ab, und es waren die unbeschwertesten, die Hadhuin in seinem Leben je gekannt hatte. Ehe er sich versah, war ein ganzer Sommer dahingegangen.

Mit Einbruch des Winters wurde sein Gemüt von einer seltsamen Veränderung befallen. Zum ersten Mal wäre er für ihn nun gemildert durch Bedingungen, wie er sie nach der endlos erscheinenden Zeit im Steinbruch nicht mehr zu träumen gewagt hätte. Dagegen folgte sein inneres Wesen, ob er es wollte oder nicht, einem durch beständige Wiederholung eingeübten Ritual, und wappnete sich wie all die vorausgegangenen Jahre um die gleiche Zeit gegen die erbarmungslose Härte, mit der die Kälte der bevorstehenden langen Nächte und kurzen, lichtarmen Tage ihn und seinesgleichen immer getroffen hatte. Das Ergebnis war ein Zustand tiefer Verwirrung, wo er doch eigentlich hätte dankbar sein sollen, nicht mehr und nicht weniger.

Bis ihn eines Tages völlig unvorbereitet die Erkenntnis traf, daß es nicht anging. Pendari hatte das Rad für ihn weitergedreht, ja, und es würde auch weiterhin nicht stillstehen, weder für ihn noch für sonstwen. Das Glück war veränderlich wie der Mond: heute ein hell erleuchtetes Rund, dann eine dünne Sichel, und manchmal gar nicht zu sehen. Und es war, in der Tat, wie das Rad eines dahinrollenden Wagens, woran jede einzelne Speiche bald zu Boden wies, bald senkrecht nach oben gerichtet war. Aber was war er selbst, er, Hadhuin?

Er mußte sich eingestehen, daß er es nicht wußte. Wenn aber das Glück einem Rad und sein eigenes Leben einem Wagen glich, dann wußte er immerhin, was er sein wollte, nämlich der Lenker. Pendari teilte Glück und Unglück aus, mit vollen Händen oder spärlich bemessen, nach ihrem eigenen Gutdünken, aber wenigstens wollte er selbst die Richtung bestimmen, die das Gefährt seines Daseins nahm, selbst wenn er es direkt in den Abgrund steuerte. Diesen bereits unwiderruflich gefaßten Entschluß trug er im Sinn, als er das Heiligtum zu einem letzten Gebet betrat. Das war zwei Tage vor seiner Flucht gewesen, und der Winter regierte bereits mit eiserner Faust.

Er kam von der einen Tagesmarsch entfernt liegenden Burg eines Fürsten zurück, wo er Stoffe und Tücher abgeliefert und die vergangene Nacht verbracht hatte. Unterwegs hatte er am Wegrand eine flügellahme Taube gefangen. Es dämmerte bereits, als er das Lastpferd am äußersten Baum des Hains festband. Das Heiligtum selbst war eine Art steinerner Tisch, der als Altar diente. Er wurde von einer mächtigen, ausladenden Esche überragt und bestand aus vier unbehauenen, nur durch die Witterung geformten Teilen, von denen drei senkrecht in der Erde verankert waren. Unter der wuchtigen Abdeckung lag eine Klinge aus Feuerstein, deren Gebrauch für jedermann bestimmt war, der Pendari ein Blutopfer darbringen wollte. Die allgemeine Ehrfurcht vor der Göttin war so groß, daß nicht die allergeringste Gefahr eines Diebstahls aus dem ihr geheiligten Bezirk bestand. Hadhuin nahm das Messer von dem kleineren, abgeflachten Stein, wo es seinen Platz zwischen den drei Stützpfeilern hatte. Trat man von hinten an den Altar heran, konnte man mühelos eine weitere, flach auf dem Boden liegende Felsplatte ersteigen, um ihn zu überblicken. Hadhuin stellte sich mit dem Rücken zum Stamm der Esche, in einer Hand das Opfermesser haltend, mit der anderen seine Gabe darbietend, wobei er beide Arme weit von sich streckte. Er schloß die Augen und bemühte sich, alle seine Sinne auf die Anrufung der Göttin zu richten. In der zum festen Griff geschlossenen Linken spürte er das zum Zerspringen schlagende Herz des Vogels, der regungslos seines Schicksals harrte. Die Arme wurden ihm schon fast schwer, als er leise, um nicht vor dem schroffen Widerhall seiner eigenen Stimme zu erschrecken, eine Beschwörung murmelte.

Ein schneller, entschlossen ausgeführter Schnitt durchtrennte die Kehle des Täubchens, das ein letztes Mal den Schnabel zu einer lautlosen Klage öffnete und sich aus dem Griff seiner breiten Hand winden wollte. Hadhuin hielt es kopfüber, so daß sich sein warmes Blut auf den Stein ergoß, der schon mit dem Blut so vieler anderer Opfertiere durchtränkt war, und wer weiß, ob nicht auch mit dem von Menschen. Nach wenigen Augenblicken war alles vorbei. Hadhuin legte seine Gabe auf den Altar und ließ die letzten Blutstropfen von der Klinge abrinnen, ehe er sie wieder an ihrem Platz hinterlegte und sich anschickte, den Hain zu verlassen. Wenn er an einem der darauffolgenden Tage wiederkommen würde, wäre das Opfer wahrscheinlich verschwunden, und das wäre ein überaus gutes Zeichen. Es würde nämlich bedeuten, daß Pendari seine Gabe in Gestalt eines Fuchses oder Marders entgegengenommen hätte.

Als er in das Haus des Händlers in der Stadt zurückgekehrt war und das Pferd dem Stallburschen übergeben hatte, ließ der Hausherr ihn zu sich rufen, um ihn über den Hergang seiner kurzen Reise zu befragen. Während Hadhuin die verlangte Rechenschaft ablegte und gerade von einem Disput mit dem Kämmerer der Fürstin berichtete, der die Qualität eines nicht von ihm selbst ausgesuchten Tuchs bemängelte, fragte sein Herr ihn unvermittelt, ob da etwa Blut auf seinen Händen zu sehen sei. Er rückte die flackernde Lampe auf dem Tisch näher an ihn heran und forderte ihn auf, sie in ihren Schein zu halten.

Hadhuin, dem im ersten Moment der Atem stockte, tat wie ihm geheißen. Sofort fühlte er kalte Schweißperlen aus seinen Achselhöhlen treten, verlor aber keinen Moment an Haltung. Während er sich insgeheim noch einen Narren schimpfte, weil er es versäumt hatte, das Taubenblut von seinen Händen zu waschen, schoß es ihm durch den Kopf, daß er nichts verbotenes getan hatte. Jedem, wirklich jedem, waren Kulthandlungen zu Ehren Pendaris erlaubt, und dies zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Nicht dem Geringsten unter den Sklaven und Leibeigenen war es versagt, die Hüterin des Glücks an einem ihr geweihten Ort anzurufen und ihren Beistand mit einem Blutopfer zu erwirken. Also berichtete Hadhuin mit fester Stimme, zu welchem Zweck er sich auf dem Heimweg kurz aufgehalten hatte, und bis hierher entsprach sein Bericht voll und ganz der Wahrheit. Schwierigkeiten bereitete es dagegen zu erklären, wofür er den Beistand der Göttin hatte erwirken wollen. Denn ein Blutopfer war unweigerlich ein Bittopfer. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung gab sein Herr sich aber schon zufrieden und winkte lächelnd ab. Er wußte von seinen häufigen Besuchen in Pendaris Hain und sah sie mit Wohlgefallen, denn die gläubigsten seiner Diener waren in der Regel auch die zuverlässigsten und folgsamsten.

Hadhuin achtete seinen Herrn, der ihn von einem grimmigen Schicksal befreit und nicht ein einziges Mal schlecht behandelt hatte. Und er hätte ihn geliebt, wäre da nicht sein unbändiger Freiheitsdrang gewesen, sein Verlangen nach Unabhängigkeit und Anerkennung, wovor jeder Sinn für Loyalität verblaßte. Er ging nicht einmal so weit sich zu fragen, was sein Herr gerade in ihm gesehen haben mochte, als er beschloß ihn in seinen Dienst zu kaufen – ihn, der zur Verrichtung einer der denkbar rohesten Arbeiten abbeordert war! Selbstbespiegelung war Eitelkeit, und Eitelkeit war der Trost der Schwächlinge. Hadhuin zog es vor, sich dem blinden Glauben an eine fremde, ungreifbare Macht zu überlassen, deren höchst willkürliche und nie absehbare Gunst er sich durch Opfergaben zu erkaufen suchte, die aber sonst keinen Treuebeweis von ihm verlangte.

Nur so besaß er die Kaltblütigkeit, sich in der Morgenfrühe des übernächsten Tages, lange vor Sonnenaufgang, unbemerkt vom restlichen Gesinde wie auch den sonstigen Hausbewohnern, von seinem Lager zu schleichen und eilendst das Nötigste zum Überleben zusammenzusuchen. Dazu gehörte zunächst ein Messer, und daß Hadhuin einen Dolch besaß, hatte er einem weiteren Glücksfall zu verdanken, den er als Wink Pendaris verstand. Er hatte ihn nämlich kürzlich von einem Fremden im Tausch gegen vier Goldringe erhandelt, die er zufällig hinter einem losen Mauerstein an einer der Außenwände des Hauses entdeckte hatte. Offensichtlich wurden sie dort von jemand anderem gehortet. Von wem, und zu welchem Zweck, war Hadhuin unbekannt. Allein, daß sie auf diese Art versteckt waren, deutete jedoch auf eine verbotene Absicht hin, denn wer immer aus dem Gesinde etwas in rechtmäßiger Weise besaß, konnte es bei seinem Herrn in sichere Verwahrung geben. Auch war ungewiß, wie lange die Ringe dort schon gelegen hatten, und womöglich war der einstige Besitzer schon gestorben. Hadhuin hatte jedenfalls keinerlei Skrupel, sich des kleinen Schatzes zu bemächtigen, war aber darauf bedacht, ihn schnellstmöglich wieder loszuwerden, indem er etwas anderes dafür erwarb. Eines Tages hörte er von einem geheimnisvollem Fremden, der dringend Gold zu brauchen schien und dafür verschiedene Besitztümer veräußerte. Als er den Mann ausfindig gemacht hatte, bot dieser ihm ohne weitere Umschweife den Dolch für die vier Ringe. Das war gewagt, denn auf den Verkauf von Waffen an einen Sklaven stand die Todesstrafe. Hadhuin war von dem Anblick der stählernen, makellosen Klinge, die den blauen Himmel und das weiße Sonnenlicht so grell widerspiegelte, daß ihm die Augen schmerzten, sofort gebannt. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Im Nu war der Handel abgeschlossen, und seither war ihm der Fremde nicht mehr begegnet.

Daß er nun als allererstes den Dolch aus seinem Versteck holte und sich damit gürtete, geschah wie von selbst. So fühlte er sich sicherer, sollte etwas unvorhergesehenes geschehen. Der Mond leuchtete ihm den Weg zur Vorratskammer. Hadhuin deckte sich mit der größtmöglichen Menge an Proviant ein und nahm außerdem ein kleines irdenes Gefäß mit, das er hinter der nicht verschlossenen Tür fand und zum Kochen würde gebrauchen können. Und was noch wichtiger war, nämlich Feuerstein und Schlageisen, fand er am Herd.

All das verschnürte und verpackte er so, daß es beim Tragen, oder auch wenn es zu Boden fiel, keinen Lärm verursachen würde. Als Felle und Decken waren ihm die seines eigenen Nachtlagers dienlich. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich mit seiner Ausrüstung durch ein zur Straße weisendes Fenster davonstahl. Zuvor warf er eines der Felle hinaus, in der Hoffnung, damit seinen eigenen Fall abdämpfen zu können. Tatsächlich schaffte er es, fast lautlos unten anzukommen, obwohl er aus einiger Höhe springen mußte. Er lauschte einen Moment und atmete erleichtert auf, als er sicher war daß keiner der Hunde angeschlagen hatte.

Sein Ziel waren von Anfang an die abgeschiedenen, ihm leidlich vertrauten Gebirgstäler gewesen, wo er hoffte, unentdeckt zu bleiben. Und irgendwie den Winter zu überstehen. Er ging zunächst abseits aller Straßen und orientierte sich am Stand der Sonne, bis die bläulich die Ebene begrenzende Bergkette in Sichtweite kam. Er wanderte über während des Sommers intensiv genutztes Weideland, und stets fand er vor Einbruch der Nacht eine der niedrigen Hütten aus Bruchstein, die den Hirten im Sommer als Unterkunft dienten. Dank ihrer Feuerstelle und des Rauchfangs erfüllten sie für Hadhuin den gleichen Zweck auch jetzt. Nicht selten enthielten sie nützliche Dinge, etwa eine aus einem Schafsbalg gefertigte Feldflasche, die er sich zu eigen machte, oder auch Vorräte an Käse oder Trockenfleisch.

Eines Tages sah er von weitem einen Mann, der ein mit zwei prallen Säcken beladenes Maultier am Zügel führte. Die vor ihm liegende breitspurige Straße schlängelte sich in südwestlicher Richtung ins Gebirge hinein, und Hadhuin brauchte nicht lange, um sie wiederzuerkennen: sein Bauch krampfte sich zusammen dabei, denn er selbst war den Weg vor einigen Monaten in umgekehrter Richtung gegangen, als er seinem neuen Herrn in der Stadt entgegengesandt wurde. Somit wußte er auch, was die Säcke auf dem Maultierrücken enthielten: Hafer und Gerste, um die Wintervorräte des Steinbruchs aufzustocken.

Hadhuin war ausschließlich auf sein eigenes Überleben bedacht, und das um jeden Preis. Er entledigte sich seines Marschgepäcks, legte es zwischen die Wurzelstränge eines Baumstamms und wog flüchtig verschiedene Möglichkeiten gegeneinander ab; es dauerte jedoch nicht lange, bis seine sich leicht verengenden Augen einem etwaigen Beobachter die getroffene Entscheidung verraten hätten. Außer Hörweite des Lasttiertreibers verließ er das schützende Unterholz, um sich auf der Straße mit gezücktem Dolch an ihn heranzuschleichen.

Er hatte noch nie einen Menschen getötet, und alles was er wußte war, daß es schnell gehen mußte. Und so geschah es, wunderbarerweise für ihn. Er fiel dem Mann in den Rücken, nahm sein Gesicht in die Armbeuge um ihm den Kopf nach hinten zu reißen, und ehe er schreien konnte, hatte er ihm schon den Dolch durch die Kehle gezogen. Dann zog er die röchelnde, im Todeskampf wild um sich schlagende Gestalt abseits vom Weg ins Gehölz und versetzte ihr noch von vorne mehrere heftige Stiche in die Herzgegend, bis alles Leben in den entsetzt aufgerissenen Augen erloschen war und sein Opfer kraftlos in sich zusammensackte.

Hadhuin lehnte sich keuchend mit dem Rücken an den nächststehenden Baum. Sein Herz raste wie wild, und er verspürte Durst. Vor ihm lag blutüberströmt ein Mann am Boden, getötet von seiner Hand. Es war gemeiner, heimtückischer Mord, aber Hadhuin fühlte sich zum Kriegerdasein berufen, und Mord war das Handwerk eines Kriegers. Vor allem aber brauchte er Nahrung, und nur durch den Tod des Treibers konnte eine sofortige Verfolgung abgewendet werden, da man im Steinbruch noch einige Zeit auf ihn warten würde, ehe man sich auf die Suche nach ihm machte. Hadhuin, der sich dieser Rechtfertigung keineswegs sicher war, kämpfte sein Schwindelgefühl und die anschwellende Übelkeit nieder. So oder so, er durfte keine Zeit verlieren.

Nachdem er sein Opfer noch ein Stück weiter ins Gebüsch gezerrt hatte, holte er sein Gepäck und näherte sich langsam und mit beruhigenden Worten dem Maultier, das im Augenblick des Überfalls kurz zur Seite hin ausgebrochen und dann wie angewurzelt stehengeblieben war. Jetzt tänzelte es ein wenig und schüttelte schnaubend die blonde Mähne, ließ ihn aber herankommen. Als es ihn seinen Hals tätscheln ließ, wußte er, daß er es für sich gewonnen hatte. Neugierig beschnupperte es seinen Überwurf, was ihn vermuten ließ, daß dem dicken Wollstoff noch Stallgeruch anhaftete. Schließlich band er der Stute seine Sachen auf und machte sich mit ihr auf der anderen Straßenseite davon, wiederum quer durchs Gelände, in nordwestlicher Richtung ins Gebirge hinein.

Fünfzehn Tage waren seither vergangen, wenn Hadhuin sich nicht verzählt hatte. Als am Tag nach dem Überfall der überraschende Wetterumschwung einsetzte, rechnete er nicht damit daß er von Dauer wäre; so kam es, daß er sich nach viertägigem Marsch durch den Bergwald im Schutz der nach Westen weisenden Bergflanke einrichtete, um sich fortan die meiste Zeit gegen Wind und Nässe zur Wehr setzen zu müssen.

Immerhin war seine Lage nicht lebensbedrohlich. Das schlimmste was ihm jetzt passieren konnte war, aufgefunden und gefangen zu werden, ehe ihm das Haar so lang wie das eines Kriegers um die Schultern fiel. Wenn er es aber schaffen würde, bis zum Sommer allein in der Abgeschiedenheit der Wälder zu überleben, wäre er gerettet.

Denn war er einmal als Krieger anerkannt, stünden ihm alle Wege offen.

Das Maultier war bei ihm geblieben, und zwar von selbst. Er brauchte ihm nicht einmal Fußfesseln anzulegen, geschweige denn es anzubinden. Zunächst war er sich gar nicht sicher gewesen, ob er es überhaupt behalten wollte, da er wahrscheinlich einen Großteil des Hafervorrats, wenn nicht alles für seine Ernährung würde aufwenden müssen. Andererseits fürchtete er, daß wenn es in den Steinbruch zurückfand, jemand die Richtung aus der es kam als Hinweis auf seinen Aufenthaltsort deuten und womöglich versuchen würde, seine Spuren zurückzuverfolgen. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, es zu schlachten; und wäre es weiterhin so kalt geblieben wie es der Jahreszeit eigentlich entsprach, hätte er dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch getan und würde jetzt von seinem Fleischvorrat zehren, um dessen Haltbarkeit er sich nicht sorgen müßte.

Seine Unschlüssigkeit ermöglichte es schließlich, daß sich die Lösung von selbst fand. Das Lasttier schien, wie sich herausstellte, seine gewohnt arbeitsreiche Umgebung nicht zu vermissen und genoß die uneingeschränkte Freiheit, die er ihm nach Ankunft in seinem Versteck ließ. Am ersten Abend öffnete er ihm den Hafersack, als es begierig daran schnupperte, und ließ es fressen so viel es wollte. Danach nahm er ihm das Zaumzeug ab. Von da an trabte es nach Belieben zwischen der Höhle und der Talsohle hin und her, wo sich ein breiter Bach um den Fuß des Bergs herum schlängelte. Die Aushöhlung des Felsens war geräumig genug für beide, und nachts genoß er die Körperwärme, die das Tier ihm spendete. Seinen Dung trocknete er tagsüber am Holzfeuer, bis er selbst als zusätzliches Brandmaterial tauglich war.

Der Verbrauch des Hafers hielt sich dagegen in Grenzen, da das Maultier auf seinen Streifzügen tagsüber alles mögliche fraß. Oft sah Hadhuin, wie es an der Rinde mancher Bäume knabberte oder mit geblähten Nüstern im Laub stöberte. Und bald begann es auch, wählerisch Grasbüschel aus der mählich grünenden Talweide zu rupfen. Hadhuin genoß einen weiteren Vorzug, den die Stute ihm bot: ihre Milch. Teils saugte er sie direkt aus den prallen Zitzen zwischen den Hinterläufen, teils molk er sie ab, um darin den grob zwischen Steinen zermahlenen Hafer oder die Gerste zu kochen. Immer war sie ein wohltuender Genuß, und das Tier ließ ihn bereitwillig gewähren.

Dennoch gelüstete Hadhuin nach Fleisch. Die Wälder waren reich an Rotwild; oft konnte er mehrere Hinden, seltener die Böcke beim Trinken am Bach beobachten. Und so machte er sich jetzt daran, aus einer gestern geschnittenen Weißdornrute einen Bogen zu fertigen.

Zunächst schälte er mit dem Dolch die Rinde ab und glättete das blanke Holz mithilfe des grobkörnigen Sandsteins, der den felsigen Untergrund seiner Notbehausung bildete. Vereinzelt lagen davon Bruchstücke herum, die ihm bereits für den Feuerkranz und zum Mahlen des Getreides dienlich waren. Während des Schleifens prüfte er die durch ihren Wuchs bereits leicht geschwungene Rute mehrmals auf ihre Biegsamkeit. Als er sicher war, daß sie keine Spreißel reißen würde, kerbte er an beiden Enden eine Vertiefung zum Befestigen der Sehne ein. Beim Schälen hatte er die Rute außerdem so zurechtgeschnitzt, daß sie jetzt in der Mitte am dicksten war. Dort bearbeitete er sie so lange, bis sie nahezu perfekt im Griff seiner linken Hand lag.

Die Arbeit war nicht sonderlich anstrengend oder ermüdend. Für Hadhuin, der außer seinem Dienst als Lastträger nur die rohen, abstumpfenden Tätigkeiten des Steinbruchs kannte, hatte sie vielmehr etwas anregendes. Es bereitete ihm ein bisher nicht gekanntes Vergnügen zuzusehen, wie sich das Holz unter seinem Messer in die gewünschte Form fügte, und mehr noch, wie seine Oberfläche durch den Schliff immer geschmeidiger wurde. Ein ums andere Mal ließ er seine Hand darüber gleiten; das Ertasten etwa noch vorhandener Unebenheiten war ein willkommener Vorwand, die künstliche Glätte des jungen Holzes zu fühlen, sich daran zu freuen und mit seiner Arbeit zufrieden zu sein. So sehr war er in seine Tätigkeit vertieft, und so fasziniert von dem Ergebnis, daß er gar nicht merkte wie es im Laufe des Tages aufhörte zu nieseln und auch der Wind immer mehr nachließ. Verwundert blickte er auf, als ihn irgendwann nachmittags ein zaghaft durchs Gewölk dringender Sonnenstrahl traf.

Den Rest des Tages verbrachte er mit einem Streifzug durch den Wald, um nach geeignetem Pfeilholz Ausschau zu halten. Er hatte einmal gehört, Pfeile würden meist aus Eschenholz gemacht. Unten am Bachufer stand ein Baum, der dem in Pendaris Opferhain ähnlich war, an Wuchs wie auch von der Beschaffenheit seiner Rinde her. Er ging um ihn herum, betrachtete ihn von allen Seiten, und war sich unschlüssig. Auch aus dem abgeworfenen Laub des Vorjahrs, das mit dem der umstehenden Bäume durcheinandergeweht war, wußte er keine verläßlichen Schlüsse zu ziehen. Schließlich brach er aber doch einige vom Boden aus erreichbare Zweige ab und nahm sie mit, um sich daran zu versuchen.

So wie dieser Tag ausklang, begann auch der folgende, trocken und beinahe windstill. Die Wolkendecke, die am Morgen zuvor noch dunkel und regenschwer auf den Höhen ringsum gelegen hatte, wehte federleicht aufwärts, befreit von ihrer nassen Last. Der Wald hallte wider von Vogelstimmen. Es war wie eine Ahnung von Frühling, und Hadhuins Vorfreude wurde von der Gewißheit getrübt, daß dies unmöglich das Ende des Winters bedeuten konnte. Grimmig erstickte er die trügerische Hoffnung noch ehe sie aufkeimte, wälzte sich von seinem Lager und blies das Feuer an.

Die Stute war nicht bei ihm, aber er wußte schon wo er sie finden würde. Er nahm ein Zinngefäß, das zu den Ausrüstungsgegenständen des Lasttiertreibers gehört hatte, sowie den Schafsbalg und lief hangabwärts an den Bach. Die Stute graste auf der anderen Seite. Ehe er hinüberwatete, warf er sich prustend ein paar Hände voll eiskalten Wassers ins Gesicht. Das Maultier kam freudig auf ihn zugetrabt, schnaubend legte es ihm zur Begrüßung den Kopf über die Schulter, um sich den Hals tätscheln und hinter den Ohren kraulen zu lassen. Hadhuin spürte kurz seinen Lidschlag an der linken Wange. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit furchte er mit den Fingern die blonde, strohige Mähne; er war froh, das Tier nicht geopfert zu haben. Schließlich molk er mit mittlerweile gut eingeübten Handgriffen seinen morgendlichen Milchtrunk ab und füllte ihn in den Balg um, den er sorgfältig verschloß und über die linke Schulter hängte. Das Zinngefäß wusch er in der Strömung des Bachs und trug es bis zum Rand voll Wasser den Hang hinauf.

Von der Milch trank er den größten Teil gleich, noch körperwarm. Den Rest vermischte er mit Wasser und gemahlenem Hafer in dem irdenen Topf und setzte den Brei zum Quellen an den Rand des neu entfachten Feuers. Dann machte er sich daran, die am Vortag gebrochenen Zweige zu schälen, begradigen und anzuspitzen. Wie zuvor schon den Bogen, glättete er sie mit Sandstein, sorgfältig und ohne Hast. Immer wieder ließ er die Schäfte zwischen den Fingern durchgleiten und versuchte sich vorzustellen, wie es sich wohl beim Abschuß anfühlen würde. Diese Prüfung führte er weitaus sachlicher durch als die des Bogens, bei der er sich regelrecht verspielt hatte.

Die Sonne, die sich ab und an hinter gelblich schwelenden Wolkenschleiern erahnen ließ, stand bereits weit im Westen als er endlich damit begann, die Pfeile von der Spitze her über niedriger Flamme auszuhärten. Niemand hatte ihm je gesagt, daß dies zu tun wäre. Da er über keine geeigneten Metallgegenstände verfügte, geschweige denn über das Werkzeug, um sie zu Pfeilspitzen umzuarbeiten, mußte er sich irgendwie anders behelfen. Daß das frische, weiße Holz zu weich war um irgendetwas zu durchdringen, war ihm klar ehe er auch nur zum ersten Schnitt angesetzt hatte. Ohne recht zu wissen auf welches Ziel hin, ließ er die Hände weiterarbeiten, und die Art wie sich die Späne lösten sagte ihm, daß es der noch frische Baumsaft war, der sie so biegsam machte. Nun hatte er während der langen Tage und Nächte, in denen er sich dicht am Feuer hielt, oft genug Gelegenheit gehabt zu beobachten, wie die Flammen das Harz aus den Fasern dickerer Aststücke trieben und an der Oberfläche regelrecht versteinern ließen. Es galt also, es in den Pfeilschäften zurückzuhalten und dort verhärten zu lassen. Daß dies langsam geschehen mußte, war offensichtlich, und deswegen hielt er die Flammen niedrig.

Schließlich stellte sich noch die Frage nach dem geeigneten Material für die Sehne, aber Hadhuin hatte sich bereits für den Lederriemen entschieden, mit dem die Wanderausrüstung des unglücklichen Lasttiertreibers verschnürt war. Leder war dehnbar, wie für eine Bogensehne erforderlich, und zum Verschnüren der Ausrüstung würde sich schon etwas anderes finden, wenn es darauf ankäme. Und hätte er seine ersten Beutetiere erlegt, würde sich sicher so manches daran zur nachträglichen Verbesserung seiner Jagdausrüstung verwerten lassen. Während er in Gedanken verschiedene Möglichkeiten erwog, drehte Hadhuin die Pfeilschäfte über dem Feuer und kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit.

Als sie ihm aus den erschlafften Händen fielen, wurde er schlagartig wieder hellwach. Er mußte tatsächlich kurz weggedämmert sein, denn über die heruntergebrannte Glut hinweg sah er, daß die Luft bereits in das stumpfe Blau hinüberglitt, mit dem sich der Abend ankündigte. Hastig las er die Pfeile aus der Glut und legte sie beiseite, um nach dem Brennholzhaufen zu langen und einige Aststücke heranzuziehen.

Und da hörte er von draußen ein Geräusch. Gleichzeitig mit dem Schleifen des Astes auf dem Felsboden, aber deutlich davon zu unterscheiden, und aus der entgegengesetzten Richtung. Hadhuin griff nach seinem Dolch und richtete sich auf. Angespannt lauschte er nach draußen und ließ seinen Blick durch die Dämmerung schweifen. Kälte kroch ihm wie ein fremdes Wesen unter die Haut, seine Haare sträubten sich wie die einer Wildkatze. Zum ersten Mal sah er die Wildnis als das, was sie tatsächlich war: eine Bedrohung. Hatte ihm die Abgeschiedenheit seiner Felsenwohnung bisher vor allem Schutz vor Verfolgung bedeutet, sah er die Waldnacht auf einmal von Kreaturen bevölkert, die er aus halbvergessenen Erzählungen und Legenden kannte. Sie traten plötzlich und unangekündigt aus der Erinnerung in sein Bewußtsein, und schienen ihm doch so vertraut, als wären sie seine lebenslangen Begleiter gewesen. Das Blut gefror ihm in den Adern, als er ein weiteres Rascheln hörte und einen schwankenden Schatten zwischen den Bäumen sah.

Dann vernahm er den ersten Huftritt auf felsigem Boden, und erst jetzt merkte er, daß er sogar das Atmen vergessen hatte. Er holte tief Luft, verfluchte in seiner grenzenlosen Erleichterung zuerst das Maultier und schimpfte gleich darauf sich selbst einen Narren. Verlegen kratzte er sich im Nacken, wußte aber nicht, vor wem er sich eigentlich schämte. Er täuschte vor, die Stute nicht zu beachten, die ihren gewohnten Platz an der Felswand aufsuchte, und indem er mit einer Astgabel das Feuer neu aufschürte, spielte er vor sich selbst den Unbekümmerten.

Er saß schon eine ganze Zeitlang und drehte wie zuvor die Pfeilspitzen über den Flammen, bis er nicht mehr an sich halten konnte und in schallendes Gelächter über seine eigene, kindische Furchtsamkeit ausbrach.

Drei Tage später verfolgte Hadhuin den Bachlauf aufwärts, in der Hand den mit dem Lederriemen als Sehne bespannten Bogen; die ausgehärteten Pfeile steckten an seiner linken Hüfte unter dem Gürtel, der seinen Überwurf umwand, und den Dolch trug er wie immer an der rechten Seite, wo er der stets griffbereiten Hand am nächsten war.

Mehr als auf der Pirsch, befand er sich auf Erkundung. Die Hinden hatte er schon seit längerem nicht mehr gesehen. Gestern hatte er den ganzen Tag damit verbracht, ihnen am Talrand aufzulauern, indem er sich dort so gut er konnte im Unterholz versteckt hielt. Aber sie kamen nicht mehr zum Trinken an den gleichen Platz. Wie es schien, ahnten sie die feindliche Präsenz des Jägers, oder vielleicht war es auch die fremde Witterung des handzahmen Lasttiers, die sie aus ihrem angestammten Revier vertrieb, oder womöglich beides zusammen. Er würde sehen. Wenn er die Talweide einige Tage lang mied, und sie kämen zurück, dann wüßte er daß nicht das Maultier ihr Grund war, sich fernzuhalten.

Hadhuin hatte nicht die geringste Ahnung vom Jagen, er würde es sich mühsam selbst beibringen, alles dazu notwendige Wissen durch blinden Versuch erwerben müssen. Auch im Bogenschießen hatte er keinerlei Erfahrung. Er wollte seine wenigen Pfeile nicht durch Übungsschüsse vergeuden oder unbrauchbar machen. Einzig das Anlegen, Spannen und Zielen hatte er etwas eingespielt, und somit auch den Bogen gefügiger gemacht. Er schien jetzt tatsächlich biegsamer als vorher. Von nun an wäre die Jagd selbst seine Übung.

Jede Beute wäre ihm recht, gleich ob behaart, gefiedert oder geschuppt. Und so behielt er immer den Wasserlauf im Blick, ob er ihm vielleicht einen Fanggrund für Forellen böte. Fische, dachte er, wären vielleicht ein guter Anfang. Sie gaben nicht nur ein Ziel ab, das in nächster Nähe lag, die Richtung des Schusses ging überdies abwärts; wenn er fehlging, wäre zumindest der Pfeil nicht verloren, es sei denn, er hätte an einem Stein Schaden genommen. Im günstigeren Fall hätte er sich in den sandigen Untergrund gebohrt. Und im allergünstigsten Fall hätte er natürlich den weichen, schillernden Fischleib aufgespießt, und Hadhuin würde heute abend stolz seine erste Jagdbeute über dem Feuer rösten. Sein Heißhunger auf etwas fangfrisches war ihm der größte Ansporn.

Der Bach wand sich von Nordosten her um den Berg herum. Hadhuin mochte schon deswegen nicht von ihm lassen, weil er ihm verläßlich den Weg zurück weisen würde. Er war früh aufgebrochen und noch nicht lange unterwegs, und obwohl die Sonne immer noch hinter dem Bergrücken stand, kündigte sich der Tag milde an, milder sogar als die vorausgegangenen. Hadhuin ging in Marschrichtung gesehen rechtsseitig des Bachs, und je mehr sich das Tal nach Osten hin öffnete, desto mehr Licht drang herein. Vogelstimmen schnarrten und zwitscherten. Nackte Äste reckten sich wie Knochenfinger vor dem fahlen Himmel und malten fremde Zeichen in die Luft. Er fühlte sich versucht, sein Jagdglück aus ihnen zu deuten, aber er war kein Orakelleser, also ließ er es lieber bleiben und folgte seinem inneren Ruf. Unruhe trieb ihn voran, eine geschäftige Vorfreude, genährt von fiebriger Hoffnung auf Beute. Die murmelnde Stimme des Bachs sprach ihm Mut zu und spornte ihn zum Weitergehen an.

Bis sich das Wasser hinter einer Biegung zu einer seichten, fast unbewegten Fläche dehnte, zurückgehalten von schweren, bemoosten Steinbrocken, die seinen Lauf hinderten und so eine natürliche Stauwehr bildeten. Hadhuin war jetzt fast auf der Nordseite des Bergs, das Tageslicht drang nahezu ungehindert durch den von Bäumen dünn besiedelten Geländeeinschnitt. Das Wasser fing einen matten Sonnenstrahl auf und verwandelte ihn in glitzernde Schuppen. Hadhuin wußte: hier und sonst nirgends.

Die glitschigen Steine als Furt benutzend, kreuzte er vorsichtig das Bachbett, ging um das kleine Staubecken herum und setzte sich zur Rast auf einen Felsen, der es von der anderen Seite her begrenzte. Prüfend ließ er den Blick über die Wasserfläche gleiten. Die Lichtverhältnisse schienen günstig, und so beschloß er, seiner Beute an eben dieser Stelle aufzulauern. Er blieb sitzen, wo er war. Und wartete.

Der Tag war, bei aller Milde, ein Wintertag. Das noch im Werden begriffene neue Jahr schien zaghaft und unentschlossen, und einiger Vogelstimmen wegen zu sagen, der Wald erwache zu Leben, wäre eine Übertreibung gewesen. Daß so etwas wie Vorankündigung in der Luft lag, schien trügerisch; niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, ob die härtesten Tage nicht etwa bevorstanden, die Faust des Winters sich noch einmal schließen würde, und erbarmungsloser als bisher. Dennoch war es nicht zu leugnen: das Licht erhob sich täglich ein wenig mehr als am Vortag, bis es gegenüber der Dunkelheit die Oberhand gewinnen und der Tag die Nacht an Länge übertreffen würde.

Hadhuin hielt den Blick auf das Wasser gerichtet. Der größte Teil der von ihm einsehbaren Fläche wurde nicht vom Tageslicht überglänzt, so daß er den gräulichen Untergrund sehen konnte. Tatsächlich blieb ihm nichts zu tun, als zu warten. Und auf Beute zu hoffen. Er fand dies um so zermürbender, da er gerade erst eine Enttäuschung hinter sich hatte, mit den Hinden nämlich. Andererseits blieb ihm keine Wahl, als Fischen und Jagen zu lernen, wollte er den kommenden Sommer noch erleben. Also zwang er sich zum Durchhalten.

Und wenn nun irgendein anderes Beutetier in seine Nähe kam, während er hier ohne jede Gewißheit auf Fische wartete? Hadhuin war bemüht, alle Sinne offen zu halten und für jede Veränderung in seiner nächsten Umgebung empfänglich zu sein, als er merkte, wie sich sein schlimmster Feind an ihn heranschlich: Schläfrigkeit. Den ersten Anflug vermochte er noch abzuschütteln, allein indem er seiner gewahr wurde und darüber erschrak. Es war die Erinnerung, vollkommen allein und auf sich gestellt zu sein, die urplötzlich aus den Schattenregionen am äußersten Rand seines Geistes hervorgesprungen kam, sich der Versuchung des Schlafs in den Weg stellte und die Müdigkeit vertrieb. Was, wenn er selbst Beute eines Jägers werden würde, fuhr es ihm durch den Sinn? Mit Schaudern erinnerte er sich an jene Winternächte im Steinbruch, als man in nicht allzuweiter Ferne das Heulen der Wölfe hören konnte.

Jedoch nahm er keinerlei Anzeichen von Gefahr wahr, und bald wiegte er sich erneut in Sicherheit. Und wieder wollte ihn die Müdigkeit übermannen, die sich mit bleierner Schwere auf seine Sinne legte. Hadhuin kämpfte mit aller Macht dagegen an und hätte sich doch am liebsten hinabziehen lassen von dem Gewicht, das seine Lider erschlaffen ließ. Er dachte daran, mit beiden Händen aus dem kalten Wasser zu schöpfen und sein Gesicht damit zu benetzen, um die Müdigkeit zu vertreiben, jedoch war der Fels, auf dem er saß, dafür zu hoch. Er würde ihn verlassen und an einer flacheren Stelle ans Ufer treten müssen. So versuchte er eine Weile vergeblich sich dazu zu überwinden, seinen Sitzplatz aufzugeben. Was ihn davon abhielt, war nicht zuletzt der bequeme Vorwand, daß ihm womöglich gerade beim Verlassen seines Spähsitzes ein Fisch unbemerkt entgehen könnte. Aber eigentlich sollte er ohnehin nicht sitzen. Vielmehr sollte er von vorneherein stehen, denn aus dem Sitzen würde er nicht schießen können.

Und gerade als er sich anschicken wollte aufzustehen, um sich zunächst mit kaltem Wasser zu erfrischen und dann stehend seinen Platz wieder einzunehmen, geschah es. Alarmiert nahm er am linken Rand seines Blickfeldes eine Schattenbewegung wahr. Augenblicklich war er wieder hellwach, festigte den Griff seiner um den Bogen geschlossenen linken Hand und starrte angespannt ins Wasser. Tatsächlich, es war keine Sinnestäuschung, kein Traumbild gewesen: dort schlängelte sich der flinke Leib einer Forelle über den seichten Grund. Sie war diesem farblich viel ähnlicher als Hadhuin erwartet hätte, und das war ihm eine Lehre, seinen Blick zur Enttarnung der Beute zu schärfen. Wer weiß, wie viele Fänge ihm schon entgangen sein mochten, seit er regungslos am Ufer verharrte? Langsam, ganz langsam begann Hadhuin sich aufzurichten, um die schreckhafte Kreatur nicht durch eine heftige Bewegung zu vertreiben, während er aufpaßte sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Als er fast gerade stand und den Pfeil zum Zielen anlegen wollte, entschwand der Fisch mit einigen heftigen Schwanzstößen seinem Blick. Hadhuin fluchte mit leiser Stimme vor sich hin, überwand aber rasch seine Wut und Enttäuschung. Immerhin war er jetzt sicher, seinen Platz gut ausgewählt zu haben. Nun galt es mehr als zuvor, wachsam zu bleiben. Er legte das hintere Ende des Pfeilschafts mit der dafür vorgesehenen Einkerbung an der Bogensehne an und hielt seine Jagdwaffe schußbereit an der linken Hüfte, während er aufmerksam den Blick auf das erweiterte Bachbett gerichtet hielt.

Was dann geschah, traf ihn völlig unvorbereitet. Das erste, was er wahrnahm, war ein Rascheln im Gesträuch, und als er überrascht den Kopf nach links wandte, sah er einen Bären aus dem sich teilenden Unterholz treten.

Hadhuin wurde starr vor Entsetzen. Regungslos, mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er, wie das Tier tapsig die sanft abfallende Böschung herab ans Ufer kam, sich keine zwölf Schritte von ihm entfernt mit gekreuzten Tatzen niederließ und ihn schläfrig anblinzelte, scheinbar ohne jeden Argwohn. Hadhuin wagte kaum zu atmen. Was sollte er tun? Davonlaufen? Weiter ruhig stehenbleiben? Oder gar versuchen, den Bären zu erlegen? Die letztere der drei Möglichkeiten schien ihm beim Anblick des dicken, braunen Winterpelzes verlockend; allein, ein flüchtiger Blick auf die dünne Holzspitze seines nach wie vor schußbereit angelegten Pfeils hielt ihn von der Umsetzung ab. Wenn, dann müßte er die Bestie mit einem einzigen Schuß töten oder zumindest kampfunfähig machen. Würde sie ihn zum Kampf gereizt anfallen, hätte er nur noch seinen Dolch zur Verteidigung, und wenngleich dieser sicherlich nicht weniger scharf war als die Bärenkrallen, war sein Gegner doch zweifellos geübter im Waffengang als er selbst.

Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als der braune Koloß sich wieder auf alle vier Tatzen aufrichtete. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er direkt auf ihn zukommen, aber stattdessen begann er ins seichte Wasser zu waten und das vom Gesträuch überschattete Ufer abzusuchen. Hadhuin begann etwas Mut zu schöpfen, da der Bär weiterhin keine Notiz von ihm zu nehmen schien. Sollte er es wagen? Ein gezielter Schuß in eines der schwarzen, tiefliegenden Augen, wo das massige Tier am verwundbarsten war? Und was dann? Würde es, rasend vor Pein, seinen Angreifer anfallen? Als der Bär mitten im Wasser stehenblieb, ihm erneut zugewandt und nur wenige Armeslängen vorn ihm entfernt, wurde Hadhuin schlagartig klar, daß er handeln mußte. Ohne zu überlegen, begann er die knarrende Sehne zu spannen und mit der Pfeilspitze auf das linke Auge zu zielen. Der Bär hob den Kopf und richtete seinen Blick auf Hadhuin, deutlich sah er den Glanz beider Augen und der feuchtschwarzen Nase; auch nahm er jetzt den strengen Geruch wahr und hörte ein tiefes Brummen, das lauter und lauter wurde während er die Bogensehne bis zum Äußersten spannte, aber zum Schuß kam es nicht mehr, denn plötzlich bebte der Fels unter ihm – aber nicht nur der Fels, alles um ihn herum begann zu beben, und das Brummen wurde zu einem Grollen, und es kam auch nicht aus der Bärenkehle, sondern aus den Tiefen der erschauernden Erde.

Das Beben verebbte, und der Bär schaute wie verwundert um sich. Dann tauschte er einen kurzen Blick mit dem nicht minder verblüfften Hadhuin, verließ mit einem beleidigten Grummeln das Wasser und stapfte ohne sich noch einmal umzudrehen durch das Unterholz davon, in der gleichen Richtung aus der er auch gekommen war.

Hadhuin brauchte lange, um sich aus seiner Erstarrung zu lösen, oder wenigstens kam es ihm selbst so vor. Bäche von Schweiß liefen ihm über die Stirn und aus den Achselhöhlen, während er langsam den Bogen sinken ließ. Vorsichtig stieg er von dem Fels herunter, ging zum nächststehenden Baum und ließ sich von einem Schwindelgefühl übermannt nieder. Mit dem Rücken an den Stamm gelehnt schnappte er nach Luft und wartete, bis sich sein Herzschlag wieder beruhigt hatte.

Was? Was bei allen Dämonen der Unterwelt hatte das nur zu bedeuten? Hadhuin krallte die Finger der linken Hand in den Boden, während er sich mit der rechten über die Stirn fuhr, und schickte im Geist ein Dankgebet an Gnidhr; denn was immer den Buckligen bewogen haben mochte, seinen Hammer gerade jetzt zu schwingen, für ihn kam es genau im rechten Augenblick. Sein Jagdeifer war ihm jedoch erst einmal vergangen. Er rappelte sich wieder auf, und ehe er seinen Bogen nahm um den Rückweg zu seinem Versteck anzutreten, stillte er seinen brennenden Durst mit einem langen, ausgiebigen Trunk des kalten Bachwassers.

Ein Bär! wollte es ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen, während er von dem Schock einigermaßen erholt, und erleichtert über den glimpflichen Verlauf der Begegnung, beschleunigten Schrittes talabwärts trabte. Ausgerechnet ein Bär, das letzte, womit er gerechnet hätte! Dabei war es, genau besehen, gar nicht so abwegig, daß der Braune seine Winterruhe unterbrochen hatte. Und daß gerade er, Hadhuin, ihm dabei ins Gehege kommen mußte.... auch damit war zu rechnen, mitten in dieser Wildnis.

Hätte er doch nur bessere Pfeilspitzen, fuhr es ihm durch den Sinn. Dann könnte er es wagen, die Spur des Bären bis in seine Höhle aufzunehmen, um ihn dort vielleicht im Schlaf zu überraschen und zu erlegen. Mit den angespitzten Holzschäften aber mochte er es auf einen Versuch nicht ankommen lassen – beim bloßen Gedanken daran sah er sie wirkungslos von dem dicken Fell abgleiten. Sich mit dem Dolch in der Hand an das Tier heranschleichen und ihm rasch einen tödlichen Stoß versetzen? Ein ausgewachsener Bär war kein argloser Maultiertreiber, selbst im Schlaf nicht. Bei diesem Gedanken verdüsterte sich Hadhuins Stimmung, da er sich wie der schändlichste Feigling vorkam.

Das beste wäre eben doch, schnellstmöglich ein Stück Rotwild zu erbeuten. Sicher ließen sich die zersplitterten Knochen zu Pfeilspitzen verarbeiten. Ob diese in ihrer Wirkung tatsächlich verläßlicher waren als zugespitztes und feuergehärtetes Eschenholz, erschien zwar fraglich; aber zumindest hätte er dann einen Fleischvorrat, und die Wirkung der Knochenspitzen könnte er einstweilen anderweitig erproben.

Und wehe dem Dickfellträger, wenn sie sich als tauglich erweisen sollten!

Als er die Talsohle unterhalb seines Verstecks erreichte, fand er sich freudig überrascht, frische Hufabdrücke der Hinden an ihrer üblichen Tränke zu entdecken. Hadhuin schöpfte neuen Mut. Sie mieden also doch nicht das Maultier, das friedlich auf der Weide graste.

Damit war sein Entschluß für den morgigen Tag gefaßt. Und um alle Irrtümer dieses Mal von vorneherein zu vermeiden, prüfte er noch einmal die Richtung, aus der die Hirschkühe an das von der Bergflanke aus gesehen jenseitige Ufer des Baches kamen. Besser gesagt, er versuchte es. Denn nur wenige Schritte vom Ufersand entfernt begann sich die Fährte unter seinem ungeübten Blick zu verwischen. Erst als er begann, die gesamte Talweide zu umrunden, entdeckte er an ihrem nördlichen Rand eine ausgetretene Stelle, die sich mit einer Biegung nach Westen zwischen den Baumstämmen weiterschlängelte: ein Wildpfad also. Und nun glaubte Hadhuin seinen gestrigen Fehler zu erkennen: er hatte die Tiere zu nahe am nordöstlichen Rand der Weide abzupassen versucht und ihnen so fast den Weg zum Wasser versperrt.

Mit Bedacht machte er sich jetzt daran, eine geeignetere Stelle zu finden. Er ließ sich Zeit, und der Nachmittag war um einiges fortgeschritten, als er seine Entscheidung getroffen hatte: er würde es vom südlichen Ende her versuchen, verborgen im dunklen Schatten zweier Fichten.

Als er aus dem Schlaf hochschreckte, umgab ihn noch vollkommene Dunkelheit. Nur ein schwacher Glutrest glomm kaum wahrnehmbar aus der Feuerstelle links neben ihm. Hinter sich hörte er die Stute, wie sie unruhig schnaubte und ihre Mähne schüttelte. Scheinbar war es kein Traum gewesen, und die Erde hatte erneut gebebt. Mit aufgestützten Ellbogen und halb aufgerichtetem Oberkörper lauschte er in die Nacht. Er hatte das Gefühl, angenehm lange geschlafen zu haben und folgerte daraus, daß es nicht mehr allzulange dauern konnte bis der Morgen anbrach. Was freilich blieb, war ein Gefühl dumpfer Beklommenheit. Er konnte sich nicht daran erinnern jemals erlebt zu haben, daß die Erde sich zweimal schüttelte noch ehe die Sonne ihre gesamte Bahn durchmessen hatte. Um genau zu sein, hatte er überhaupt noch nie ein Erdbeben erlebt.

Und da geschah es ein weiteres Mal – etwas schwächer als gestern, bachaufwärts am Staubecken, aber deutlich zu spüren als eine Welle des Zitterns, als würde der mächtig hingebreitete Leib der Erde von einem Fieberschauer befallen. Er hörte das Maultier einen Huf auf den Felsboden aufsetzen, wie wenn es Anstalten machte, aufzustehen. Er selbst verharrte regungslos in seiner angespannten Position, mit bis zum äußersten geschärften Sinnen. Und dann erhellte ein Blitz, ähnlich einem Wetterleuchten, die Dunkelheit. Deutlich sah er zu seiner Rechten einen Augenblick lang die ruppige Felswand, ehe sie wieder von der dichten, fast greifbaren Schwärze geschluckt wurden. Hadhuin wartete ab und machte sich auf alles Mögliche gefaßt, ohne eine genaue Vorstellung zu haben, was. Aber von nun an blieb alles ruhig und unverändert. Bis sich überraschend der abnehmende Mond hinter einem sich lichtenden Wolkenschleier zeigte. Im dritten Viertel stand er über dem Eingang der Felsnische, kaum hell genug um ihre Ränder fahl zu erleuchten.

Und wenngleich er kurz darauf wieder hinter der Wolkenwand verschwand, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Seufzend streifte Hadhuin die Felldecke von sich ab und machte sich daran, das Feuer neu zu entfachen.

Er wartete, bis der Nachthimmel verblaßt war und sich die orangeroten Flammen vor dem einförmigen Grau abzeichneten, das seit seiner Ankunft vor einem halben Monat kaum eine Veränderung erfahren hatte. Einmal noch ließ sich der Mond kurz durch einen Riß in der Wolkendecke sehen, bereits auf halbem Weg zum Horizont. Als die Stute, ihrer Gewohnheit folgend, sich auf den Weg ins Tal machen wollte, hielt Hadhuin sie zurück, um ihr zuvor noch die Morgenmilch abzumelken. Kurze Zeit später folgte er ihr hinab, den Magen wohlig gefüllt mit Brei, womit sein Hunger für die nächsten Stunden gestillt war.

Er sah sich vor, auch den Schafsbalg dabeizuhaben, den er am Bach mit Wasser füllte. Sein Versteck unter den Fichten lag ein gutes Stück vom Ufer entfernt, und er wollte es auf keinen Fall verlassen müssen, es sei denn, um sich seiner niedergestreckten Beute zu bemächtigen.

Und wieder begann das Warten. Hadhuin mußte sich eingestehen, daß er sich das Jägerdasein anders vorgestellt hatte. Aber sein Urteil war verfrüht, da er das Beuteglück noch nicht kannte, zweifellos eine Quelle der Freude und des Ansporns, während alles, was ihn derzeit antrieb, in bitterer Notwendigkeit begründet lag. Bogen und Pfeil schußbereit an der Hüfte, verschanzte er sich hinter dem linken der beiden Fichtenstämme. Die tiefhängenden, von der Last dunkelgrüner Nadeln schweren Äste gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit, da er sich von der Tränke aus gesehen in dichtes Dunkel gehüllt wähnte. Hadhuin wußte, daß die Hinden immer erst gegen Mittag kamen. Den Zeitpunkt, sich auf die Lauer zu legen, hatte er dennoch früh gewählt, um sie auch ja nicht zu verpassen.

Indem der Morgen voranschritt, ging in der Luft eine Veränderung vor sich. Die Wolkendecke wurde dünner und begann aufzureißen wie ein fadenscheiniges Tuch. Immer größere Blacken pastellblauen Himmels wurden sichtbar. Mehrmals wurden die umliegenden Bergrücken von Licht gestreift, und als die Sonne zum ersten Mal ungehindert ins Tal schien, knapp über den Gipfel des Berges zu seiner Rechten hinweg, flammte die Grasnarbe von der gegenüberliegenden Seite her auf wie smaragdfarbenes Feuer. Hadhuin, der seit langem keine so leuchtenden Farben mehr gesehen hatte, sog den Anblick in sich auf wie ausgetrocknete Erde den Regen im Sommer. Er war so gebannt davon, daß er nicht einmal den Fischotter bemerkte, der vom Bach her die Wiese kreuzend auf ihn zukam.

Dabei war er mit seinem dunklen Fell wahrhaftig nicht zu übersehen auf der ausgedehnten Grasfläche, selbst da wo noch kein Sonnenlicht hinfiel. Hadhuin erschrak fast zu Tode, als er sich plötzlich auf die Hinterbeine aufrichtete und den Kopf nach vorne streckte, als würde er neugierig an seiner linken Schulter vorbei ins Unterholz spähen. Und aus dieser Richtung meinte er jetzt auch ein leises Knacken zu vernehmen. Zugleich nahm er wahr, wie der Otter den Kopf ein wenig anhob, und Hadhuin begann Zusammenhänge zu erfassen, ohne sie zu verstehen. Blitzschnell wandte er sich nach links, zielte mit gespanntem Bogen in die vom Otter anvisierte Richtung und sah gerade noch einen Schatten aus den Ästen der am nächsten stehenden Buche in den Wipfel der Fichte huschen, hinter deren Stamm er sich verborgen hielt. Er folgte der Bewegung mit dem schußbereiten Pfeil, und dann sah er zu seinem Entsetzen zwei rote Augen aus dem Dunkel des Nadelgehölzes auf ihn herabglühen. Hadhuin konnte kaum die Konturen einer hockenden Gestalt erahnen, so sehr nahm der von einem abgrundtiefen Haß erfüllte Blick seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Er meinte förmlich zu spüren, wie ihm das Blut in den Adern zu Eis gerann.

Und plötzlich rannte er. Zuvor ließ er noch den Pfeil von der Sehne surren, genau auf das glühende Augenpaar zu, aber dann rannte er, rannte wie noch nie in seinem Leben. Im gleichen Moment, als er zwischen den Fichtenstämmen hervor auf die ungedeckte Wiese schnellte, tat der Otter einen enormen Sprung in die entgegengesetzte Richtung, knapp an ihm vorbei in den Fichtenschatten hinein. Hadhuin registrierte erst jetzt die merkwürdige Graufärbung des linken Auges, und selbst in seiner plötzlichen Gehetztheit blieb ihm noch Zeit sich darüber zu wundern.

Während er mit mächtigen Schritten auf den gegenüberliegenden Rand der Talweide und das Ufer des Bachs zuhielt, hörte er hinter sich zwei Schreie. Einer erinnerte ihn an das Quieken eines Schweins, der andere dagegen klang so entsetzlich, daß er keinem Vergleich standhielt. Er war kehlig wie der eines Raubtiers, aber keines dem ein Mensch je begegnet wäre. Haß lag darin, unaussprechlicher Haß, und Wut. Aber auch Agonie. Hadhuins rechte, jetzt freie Hand fuhr unwillkürlich an die Hüfte, da wo der Dolch am Gürtel hätte stecken sollen. Und erst jetzt merkte er, daß er ihn gar nicht dabei hatte.

Wasser spritzte nach allen Seiten, als er in Windeseile das flache Bachbett durchquerte, und hinter sich hörte er weiter den gräßlichen Raubtierschrei und etwas, was er als Kampfgetümmel deutete. Mit einer Viertelwendung nach rechts begann er keuchend den Hang zu erklimmen. Er hatte nur einen Gedanken: sein Versteck zu erreichen. Wo der Dolch lag. Und wo ein Feuer brannte.

Er kam nicht weit. Und eigentlich war es ein Wunder, daß er in seiner panischen Angst nicht blind weiterrannte, auf ein weiteres Paar rotglühender Augen zu, das vom Hang her auf ihn herabstarrte, und der ihm zugehörigen geduckten Schattengestalt in die Fänge. Als er sich nach links wenden wollte und dort genau das gleiche zu sehen bekam, glaubte er sein Ende gekommen. Er konnte ein jämmerliches Wimmern nicht unterdrücken, als er sich umwandte um wieder hangabwärts zu rennen. Er dachte noch, was für ein Irrsinn es sei, gestreckten Schrittes einen Berg hinunterzulaufen, auf ein zum Teil von Felsbrocken gesäumtes Bachufer zu. Es war das letzte was er dachte ehe er über eine Baumwurzel stolperte und vornüber schlug, während ein gewaltiger Eber mit blutigen, in ihrer Überlänge schier grotesken Hauern über den Bachlauf hinweg auf ihn zugejagt kam.

Der Gott des Zwielichts

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