Читать книгу Der Gott des Zwielichts - Joachim Kurtz - Страница 7

Faghnar saß regungslos und mit angewinkelten Knien

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auf einem der Felsen am Bachufer. An seiner linken Schulter ragte das frische Holz des tags zuvor erst geschnittenen Eschenstabs aus den Falten seines Gewands, das er locker um sich geschlagen hatte.

Der erste Schnee fiel. Zahllos wie die Schuppen des schlafenden Drachen umkreisten die Kristalle einander und zeichneten auch die leiseste Bewegung der Winterluft nach. Manche verfingen sich an Ästen und Zweigen, andere setzten ihre Wanderung am Boden fort, ehe sie an der ihnen zugedachten Stelle zu liegen kamen. Nach und nach durchwirkten sie das Braun des Waldbodens und wuchsen zu einem bleichen Tuch zusammen, das alles unter sich begrub.

Starr wie der Fels, der sein Sitz war, schien Faghnar mit diesem verwachsen und wäre für die Augen Sterblicher nicht davon zu unterscheiden gewesen, es sei denn, er selbst hätte es so gewollt. Das alles gleichmachende Weiß tat ein übriges. Was die Aufmerksamkeit eines Betrachters aber vollends von seiner Anwesenheit abgelenkt hätte, war eine Stelle am Boden genau vor ihm, die von Schnee freiblieb. Ungleichmäßig geformt, leuchtete sie wie ein Rubin aus den Schneewehen. Faghnars Blick ruhte fortwährend darauf.

Der Neuschnee hatte sich etwa zwei Finger hoch darum angehäuft, als der Feuergott den Kopf in den Nacken legte und einen langgezogenen, weithin vernehmlichen Pfiff gen Himmel schickte. Es dauerte nicht lange, und ein Rabe kam durch die Baumkronen herabgeflattert und ließ sich auf seiner linken Schulter nieder.

Eine ganze Weile geschah nichts. Der Rabe blieb geduldig sitzen und putzte sein Gefieder, bis er schließlich auf die ihm hingehaltene Hand kletterte. Was folgte war ein Zwiegespräch, wie es nur zwischen zwei so unterschiedlichen Wesen wie einem auf die Erde verbannten Gott und einem zu dessen Boten ausersehenen Vogel möglich war. Niemand sonst hätte es mitverfolgen, geschweige denn daran teilhaben können, außer vielleicht ein anderer Unsterblicher. Wichtiger als die kehligen Laute, die dabei ausgetauscht wurden, waren Faghnars Mienenspiel und die Bewegungen des auf seinem ausgestreckten Finger hin und her trippelnden Raben. Das Tier hielt ständigen Blickkontakt mit Faghnars rechtem Auge, indem es ihm bald die eine, bald die andere Kopfseite zuwandte. Beide Augen des Vogels lagen stets auf einer Achse mit dem des Gottes.

Das Gespräch endete, als Faghnar sich zu voller Größe seiner menschlichen Gestalt aufrichtete und den Raben mit einer weit ausholenden Bewegung seines rechten Arms von sich schleuderte. Laut schnarrend hob der Vogel zum Flug in östlicher Richtung ab.

Faghnar wandte sich rechtsum und durchwatete das Bachbett. Bei den Fichten, wo er wenige Tage zuvor den ersten von drei Widergängern seiner leiblichen Gestalt entledigt hatte, umschritt er mehrmals den Schauplatz jenes kurzen und zumindest vorläufig zu seinen Gunsten entschiedenen Kampfes. Überschattet von dichtem Nadelgehölz, war er weniger auffällig als der des danach ausgefochtenen. Und wenn der Schnee hier auch weitgehend von den ausladenden Ästen der Fichten abgehalten wurde, häuften sich dennoch Verwehungen zwischen den beiden Stämmen an und begrenzten deutlich das unbedeckt bleibende Rot. Faghnar ging zurück zu dem Felsen am anderen Ufer.

Und beobachtete ruhig, als hätte er nichts anderes erwartet, die mählich eintretende Veränderung.

Nicht weit von der blutgetränkten Stelle wurzelte eine schlanke Eiche. Dorthin zog sich jetzt eine Furche durch den Schnee, schuf eine sichtbare Verbindung zwischen dem Baum und der Kampfstätte. Die Eiche stand ihr keineswegs am nächsten, zu einigen Buchen war die Entfernung deutlich geringer; aber der am Grund keilförmig zusammenlaufende Einschnitt in der Schneedecke nahm den direktesten Weg zu der Eiche, an deren Wurzelwerk er sich fächerartig ausweitete, wie die Mündung eines Flusses. Faghnar hielt mit beiden Händen den Stab aufrecht vor sich und verharrte so regungslos wie die Bäume um ihn herum.

Nach einiger Zeit begann die Furche sich wieder mit Schnee aufzufüllen. Nicht so die im Waldboden versickerte Blutlache, die sich nur umso deutlicher von dem weißen Rand ringsum abgrenzte, je höher dieser aufragte.

Faghnar wartete immer noch.

Erst als der Tag seine äußerste Ausdehnung erreicht hatte und fast den Saum der Dämmerung berührte, kam wieder Bewegung in die Gestalt. Entschlossen schritt Faghnar auf die Eiche zu und machte sich mit bloßen Händen daran, sie zu schinden. Rund um den Stamm schälte er einen in sich geschlossenen Streifen aus der Rinde. Den unteren Rand arbeitete er schräg vom oberen weg, also mit einer leichten Neigung, um dann vom bodennächsten Punkt aus eine senkrecht verlaufende Rinne in die Borke zu ritzen, mitten in den Schnee hinein, den er an ihrem unteren Ende dick anhäufte.

Schließlich holte er eine Kette unter seinem Umhang hervor, wo er sie scheinbar um die Hüfte gegürtet getragen hatte. Sie maß etwa drei Armlängen und war aus grauen, dünnen und dennoch robusten Gliedern geschmiedet. Der Feuergott legte sie in die ringförmige Vertiefung in der Borke auf das blanke Holz und begann sie festzuzurren, indem er die herunterhängenden Enden umeinanderschlang.

Als die Kette spannte, drang ein lautes Knarren aus dem Holz – oder war es ein Stöhnen? Faghnar zog mit geballten Fäusten die beiden Enden der Kette in entgegengesetzter Richtung und verschlang sie ein weiteres Mal. Das Knarren wurde zu einem Krachen, von dem das gleichzeitige Stöhnen jetzt deutlich zu unterscheiden war. Es war entsetzlich anzuhören, und alles was sich an lebendigen Wesen in der Nähe befand, in der Luft wie auch am Boden, stieb auseinander, weg vom Ort des Geschehens. Schweißperlen traten auf Faghnars Stirn, als er mit einer gewaltigen Anstrengung die Kette ein drittes Mal in sich verschlang. Die Glieder drangen ins splitternde Holz, das Krachen wurde ohrenbetäubend. Das Schrecklichste aber war die Stimme, die durch den Lärm des brechenden Holzes drang, und in dem gipfelte, was unverkennbar ein Todesschrei war. Faghnar stand mittlerweile nicht mehr, er hing regelrecht an der Kette, mit leerem Blick und geöffnetem Mund, aber weiterhin mit aller Kraft die Glieder anzurrend. Sein schweißüberströmtes Gesicht war aschfahl geworden, und weiß traten die Fingerknöchel an den Fäusten hervor, während sich der zu seinen Füßen angehäufte Schnee in tiefes Rot färbte. Und dann schrie er selbst, schloß die Augen und schrie sich die göttliche Verzweiflung einer letzten, riesigen Anstrengung aus den Tiefen der Brust, und in diesem Moment sprang der Baumschaft auseinander und alle Spannung entlud sich schmerzhaft abrupt. Faghnar fiel kopfüber in den blutgetränkten Schnee, war aber sofort wieder auf den Beinen und stemmte sich gegen den fallenden Baum. Astsplitter flogen in alle Richtungen, als er hangwärts zwischen Buchen ins Unterholz stürzte.

Ohne weitere Zeit zu verlieren, grub Faghnar die Arme in den Haufen blutigen Schnees und hob so viel davon auf, wie er auf einmal zu fassen bekam. Eilends trug er ihn ans Bachufer, wo er ihn auf mehrere kleine Haufen verteilt ablud. Dann holte er den Rest und begann alles nach und nach der seichten Strömung des Bachs zu übergeben. Sooft er ein paar Handvoll des blutnassen Schnees ins Wasser warf, wartete er bis die einzelnen Klumpen außer Sichtweite getragen wurden, wobei sie sich nicht selten vorher schon auflösten. Alle zogen sie hellrote, transparente Schlieren hinter sich her. Mittlerweile dämmerte es, und als der letzte Rest des endgültig vernichteten Feindes durch die Strömung wirbelte, war auch der Tag beinahe hingegangen.

Faghnar begab sich zurück an die Stelle, wo der blutige Baumstumpf fast in Brusthöhe aus dem Boden ragte, und setzte ihn in Brand. Schwerlich wäre er der Gott des Feuers gewesen, hätte er dafür mehr an Behelfsmitteln bedurft als seines Eschenstabs. Dessen zugespitztes Ende setzte er in der Mitte des zersplitterten Stumpfs an, auf den innersten Baumringen, wo das Blut keine Spuren hinterlassen hatte, und ließ den langen Schaft über seine rechte Schulter ragen. So drehte er ihn einige Male blitzschnell zwischen seinen breiten, flach zusammengelegten Händen und blies ruhig und gleichmäßig auf den angebohrten Punkt. Nicht ehe er aufglomm und der erste Rauch emporkräuselte, nahm er den Eschenstab heraus und rammte ihn aufrecht in die beschneite Erde. Dann blies er weiter das Feuer an, bis es sich auf den gesamten Umfang des Stumpfs ausgebreitet hatte, so daß dieser wie eine Fackel brannte. Der gesamte Vorgang dauerte nicht länger, als ein Mensch zum Entfachen des Herdfeuers gebraucht hätte.

Die Flammen verbreiteten ihren Schein weithin. Auch aus den Wellen des tief durch das Gelände schneidenden Bachs schlugen sie Funken, und bis über sein jenseitiges Ufer hinaus ging der Tanz von Bäumen, Schatten und Licht. An die beiden Fichten reichte er nicht heran, sie blieben im Dunkel. Aber die Kampfstätte des diesseitigen Ufers grenzte sich deutlicher als zuvor von der glitzernden, feuerbeschienenen Schneedecke ab. Und fast noch röter als bei Tageslicht.

Längst hatte es aufgehört zu schneien. Faghnar bückte sich, griff eine Handvoll Schnee vom Boden auf und warf sie auf das blutgetränkte Stück Erde. Abwartend blieb er stehen, den brennenden Stumpf der Eiche zu seiner Rechten, die Finger vor der Brust um den Eschenstab geschlungen, und sah zu wie sich das Häufchen Schnee nach und nach auflöste, bis auch der letzte Rest Weiß vom Rot außenherum aufgesogen war.

Dann wandte er sich von seinem Stab ab, den er im Boden stecken ließ, und schritt dem am Hang hingestreckten Eichenstamm zu. Überall lagen Zweige und Aststücke verstreut. Eines davon, von seiner Größe und Handlichkeit her als Fackel tauglich, las er vom Boden auf, hielt es in das über dem Wurzelstrunk lodernde Feuer und blies darauf. Wo sein Atem auf das Astende traf, stieben die Flammen fauchend auseinander, von einem glutweißen Zentrum weg, das sich knisternd in das Holz einbrannte und rötlich weiterglomm, als er den Ast wieder aus dem Feuer herausnahm. Auf seinem Weg zum Bachufer blies er auf die Glut und watete Augenblicke später mit einer lodernden Fackel in der Hand hinüber.

Die Dunkelheit hätte ihn wie eine Höhle umwölbt, als er zwischen den Fichten stand und die unbeschneite Stelle am Boden beleuchtete, hätte nicht auch von rechts, vom jenseitigen Ufer her, das Feuer gewabert. Mit dem Fuß scharrte er etwas Schnee auf die rote Erde, und wie schon zuvor löste er sich binnen kurzer Zeit auf. Die den Ort von allen Seiten begrenzende Schneedecke begann derweil zu verharschen, davon zeugte das Knacken unter Faghnars Schritten, als er sich zurück an den Hang begab.

Er übergab die Fackel den Flammen, an denen er sie entzündet hatte, und machte sich daran den gefällten Stamm herbeizuziehen. Dazu umfaßte er ihn mit beiden Armen, stemmte ihn mit einer Drehung um sich selbst auf seine rechte Schulter und wuchtete das gebrochene Ende auf den Stumpf, der mittlerweile nur noch hüfthoch brannte. Die Flammen lohten seitwärts, Funken stieben in alle Richtungen und amberfarbene Glutbrocken verzischten im Schnee, als der Eichenstamm dicht neben Faghnar niederkrachte. Was einem Menschen zum mindesten die Kleidung und wahrscheinlich die Haut darunter versengt hätte, ließ ihn vollkommen unversehrt.

Er zog den immer noch aufrecht im Boden steckenden Eschenstab heraus und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen an der gleichen Stelle nieder, das Gesicht der unbeschneiten Kampfstätte zugewandt. Das Kinn auf die Brust gesenkt, hielt er den Stab quer vor sich auf den Knien, und während das Feuer neben ihm auf den Baumschaft überzugreifen begann, maskierte er seine auch im Sitzen noch eindrucksvolle Gestalt durch jene Starre, die selbst den aufmerksamsten Betrachter über seine höchst lebendige Anwesenheit hinweggetäuscht hätte.

So ging die Nacht hin.

Es war gegen Morgen, aber noch bei völliger Dunkelheit, als das Feuer den Baumstamm etwa zu drei Vierteln aufgezehrt hatte. Ein breiter Streifen glimmender Asche zog sich unter emporkräuselndem Rauch den Hang herab, und Faghnar hatte seine Haltung nicht im Mindesten verändert, noch daß er irgendein Lebenszeichen von sich gab. Bis auf ein gelegentliches Knacken des hinter ihm lodernden Brandes war es vollkommen still.

Unvermittelt schlug er die Augen auf. Und wie ereignislos sich seine Umgebung auch zeigte, so präzise war der Moment des Erwachens doch gewählt. Aufmerksam wanderte sein Blick über die funkelnde Schneefläche, vor allem im Umkreis der unbedeckten Stelle direkt vor ihm.

Nichts deutete auf eine Veränderung hin. Faghnar blieb zunächst regungslos. Nur einmal wandte er den Kopf leicht nach rechts, in Richtung der Fichten jenseits des Bachs. Die Dunkelheit, die sie einhüllte, grenzte sich gegenüber des Feuerscheins auf der hiesigen Seite umso dichter und undurchdringlicher ab. Erst als die Äste hoch über seinem Kopf ein Gittermuster in das Kobalt des heraufziehenden Tags zeichneten, hob sich allmählich auch die Masse tief herabhängender, immergrüner Nadeln aus dem Zwielicht hervor.

Vereinzelt drangen Vogelstimmen durch die eisige und nahezu windstille Morgenluft. Die gleichförmige Wolkendecke deutete auf weitere Schneefälle hin. Als es vollends hell geworden war, erhob sich Faghnar und schritt wachsamen Blicks den Hang ab. Zweimal watete er auch durch den Bach und wieder zurück, ehe er sich daran machte, die vom Brand verschont gebliebenen Äste der gefällten Eiche zu zerkleinern und auf das Feuer zu häufen, das mittlerweile das Ende des Stamms erreicht hatte und im Erlöschen begriffen war. Auch die dicksten Hölzer brach er mühelos mit der Kraft seiner Arme. Die Flammen loderten hell wie zuvor, als der erste Schnee des neuen Tages vom Himmel rieselte.

Aber wo der Boden von der Schneedecke unbedeckt war, blieb er es auch weiterhin. Faghnar griff nach seinem Stab und begab sich zum dritten Mal an diesem Morgen auf die andere Seite des Bachs, und während er im Schatten der Fichten seine Wartestellung einnahm, zehrte das Feuer am Hang prasselnd die letzten Reste der Eiche auf. Je weiter es herunterbrannte, desto mehr Asche und Rauch sandte es himmelwärts, in dicken, weißen Schwaden, die der mittlerweile aufgekommene Wind auseinanderriß und in dem zusehends dichter fallenden weißen Pulver verteilte, das alles wieder herab zur Erde holte. Einförmig schlich der lichtgraue Tag dahin, während der Rand der Schneedecke immer höher anwuchs.

Etwas weiter hangaufwärts, oberhalb des mählich verglimmenden Feuers, sah es so aus als würden die Schneeböen Kontur annehmen, sich zu einem Schatten, einer kleinen, bodennahen Gestalt verdichten. Einen Augenblick lang blieb das Wesen stehen und reckte schnuppernd die spitz zulaufende Schnauze in die Luft, um gleich darauf einen weiten Bogen um die Brandstätte und die hervorwehenden Rauchwolken zu schlagen, wobei es eine leicht zickzackförmige Spur in dem ansonsten unberührten Weiß hinterließ. Abrupt blieb es stehen, scheinbar unschlüssig, welche Richtung es weiter verfolgen sollte, schlich sich dann aber doch vorsichtig an die Aussparung in der Schneedecke heran und ließ neugierig den länglichen Kopf mit den aufgerichteten Ohren über den Rand ragen.

Es war ein Fuchs, und daher hob sich die Farbe seines Fells kaum von der des Bodens ab, als er diesen abseits des Schnees betrat. Als ob er ein Beutetier witterte, stöberte er mit der Nase im feuchten Laub, scharrte mit den Pfoten und drehte sich dabei mehrmals im Kreis. Bis er mit einem Mal erstarrte. Die eben noch so wachen Augen verloren jeden Ausdruck von Lebendigkeit, der steif nach vorne gestreckte Kopf sank tiefer, bis er sich auf einer Höhe mit dem Rumpf befand und mit diesem eine Linie bildete, und langsam sackten die Beine ein. Er lag bereits flach auf dem Bauch, scheinbar von einem plötzlichen Tod ereilt, als auf einmal Faghnars hoch aufragende Gestalt über ihm stand. Ohne weiteres packte er das Tier am Nackenfell, hob es aus der Lücke im Schnee und wickelte es fest in die eiserne Kette, mit der er Tags zuvor die Eiche gefällt hatte. Den so gefesselten Tierkörper unter dem rechten Arm tragend, hastete er zurück über den Bach.

Und blieb wie angewurzelt vor dem Loch in der Schneedecke stehen.

Denn es begann sich aufzufüllen. Der rote Grund war zwar noch immer zu erkennen, aber bereits von einem feinen, weißen Schleier überzogen. Der Schnee blieb liegen, die Kristalle lösten sich nicht mehr auf.

Laut schlugen die Kettenglieder aneinander, als Faghnar den leblosen Körper des Fuchses unter die Äste der am nächsten stehenden Fichte warf, wo auch sein Stab lag. Suchend und mit angespannten Gliedern blickte er um sich, spähte zwischen die Stämme, ins Unterholz, und auch ins leere Geäst über ihm. Denn am Boden gab es diesmal keine Spur zu verfolgen. Keine Furche zog sich vom Rand der Kuhle im Schnee zu einem der umstehenden Bäume.

Einer der Feinde war ihm also entwischt. Aber wie?

Behutsam umschritt der Gott in Menschengestalt die Kuhle, sich nach rechts wendend, und prüfte mit aufmerksamem Blick seine Umgebung. Er trat zwischen den Fichten hindurch an den Rand der schneebedeckten Lichtung, die vor zwei Tagen noch leuchtend grün in der Sonne gelegen hatte, und umschritt sie einmal ganz, indem er sich zunächst vom Bach abwandte, also nach links. Er ließ sich Zeit. Ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, setzte er einen Schritt vor den anderen. Er ging langsam genug, daß der Schnee an seinem grauen Gewand haften blieb und allmählich seine ganze Gestalt zu bedecken begann. Wieder fügte sich sein Aussehen so vollkommen in das der näheren Umgebung, daß es geradezu übermenschlicher Aufmerksamkeit bedurft hätte, ihn davon zu unterscheiden.

Aber die Fähigkeiten der von ihm verfolgten Gegner gingen – wenn sie auch keine Götter waren – weit über alles menschliche hinaus. Und selbst er, Faghnar, der Gott des Feuers, sollte dies einmal mehr zu spüren bekommen.

Nach geraumer Zeit hatte er die gesamte vom Wald begrenzte Talsohle umrundet, aber nicht das geringste Anzeichen einer Flucht entdeckt. Als er sich jetzt von der anderen Seite her wieder dem Ausgangspunkt seines Spähgangs näherte, schritt er direkt der Fichte zu, an deren Fuß er den zumindest des eigenen Lebens beraubten Fuchs abgeworfen hatte.

Und fand die Kette leer und in sich verschlungen auf dem Boden liegen.

Nun konnte selbst der Gott nicht mehr an sich halten, stieß einen alles durchdringenden Wutschrei aus und sank mit geballten Fäusten auf die Knie; ungläubig starrte er auf das Beweisstück seines Versagens, aber nicht lange, denn eine Spur führte von den lose übereinandergehäuften Kettengliedern fort in den Wald. Und weder handelte es sich um die Tritte eines Vierbeiners, noch ähnelten die einzelnen Fußabdrücke denen eines Menschen: jeder stammte von vier abwärts gekrümmten Klauen, die sich von einem breiten Fersballen abspreizten, insgesamt aber ließ die Fährte deutlich den aufrechten Gang erkennen. Ehe man es auch nur gedacht hätte war Faghnar wieder auf den Beinen, hatte Eisenkette und Eschenstab an sich gerissen und nahm mit Riesenschritten die Verfolgung auf.

Schnee überzog den jetzt gänzlich verlassenen Ort, diesseits wie jenseits des Bachs, verbreitete sich überall hin und begrub alles unter dem blendenden Anschein der Unberührtheit.

* * *

Der dritte Schuß blieb keineswegs ohne Folgen. Es war ein Schrei von absoluter Todesgewißheit, der den Wald erschütterte. Ihn zu hören war unerträglich. Die Stimme war die eines Tiers, und doch klang darin ein geradezu menschliches Empfindungsvermögen nach, wie das Echo eines fernen, früheren Lebens. Die Hand des Fremden zitterte, als er langsam den Bogen sinken ließ.

Sie hielt sich weiterhin an ihn geklammert und verbarg sich hinter seinem breiten Rücken. Ihre Finger gruben sich ins Fell seiner enganliegenden Kleidung unter dem groben Überwurf, die Arme um seine Hüfte geschlungen, während sie Schwindel und Übelkeit niederkämpfte. Erst jetzt nahm sie wahr, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. Auch begann ihre Wange zu schwellen, wo sein harter Handrücken sie getroffen hatte. Es hatte keine Bedeutung.

Denn wer immer er sein mochte, er schien zu wissen was er tat, und wie der Bedrohung zu begegnen war. So ließ sie sich ziehen, als er voranschritt, in Richtung des abgeschossenen Pfeils, und sehnte sich doch in die Hütte. Der Wald war jetzt wieder so still wie nur je am Ende eines Wintertags, aber die Furcht hatte sie immer noch fest in ihrem Griff.

Und dann sah sie es. Das Blut auf der Erde, eine Lache, leuchtend im Schnee. Ihre Ausdehnung war beträchtlich, wie sie im Näherkommen bemerkte. Was fehlte, war der Kadaver, oder doch wenigstens ein zu Tode verwundeter Körper. Suchend ließ sie den Blick über den Boden wandern, aber keine Spur führte von der Blutlache weg, um sich im Gehölz zu verlieren; die einzig vorhandene Spur führte zu ihr hin, endete also mit dem tödlichen Pfeilschuß. Sie trat neben den Mann, der sich bückte, und starrte ungläubig auf den Pfeil, den er vom Boden auflas. Er blickte sie kurz an und erriet, was sie dachte.

„Das ist alles“, bestätigte er. „Mehr werden wir nicht finden.“

Seine Stimme verriet einen ähnlichen Akzent, wie sie ihn zuletzt bei den Zimmerleuten im Herbst gehört hatte. Er kam also von weit her, aus den flußaufwärts gelegenen Gauen, wenn nicht gar aus der Königsstadt. Sie musterte sein gefurchtes Gesicht, die knappe, entschlossene Miene, den grimmen Zug um den Mund, soweit sein schwarzer Bart ihn erkennen ließ.

„Jedenfalls vorläufig“, fügte er noch hinzu. „Und hoffentlich auf lange Zeit.“

„Was meint Ihr damit?“ fragte sie schaudernd.

Der Fremde schwieg einen Augenblick.

„Wenn ich das nur selbst so genau wüßte“, raunte er schließlich geheimnisvoll und rieb den Pfeil mit Schnee ab, um ihn vom Blut zu säubern. Dann ließ er suchend, mit leicht verengten Augen, den Blick durch den Wald zu ihrer Linken schweifen; ehe er zielstrebig auf einen der Bäume zulief, bedeutete er ihr zu warten, und kam gleich darauf mit dem ersten der drei abgeschossenen Pfeile zurück, den er aus einem Stamm gezogen hatte.

„Hilf mir, mein Lasttier zu finden.... dort drüben hatte ich es angebunden!“

Mit diesen Worten schritt er auf den abgebrochenen Stumpf einer jungen Birke zu, und sie folgte ihm. Der Schaft mit den wenigen, steil aufwärts gerichteten Ästen lag nicht weit davon entfernt. Offensichtlich war er noch ein Stück durch den Schnee geschleift worden, ehe er sich zwischen den Stämmen anderer Bäume verfing und der Strick sich löste. Sie packte den Fremden am Arm, als er die Spur aufnehmen wollte.

„Es dämmert schon“, gab sie zu bedenken. „Wo wollt Ihr die Nacht verbringen? Kommt in meine Hütte, sie steht nicht weit von hier!“

Der Mann zögerte.

„Wo?“

„Dort drüben“, wies sie mit ausgestrecktem Arm die Richtung, „am Fluß. Aber ihr werdet den Weg nicht mehr finden, wenn....“

„Geh!“ wandte er sich von ihr ab. „Fast alles, was ich besitze, liegt auf dem Rücken des Maultiers.“

„Aber nicht Euer Leben!“ rief sie ihm hinterher. Doch er ließ sich nicht aufhalten.

„Weit kann es nicht gekommen sein. Ich werde es finden, und auch den Weg zu deiner Hütte.“

Beklommen blieb sie zurück und sah ihn zwischen Sträuchern und Bäumen verschwinden. Wieder war sie allein. Schutzlos. Den Blicken des Waldes ausgesetzt, die nicht mit dem Tag erloschen, und die das Zwielicht eher noch schärfte. Sie setzte zu einem weiteren Ruf an, wollte sich ihm anschließen, aber es kam nicht dazu. Etwas hielt sie zurück. Ohne einen weiteren Gedanken zu verlieren, drehte sie sich um und hielt auf die vertrauten Baumsilhouetten zu, die sich aus der Einförmigkeit des Waldes hervorhoben und ihr zuverlässig den Weg zur Hütte bezeichneten.

Mehrmals mußte sie sich während des Laufens umdrehen. In ihrem Innersten spürte sie daß sie sicher und alle Gefahr vorläufig gebannt war, aber die Angst hielt sie weiter umklammert, kalt und nackt wie eine giftige Kröte, und saß ihr im Nacken wie ein quälender Alb. Die hereinbrechende Nacht trieb sie zu zusätzlicher Eile an und ließ sie alle Erschöpfung vergessen.

Als sie den Waldrand erreichte, konnte sie endlich aufatmen. Vor dem tiefer gewordenen Grau des Abendhimmels, der wie ein schweres Tuch über den Flußauen hing, hoben sich die Uferweiden ab und begrenzten den jenseitigen Rand der ausgedehnten Schneefläche. Nichts deutete darauf hin, daß sich ein Pfahlbau zwischen ihnen verbarg; er lag so gut geschützt, daß sein Vorhandensein für niemanden ersichtlich sein konnte, der nicht von vorneherein darum wußte. Mit dieser Gewißheit trat sie zwischen den Bäumen hervor, und erst jetzt wurde sie gewahr, daß der Schneefall nachgelassen hatte. Nur vereinzelt trafen die herabrieselnden Kristalle noch auf ihre bloßen Wangen, während sie auf die zusehends höher aus dem Horizont ragende Baumreihe gegenüber zuhielt. Dabei ging ihr keinen Augenblick der Fremde aus dem Sinn, der ihr mit aller Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet hatte, und der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, als sie die Hilfe am nötigsten brauchte. Wie sollte er, wenn es erst Nacht geworden war, den Weg zur Hütte finden?

Und dann traf sie auf eine Fußspur, die sich von rechts kommend mit ihrem eigenen Weg vereinte.

Abrupt blieb sie stehen, als wäre sie auf der Stelle festgefroren. Wieder war jegliche Sicherheit dahin. Sie blickte mit geweiteten Augen auf die Fußstapfen und überprüfte die verschiedenen Möglichkeiten, die bei aller Verwirrung in ihrem Kopf aufblitzten. War Hwyldur zurückgekehrt? dachte sie schon hoffnungsvoll. – Nein. Die Abdrücke seiner Fellstiefel, die sie selbst für ihn angefertigt hatte, hätte sie unter tausend anderen wiedererkannt. Hatte der geheimnisvolle Fremde sie etwa überholt? Dies schien ebenso ausgeschlossen; er hatte sich in nördlicher Richtung auf die Suche seines Lasttiers begeben, und die Spur vor ihr führte von Südwesten her. Wie hätte er in so kurzer Zeit einen so gewaltigen Bogen schlagen können? Zumal es wenig Sinn machen würde. Also blieb nur eines: jemand anderes war gekommen, der den Ort genau kannte und wußte, wo sich die Hütte befand.

Erschrocken fuhr sie herum, als sie hinter sich Schritte den Schnee zerdrücken hörte. Starr vor Angst blickte sie dem wogenden Schatten entgegen, der aus dem dunklen Streifen Wald hervorwuchs, um sich schließlich ganz davon zu lösen und in zweifacher Gestalt vor ihr zu stehen.

„Keine Sorge, ich bin es“, vernahm sie erleichtert die Stimme ihres Retters. Neben seiner Schulter blähten sich die Nüstern des wiedergefundenen Maultiers. Sie spürte den feuchtwarmen Atem auf der Gesichtshaut, als es schnaubte. Der Fremde griff unter den mächtigen Kiefern hindurch und tätschelte ihm von der anderen Seite her den Hals.

„Was ist, warum gehst du nicht weiter?“

Erleichtert über die schutzverheißende Anwesenheit des Mannes, aber nach wie vor mit einem bangen Gefühl deutete sie auf die Spur im Schnee, die auf das Ufergehölz vor ihnen zuführte und in der zunehmenden Dunkelheit gerade noch zu erkennen war. Die Augen des Fremden verengten sich zu zwei Schlitzen.

Behutsam schob er sie zur Seite und nahm die Fährte auf. Sie brauchte ihm nicht zu sagen, daß sie fast zwangsläufig zu ihrer Wohnstätte führen mußte. Also folgte sie ihm einfach, sich an der linken Flanke des Lasttiers haltend. Vorsichtig, um es nicht zu verschrecken, legte sie ihre Hand auf sein Rückenfell und freute sich an der Körperwärme, spürte die kräftigen, gleichmäßigen Bewegungen von Muskeln und Sehnen unter der Haut. So ließ sie Gleichmut und Geduld auf sich übergehen und gewann an Vertrauen.

Als die Äste der Weiden über ihren Köpfen ineinandergriffen, war es wiederum eine Spur dunkler. Nur mit äußerster Mühe war überhaupt noch etwas zu erkennen. Sie, die den Weg zur Hütte traumwandelnd gefunden hätte, wußte daß die Richtung stimmte, daß sie genau auf den Pfahlbau zuhielten. Wie aber wußte es der Fremde? Vermochte er selbst in solcher Finsternis noch die Spuren am Boden zu lesen? Sie blickte kurz zurück und sah die bleiche Schneedecke am Boden, und wie Baumstämme und Sträucher sich schwarz davon abhoben. Mehr unterschied sie nicht.

Schließlich hielten sie neben der Hütte.

Mit den letzten Schritten hatte die Luft schlagartig ein klein wenig von ihrer Kälte verloren. Die Wände strahlten die Wärme des Feuers in ihrem Inneren nach außen hin ab. Unter sich sah sie den schwachen Widerschein über die Schneedecke flackern, der durch die feinen Ritzen des von brusthohen Pfählen getragenen Fußbodens drang.

Der Mann übergab ihr den Strick, an dem er das Maultier führte, und sie band es an einem der Eichenpfähle fest, während er voranschlich, um die Ecke herum zum Eingang, der auf der dem Fluß zugewandten Seite lag. Behutsam setzte er seine Schritte in die bereits vorhandenen Fußstapfen, um so das Geräusch sich zusammendrückenden Schnees zu vermeiden. Sie blieb bei der Ecke stehen und sah seinen Schatten die Leiter hinaufsteigen. Eine Weile geschah nichts. Dann stieß ein heftiger Fußtritt von ihm mit einem Mal die Tür auf, und die abwehrbereit dastehende Gestalt über ihr wurde vom zuckenden Schein des Herdfeuers angestrahlt. Seine rechte Hand hielt immer noch den gezückten Dolch in die Höhe.

Der Schreck hatte sie mehrere Schritte rückwärts weichen lassen, so stand sie jetzt mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt und spürte die raue Oberfläche der Rinde unter ihren verkrampftem Händen. Als sie ihren fremden Beschützer sich langsam entspannen und eine aufrechtere Haltung annehmen sah, fühlte auch sie sich wie befreit. Wer immer sich in der Hütte befinden mochte, es schien keine Gefahr von ihm auszugehen.

Und dann hörte sie seine Stimme:

„Suchst du etwa das hier?“

Sie konnte vor Freude nicht an sich halten, als sie ihren tiefen Klang wiedererkannte. Sie hastete vom Baum weg zur Leiter, kletterte leichtfüßig hinauf und betrat hinter dem Fremden den Raum.

Und dort saß er mit untergeschlagenen Beinen neben der Feuerstelle am Boden, graubärtig und graugewandet, den Wanderstab aus geschältem Holz vor sich auf den Knien, und bot mit ausgestrecktem Arm einen Pfeil dar. Sein einäugiger Blick war ein dunkel ruhender Punkt im tanzenden Schein der Flammen.

Dieses Mal hegte sie nicht den geringsten Zweifel, um wen es sich bei dem Hünen in Wahrheit handelte. Für einen Abend wenigstens waren alle Sorgen vergessen, blieb jede Bedrohung ausgesperrt, zählte nur die Wärme des Herdfeuers unter dem Schilfdach ihrer Hütte, deren Gastlichkeit selbst der Gott nicht verschmähte. Hurtig wollte sie hinter sich die Tür verrammeln, aber der Fremde hielt sie am Arm:

„Warte, laß mich zuerst meine Sachen hereinholen und das Maultier versorgen....“

„Darum kümmere ich mich, Hadhuin“. Wie Bronze dröhnte die Stimme des Gottes, als er sich von seinem Platz erhob. „Ruh dich von deinem langen Marsch aus und leiste derweil der Hausherrin Gesellschaft!“ Der Angesprochene zuckte beim Klang seines Namens leicht zusammen und warf ihr einen unsicheren Blick zu, während ihm Faghnar im Hinausgehen den dritten der verschossenen Pfeile in die Hand drückte. Sie stand nur da und rang um die richtigen Worte, bis sie schließlich hervorbrachte:

„Du bist ein.... du bist auf der Flucht?“

Die Antwort schuldig bleibend, wandte der Mann sich von ihr ab und ließ sich neben dem Feuer nieder. Mit einem Mal wirkte er sehr erschöpft. Wortlos saß er da, starrte in die Flammen und streckte die Hände danach aus. Sie waren blau vor Kälte. Ihr selbst ging es nicht anders; so hockte sie sich ihm gegenüber, rieb ihre steifen, gefühllosen Finger und beobachtete ihn verstohlen über den Herd hinweg.

Sie hatte das Gefühl, er war nicht weniger dankbar als sie selbst, als Faghnar wieder zur Tür hereinkam, das mitgebrachte Bündel an der Wand ablud und durch seine geschäftige Anwesenheit ihre Scheu voreinander minderte. Eins nach dem anderen, packte er Stücke gebratenen Fleisches aus einem ledernen Beutel und verteilte sie um das Feuer herum. Dann ging er noch einmal hinaus, und das Geräusch splitternden Holzes vertrieb die Stille der Nacht, ehe er mit einem Armvoll gebrochener Scheite zurückkam.

„Wenn du gewillt bist, uns mit Brot zum Fleisch zu bewirten“ sagte er zu ihr gewandt: „im Korb liegen fünf große Laibe.“

Mit diesen Worten setzte er sich und schürte das Feuer auf. Sie wußte zunächst nicht, was sie sagen sollte.

„Aber wie....“

„Du hast das richtige getan, als du es fallen ließest und ranntest. Andernfalls würdest du jetzt schwerlich mit uns hier beisammensitzen.“

Wie benommen stand sie auf und ging in den hinteren Teil der Hütte, wo der Brotkorb stand, und tatsächlich, als sie die Hände ausstreckte um die Decke zurückzuschlagen, fühlte sie schon die wulstigen Krusten darunter. Sie fand keine Worte um ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, als sie sich wieder ans Feuer setzte und den mitgebrachten Laib zu brechen begann. Die Brote stellten den Gegenwert von zwei geräucherten Aalen dar, und um sie im Tausch zu erwerben, war sie heute morgen zu den einen halben Tagesmarsch entfernt lebenden Dörflern aufgebrochen.

Faghnar saß zu ihrer Linken, mit dem Rücken zur Tür, und sein verschmitzter Blick schien ihr sagen zu wollen, daß immer noch etwas fehlte. Sie brauchte nicht lange um zu erraten was er meinte, und beschämt darüber daß sie nicht von selbst daran gedacht hatte, stand sie ein weiteres Mal auf und ging nach hinten, wo die Vorräte aufbewahrt wurden. Sie ließ sich auf den Knien nieder, um den schweren Krug unter dem niedrigen Bord an der Wand hervorzuziehen, am Brotkorb vorbei. Sie löste die darübergespannte Lederhaut, nahm einen Handkrug vom Bord und tauchte ihn tief hinein. Randvoll mit Met trug sie ihn zum Herd.

Faghnar nahm ihn entgegen, tat den ersten Zug und reichte ihn an Hadhuin weiter. Der nippte ebenfalls daran, und augenblicklich begann sich seine Miene aufzuhellen.

„Bei Dhwyrd!“ entfuhr es ihm, ehe er weitertrank, „das ist etwas anderes als gesäuerte Stutenmilch!“

„Meinst du?“ lachte Faghnar mit Inbrunst. „Ein Jammer, daß du nicht bei der Herstellung zugegen warst....“

Damit ging der Krug zurück an sie, und sie nahm selbst einen tiefen Zug. Das kalte, honigsüße Getränk rann ihr erfrischend durch die Kehle, und gleich darauf fühlte sie eine Flut belebender Wärme in sich aufsteigen. Das, dachte sie, muß die Freude der Götter sein. Und war nicht der Met das Geschenk, mit dem der Gott nach seinem ersten Besuch seine Gastfreiheit vergolten hatte?

Und dann nahmen sie gemeinsam das Mahl ein. Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie zuletzt Fleisch gekostet hatte. Dazu das dunkle, weiche Brot, dessen vom Feuer wiedererweckter Duft jetzt die ganze Hütte erfüllte! Sie dachte an nichts anderes mehr, ließ sich tragen auf der Woge des Augenblicks, fragte nicht, was der morgige Tag wohl bringen würde.

Der Met machte wieder und wieder die Runde und ließ das Gespräch nicht versiegen. Als sie jedoch merkte wie ihr die Zunge schwer wurde, begann sie sich selbst mit Worten zurückzuhalten, hörte stattdessen ihren beiden Gästen zu, die sich mit grimmiger Miene in Männerangelegenheiten ergingen, und überließ sich ganz ihrer inneren Zufriedenheit. Nach und nach versank sie in Müdigkeit, wurde von ihr überschwemmt wie die Flußauen im Frühling. Zunächst war es nur Trägheit, und die kam vom Essen. Von einem Bissen zum anderen fiel ihr das Kauen schwerer. Nachdem sie den letzten Happen mit einem kräftigen Schluck Met hinuntergespült hatte, fühlte sie ein bleiernes Gewicht auf ihren Lidern. Aber sie wollte ihre Gäste keinen Durst leiden lassen; also zwang sie sich zu warten bis der Krug geleert war, nahm ihn aus der Hand des flüchtigen, offensichtlich unter Faghnars Schutz stehenden Sklaven entgegen und ging auf unsicheren Beinen ein letztes Mal nach hinten, um ihn zu füllen.

Danach war aller Widerstand dahin. Sie mochte lediglich die Nähe ihrer jetzt leiser plaudernden Gäste nicht missen, an deren Stimmen sie sich freute, nicht zuletzt deshalb, weil sie Schutz verhießen. Also blieb sie am Feuer sitzen, nippte noch einige Mal am Met und legte sich schließlich auf ihre rechte Seite. Den Kopf in der Armbeuge ruhend, hörte sie das leise Knacken des Herdfeuers und nahm durch ihre geschlossenen Lider hindurch das Flackern der Flammen als ein unstetes, rötlichbraunes Wabern wahr. Aber so geborgen sie sich auch fühlte: mit den ersten Traumbildern, die sie auf dem heraufwogenden Schlaf umtanzten, und die um so beängstigender wirkten je deutlicher sie sich von der Wirklichkeit abgrenzten, gewann die Erinnerung Gestalt und drohte die kaum überstandenen Erlebnisse im Wald in Form von Alpträumen wiederzubringen.

Ein kurzes, schmerzliches Aufheulen ließ sie in den ersten Morgenstunden aus dem tiefsten, schwärzesten Schlummer auffahren. Ihre auf den Handflächen abgestützten Arme stemmten ihren Oberkörper in die Höhe. Angespannt lauschte sie in die Stille und Dunkelheit, und erst nach geraumer Zeit, als das Pochen an ihrem Hals gleichmäßiger und ruhiger zu werden begann, sah sie durch die Öffnung des Rauchfangs über dem Dachgebälk das Grau der frühesten Dämmerung. Und erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie sich auf ihrem Schlaflager befand. Wie sie dahin gekommen war, wußte sie nicht.

Dann hörte sie zu ihrer Linken den leisen, gleichmäßigen Atem eines weiteren Schlafenden. Nach und nach traten die Ereignisse des Vorabends aus ihrem Gedächtnis und ihr wurde klar, daß es sich bei dem neben ihr Liegenden nur um Hadhuin handeln konnte, dessen Namen, einmal von Faghnar ausgesprochen, ihr seinen angeborenen Stand verraten hatte. Der Gedanke, die ganze Nacht lang das Lager mit ihm geteilt zu haben, behagte ihr ganz und gar nicht.

Am meisten beschäftigte sie jedoch das Heulen, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Es hatte zu echt geklungen, um nicht von außen an ihr Ohr gedrungen zu sein. Auch konnte sie sich an keinerlei Träume erinnern. Sie mußte so tief und fest geschlafen haben wie schon lange nicht mehr. Sie horchte dem Echo in ihrem Kopf nach, und schnell war sie sich gewiß: es hatte nichts mit dem Todesschrei zu tun, den sie gestern nach dem dritten Pfeilschuß ihres Retters gehört hatte, und auch von dem vorausgegangenen, kehligen Grollen blieb es weit entfernt. Was sie dort im Wald gehört hatten, hätte sie weder einem Menschen noch einem Tier zuschreiben können. Was sie eben geweckt hatte, schien dagegen die Stimme eines Wolfs gewesen zu sein. Vielleicht auch die eines Hundes.

Aber nun blieb bis auf vereinzelte Vogelrufe alles still.

Sie kniff die Augen zusammen und spähte in die nur zaghaft weichende Finsternis der Hütte. Ohne etwas zu erkennen, spürte sie daß der Feuergott nicht anwesend war. Der Gedanke, daß er schon wieder aufgebrochen sein mochte, warf einen Schatten auf ihr Gemüt. Langsam ließ sie sich wieder auf das Fellager zurücksinken und vermummte sich in ihre Decke.

Ihr anderer Gast schlief tief und ungestört. Auch das Heulen hatte ihn nicht wecken können. War es am Ende vielleicht doch eine Täuschung ihrer bis in den Schlaf hinein überreizten Sinne gewesen? Sie wandte leicht den Kopf nach links und nahm undeutlich die breiten, im gleichmäßigen Takt des Atems sanft auf und ab wogenden Schultern des Mannes wahr. Er mußte viel durchgestanden haben auf seiner Flucht, ging es ihr durch den Sinn. Und nun hatte sie ihn unter ihrer Obhut. Ihn. Einen seinem Herrn entlaufenen Diener. Nicht daß sie besonders darüber erfreut gewesen wäre. Aber schließlich war es Faghnar gewesen, der ihn ihr zugespielt hatte, der unsterbliche Wanderer, den diese Hütte schon einmal beherbergt hatte, zu Beginn des Winters, als ihr Leben noch ein anderes war.

Tränen füllten ihre Augen und strömten ihr über beide Wangen. Erneut fühlte sie sich erschöpft. Und müde. Unsagbar müde.

Als sie erneut aufwachte, war es hellichter Tag geworden, und der Platz neben ihr war leer. Ohne zu zögern warf sie die Decke von sich und begab sich an den kniehoch gemauerten Herd unter dem Rauchfang, in der Mitte des Raums. An einem der Stützbalken hing ein Haken aus Bronze; damit schürte sie die kalte Asche zusammen und beförderte sie in einen hierfür bereitstehenden Holzeimer.

Als sie durch die unverschlossene Tür ins Freie trat und direkt einem Wolf in die Augen blickte, erschrak sie fast zu Tode. Polternd schlug der fallengelassene Eimer auf die Bohlen auf und verstreute die Asche um ihre Füße herum. Der Wolf sprang behend einige Schritte zur Seite, machte aber keinerlei Anstalten zu fliehen, sondern blickte sie neugierig und mit leicht geduckter Haltung von unten her an. Sie stand mit dem Rücken zum Türpfosten und schaute sich vorsichtig um. Was würde geschehen, wenn sie aus dem Deckungsbereich der Hütte trat? Würde die gesamte Meute über sie herfallen? In all den Jahren war es nur zwei Mal vorgekommen, und in sehr harten Wintern, daß sich ein Wolfsrudel bis hierher vorgewagt hatte. Die jetzige Kälte hielt keinem Vergleich stand.

Dann hörte sie von rechts kommende Schritte im Schnee. Es war Hadhuin, der um den Eckpfosten des dem Eingang vorgelagerten Holzbodens kam und händeklatschend und mit lauten Ausrufen den Grauen vertrieb. Sie ging in die Hocke und scharrte hastig und mit bloßen Händen die Asche zurück in den Eimer. Dabei ließ sie keine Sekunde den Wolf aus den Augen, der sie seinerseits mit starrem Blick und spitz aufgerichteten Ohren aus dem nahen Unterholz heraus beobachtete.

„Du brauchst dich vor ihm nicht zu fürchten“, meinte Hadhuin schließlich zu ihr gewandt. „Er ist mir durch die ganze Ebene gefolgt, ohne mich zu behelligen. Er....“

„Komm mit mir ans Ufer“, unterbrach sie ihn schroff und reichte ihm den Ascheeimer, um die Leiter hinabzusteigen. „Ich traue deinem Begleiter nämlich nicht.“

Schweigend folgte ihr der dunkelhaarige, verschlossen dreinblickende Mann, den sie um zwölf, wenn nicht achtzehn Jahre jünger einschätzte als sie selbst war. Wie in aller Selbstverständlichkeit trug er für sie den Eimer. Am Fluß angekommen, nahm sie ihm das Gefäß aus der Hand und kippte die Asche in die Strömung.

„Wenn ich deinen Namen auch nicht kennen würde: spätestens jetzt wüßte ich, mit wem ich es bei dir zu tun habe. Nur deinesgleichen trägt widerspruchslos einer Frau etwas hinterher.“

Der andere entgegnete nichts und blickte sie aus regungsloser Miene an. Aber seine kohlschwarzen Augen schossen Blitze, und die sichelartig geschwungenen Furchen schienen sich noch eine Spur tiefer in die Wangen zu graben. Sie kündeten von Entschlossenheit. Augenblicklich bereute sie ihre Worte, und mehr aus Angst als aus Demut dem Mann gegenüber, dem sie seit gestern wahrscheinlich ihr Leben zu verdanken hatte. Schweigend traten sie Seite an Seite den Rückweg zur Hütte an. Sie hätte ihn jetzt nicht im Rücken haben mögen, weswegen sie sich hütete, ihm vorauszugehen. Den Ascheeimer trug sie selbst.

Um etwas versöhnliches zu sagen, fragte sie:

„Bist du hungrig?“

Hadhuin bejahte mit einem Nicken.

„Dann laß uns hineingehen und den Herd anzünden.“

Er murmelte jedoch etwas unverständliches und wandte sich nach links, um an der Hütte vorbeizugehen. Sie vermutete, daß er sich um sein Lasttier kümmerte, das sie bei ihrer gemeinsamen Ankunft gestern an einem der hinteren Stützpfähle an der Längsseite des Gebäudes angebunden hatte. So stieg sie alleine die fünfsprossige Leiter hinauf. Ehe sie das Innere der Hütte betrat, warf sie einen Blick über die Schulter.

Den Wolf konnte sie nirgends mehr sehen.

Wenig später saßen sie sich wieder am flackernden Herdfeuer gegenüber, so wie am Vorabend. Faghnars Platz zu ihrer Linken blieb leer, und seine Abwesenheit kam ihr in schmerzlicher Weise greifbar vor.

Schweigend aßen sie Brot und etwas getrockneten Fisch. Hadhuin blieb weiterhin verschlossen, und lange wußte sie kein rechtes Gespräch in Gang zu bringen. Im Stillen verfluchte sie ihre unbedachten Worte von vorhin. Sie wollte ihn, einen Sklaven, aber auch nicht um Verzeihung bitten. Das verbot ihr ihr Stolz. Denn noch war sie immerhin frei. So frei ein armes, einfaches Weib wie sie in dieser Welt nur sein konnte.

Hadhuin schien ihre Gedanken zu lesen. Unvermittelt sagte er:

„Danke für die Lehre, die du mir vorhin erteilt hast.“

Und da sie in ihrer Verwirrung nichts zu entgegnen wußte, fuhr er fort:

„Es wird nicht leicht sein, wenn ich mich zurück unter die Menschen begebe. Auch wenn ich bis dahin nach geltendem Recht ein freier Mann geworden bin: sie werden immer den geborenen Sklaven in mir erkennen. Meine gewöhnlichsten Handlungen verraten es: die Art wie ich grüße, frage, antworte, wie ich einen Befehl entgegennehme.... oder vielmehr daß ich ihn entgegennehme!“ Er verharrte einen Moment in Schweigen, ehe er anfügte: „Mein Ringen um Freiheit wird nicht enden. Nicht, solange ich lebe.“

Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sein dumpf brütender Blick lebendig wurde und sich an den ihren heftete:

„Ich brauche deine Hilfe“, sagte er unumwunden. „Deswegen hat mich Faghnar zu dir geführt. Du mußt mir beibringen, mich wie ein freier Mensch zu benehmen. Von Grund auf.“

„Wie sollte gerade ich dafür geeignet sein?“ gab sie zu bedenken. Und da es jetzt Hadhuin war, der um eine Antwort verlegen blieb, fügte sie an, was sie vor einigen Augenblicken schon hatte sagen wollen:

„Bei unserer ersten Begegnung, gestern im Wald, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, du könntest ein Unfreier sein.“

Im Blick ihres Gegenübers spiegelte sich so etwas wie verlegener Stolz; ganz, wie wenn jemand es bei aller Abgeklärtheit nicht zuwege brachte, sich dem Reiz schmeichelnder Worte zu entziehen, da er von ihrem Wahrheitsgehalt im Grunde überzeugt war.

In diesem Augenblick glich dieser muskulöse, breitschultrige Mann, der sie im Stehen mindestens um Kopfhöhe überragte, einem schelmischen kleinen Jungen. Und das berührte sie tief. Tiefer, als ihr eigentlich lieb war. Etwas löste sich in ihr und setzte Erinnerungen frei, die sie bisher ständig unter Verschluß halten mußte, da sie sonst nicht zur Verrichtung der alltäglichsten, lebensnotwendigen Dinge fähig gewesen wäre. Sie erschrak darüber, wie dünn und zerbrechlich diese schützende Decke doch war, und mit welcher Heftigkeit es darunter zuging und das im Dunkel Gehaltene hervor und ans Licht kommen wollte.

Aber noch ehe dies geschehen konnte, hatte sie sich schon wieder im Griff. Mit einer schnellen Bewegung wandte sie sich um, und aus der Drehung heraus stand sie auf und ging zu den Vorräten. Dort, im Halbdunkel und mit dem Rücken zu ihrem Gast (ihrem Schützling?), nutzte sie die Gelegenheit sich eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen, während sie den schweren Metkrug unter dem Bord hervorzog.

„Trink!“ befahl sie mit einer Stimme, die sie selbst als ungebührlich hart empfand, als sie dem verdutzten Hadhuin den bis zum Rand gefüllten Handkrug hinunterreichte. Gebieterisch stand sie über ihm, der wie zuvor mit untergeschlagenen Beinen am Boden saß und wortlos und unsicher zu ihr aufblickte.

„Trink!“ wiederholte sie.

Es schien offensichtlich, daß sich Hadhuin auf die Probe gestellt fühlte. Seine aufwärts gerichteten Augen waren auf einmal groß und fragend. Am unteren Rand der Pupillen wurde das Weiße sichtbar, worin sie gebettet waren. Dabei wußte sie selbst nicht recht, warum sie ihn zum Trinken bewegen wollte. Sie verschanzte sich hinter der selbstsicheren Geste, mit der sie ihm den Krug vors Gesicht hielt. Sein kohlschwarzer Blick brannte sich eine kleine Ewigkeit lang in den ihren, und sie fühlte ihre Knie weich werden. Dann hoben sich seine schwieligen Hände, und behutsam nahm er ihr den Krug ab und stellte ihn neben sich auf den Boden. Sanft, aber unerbittlich packte er sie an den Handgelenken und zog sie abwärts. Sie ließ es zitternd geschehen. Was sonst hätte sie tun können?

Was er dann sagte, klang merkwürdig ernüchternd:

„Ich bin nicht nur hier, um von dir zu lernen. Faghnar hat mich nämlich auch zu deinem Schutz abbestellt. So sagte er mir heute morgen noch einmal nachdrücklich, ehe er sich in den Wald begab.“

Zu deinem Schutz, hallte es dumpf in ihr wider.

„Zu meinem Schutz“, wiederholte sie tonlos.

„So ist es“, bestätigte ihr Gegenüber. Sie brauchte ein wenig, um wieder zu ihrer Stimme zu finden:

„Und.... was sonst hat er dir noch gesagt? Bevor er ging?“

„Daß mein Platz jetzt an deiner Seite sei. Jedenfalls bis auf weiteres.“

Wiederum nach einer kleinen Pause sagte sie:

„Wenn sie dich bei mir finden....“

„....wird es Hadhuin, den Sklaven, nicht mehr geben. Bis die Steuereintreiber kommen, wird es bald Sommer. Habe ich recht? Und wer, wenn nicht sie, begäbe sich bis ans Ende der Welt?“

„Die Händler.“

Ihr konnte nicht entgehen, daß Hadhuins Gesichtszüge bei dem Wort Händler augenblicklich ernster wurden. Sie maß dem jedoch keine Bedeutung bei und erklärte:

„Je weiter flußaufwärts, desto weniger Lachse, wie du sicher weißt; wir Fischer am unteren Lauf des Stroms haben die meisten Reusen.“

„Wann pflegen sie zu kommen? Die Händler?“

„Sobald es Frühling wird und die Fangzeit beginnt. Zuweilen kommen aber auch andere Leute, um....“

„Einfaches Volk, nehme ich an, Hirten oder Bauern, die im Tausch gegen einen Käse, ein Fell oder einen Korb voll Gerste etwas Fisch erhandeln wollen.“

Sie nickte stumm.

„Auch Handwerker sind unter ihnen.“

Nach einem kleinen Moment der Stille fügte sie noch an:

„Und Sklaven, natürlich.“

Hadhuin schien zu überlegen.

„Was wirst du ihnen erklären, wenn sie mich hier antreffen sollten und Fragen stellen?“

„Hat dir Faghnar diesbezüglich keine Anweisungen gegeben?“

„Worüber es keine Worte zu verlieren gibt, verliert der Alte auch keine. Er hält uns wohl für klug genug, selbst Ausflüchte zu erfinden.“

Sie hatte sich mittlerweile wieder auf den Hüttenboden niedergelassen. Ihm gegenüber hockend, blickte sie Hadhuin geradeheraus an und musterte aufmerksam sein von dunklem Haar eingerahmtes Gesicht.

„Ehe die Lachse den Bhréandyr heraufgeschwärmt kommen, besteht kaum eine Gefahr. Ich weiß nicht, wann man dich zum letzten Mal geschoren hat; aber du gleichst schon jetzt keinem Sklaven mehr. Laß noch zwei Monate hingehen, und die Händler mögen dich für alles mögliche halten. Um die Hirten mach dir derweil keine Sorgen. Um die Bauern noch weniger. Und sollte wirklich einmal einer dumm fragen....“

„Was ist mit den Handwerkern?“

„Bei den Zimmerleuten und Schmieden muß man vorsichtig sein. Aber die sind ohnehin zu stolz, wegen ein paar Fischen den Weg hierher auf sich zu nehmen. Sie sind es auch, die gewöhnlich ihre Sklaven schicken. Und denen schulde ich keine Antwort.“

„Sie werden mich auf den ersten Blick als ihresgleichen erkennen.“

„Dann sei vor ihnen auf der Hut“, entgegnete sie knapp.

Für eine Weile knisterte nur das Herdfeuer in die Stille hinein.

„Wo ist unser beider Beschützer hingegangen?“, brach sie schließlich das Schweigen. „In den Wald jenseits der Auen, sagtest du? Was hatte er vor, dort zu tun?“

„Werde ich die Götter zur Rechenschaft ziehen?“ wies Hadhuin die Frage von sich. „Er sagte mir nur so viel: was immer im Laufe des Tages geschehen wird, und was wir auch sehen oder hören mögen, wir sollen uns nicht davor erschrecken. Aber....“

„Was meint er damit?“ fiel sie ihm bang ins Wort. „Ich hörte nämlich sehr wohl etwas, heute früh.“

„Als ich noch schlief?“

„Ja.“

„Dann hat es nichts hiermit zu tun. Wenn es das wäre, was es Faghnars Andeutung zufolge sein muß, hätte es mich geweckt, soviel kann ich dir versichern. Wichtiger ist, was er außerdem sagte: er schärfte mir nämlich ein, dich nicht ohne meine Begleitung abseits der üblichen Wege gehen zu lassen. Am besten sollten wir gar nicht den Bereich der Hütte verlassen.“

Angst schnürte sich in ihren Bauch und lähmte ihr schmerzhaft den Atem.

Mit einem Mal war ihr wie gestern im Wald, als sie sich plötzlich fremden, aus dem Verborgenen kommenden Blicken ausgesetzt fühlte. Sie hätte in jenem Moment unmöglich sagen können, wie oder woher, aber sie wußte um eine feindliche Präsenz in unmittelbarer Nähe. Sie war nicht zu sehen. Sie war nicht zu hören. Aber sie war vorhanden und kam mit jedem Atemzug näher. Sie konnte gar nicht anders, als um ihr Leben zu laufen.

Die Übelkeit, die bei dieser Erinnerung in ihr aufstieg, zwang sie sich abzuwenden. Sie beugte sich über den steinernen Rand des Herds und übergab sich vernehmlich. Ehe ihr der zweite Anfall den Magen auspresste, schaffte sie es noch sich von der Hüfte an abwärts ebenfalls zu drehen, so daß sie jetzt neben der Feuerstelle kniete.

Hadhuin kam besorgt neben sie und hielt ihre bebenden Schultern. Zwei Mal noch würgte ihr Magen Halbverdautes aus ihr heraus; erst als die fünfte Welle in ihr aufsteigen wollte, bekam sie sich unter Kontrolle. Keuchend hielt sie sich mit der rechten Hand den Bauch, während sie sich, immer noch kniend, mit der linken Hand am Rand des Trockenmauerwerks abstützte.

„Schon besser?“ hörte sie Hadhuin fragen.

Sie ließ sich von ihm nach hinten ziehen und lehnte sich erleichtert an ihn. Sie genoß seine Körperwärme, spürte seinen gleichmäßigen Atem in ihrem Haar; und erst jetzt wurde ihr bewußt, wie unaussprechlich dankbar über seine Anwesenheit sie war.

Sie spürte noch etwas anderes. Und hätte ewig so sitzen bleiben können.

Nach einer Weile machte sie sich aus seinen in etwas hilfloser Geste um ihre Hüften geschlungenen Armen frei, um Holz nachzulegen. Dabei scharrte sie verstohlen mit einem Aststück das Erbrochene ins Feuer. Schließlich griff sie zum Wasserkrug, trank einige tiefe Züge und nahm dann wieder ihren vorherigen Sitzplatz ein, dem Gast gegenüber. In seinem Blick spiegelte sich leichte Verwirrung; zu sagen, dies hätte ihr keinen Genuß bereitet, wäre eine Lüge gewesen.

„Sag mir“, forderte sie ihn auf, und wurde augenblicklich wieder ernster, „Was hat mich gestern im Wald verfolgt? Du weißt vielleicht nicht alles, aber mit Sicherheit mehr als ich. Was war es für ein Wesen, das sich von deinem letzten Pfeilschuß getroffen in Nichts auflöste? Und was ist es, das dich mit dem Feuergott verbindet?“

Hadhuin seufzte tief.

Und dann begann er, ihr seine Geschichte zu erzählen so gut er es vermochte.

Als sie aufschaute, zogen sich dünn und zaghaft ein paar Lichtfäden durch den Raum. Sie kamen, wie es der Tageszeit entsprach, durch die feinen Ritzen im oberen Teil der Rückwand, dicht unter dem Dachgebälk. Feiner, silbriger Rauch kräuselte sich darin, der vereinzelte Aschepartikel mit sich führte, wie dürre Blätter im Wind. Den Kopf über die Schulter gewandt, sah sie hoch über dem Rauchfang einen bläulichen Schimmer.

Langsam stand sie auf, reckte die vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder und schritt der Tür zu. Als sie ins Freie trat, wollte sie im ersten Moment schützend die Hand über die Augen halten, so sehr blendete sie der Schnee. Tatsächlich hatte der Himmel aufgeklart, und die Uferbewaldung wurde von der Abendsonne beschienen. Weit jenseits des Flusses waren durch das Astgewirr noch ein paar Wolkenfetzen zu erkennen, grau mit bräunlich ausgefransten Rändern. Eine Weile blieb sie stehen, blinzelnd, und atmete die frische Luft; dann wandte sie sich wieder um und verschloß die Tür hinter sich.

„Und glaubst du“, fragte sie sinnend, als sie ihren Sitzplatz Hadhuin gegenüber wieder einnahm, „glaubst du, jener Fremde, von dem du den Dolch erworben hast, war in Wirklichkeit Faghnar?“

„Es ist wohl das naheliegendste“, entgegnete der Gast. “Sein Gesicht bekam ich nicht zu sehen; wir trafen uns bei Anbruch der Nacht, und er ging von Kopf bis Fuß vermummt. Der Rand seiner Kapuze ragte so weit über die Augen, daß ich kaum seinen sprechenden Mund unter dem wucherndem Bart ausmachen konnte.... dabei glaube ich ohnehin nicht, daß ihn seine Gesichstzüge verraten würden.“

„Er verbarg wohl sein entstelltes Auge.“

Hadhuin zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht. Aber eher glaube ich, er gaukelte mir etwas vor. Er spielte den geheimnisvollen Fremden, der sein Aussehen und seine Herkunft verbergen muß. Der sich aus irgendeinem Grund versteckt hält. Und überleben muß. So machte er mich seine Notlage glauben, derentwegen er Besitztümer zu veräußern hatte.... und allein daß er mir, einem Sklaven, eine Waffe verkaufte, rechtfertigte in meinen Augen daß er sein Gesicht verbarg.“

Sie nickte. Sie fand es nicht schwierig, sich den Hergang des Treffens vorzustellen.

„Und fühltest du dich dem Fremden nicht auch verbunden? Ich meine, da du ja selbst....“

Eine rasche Bewegung von Hadhuins rechter Hand gebot ihr Stille. Erschrocken suchte sie seine schmalen, schwarzen Augen, die über ihren Kopf hinweg ins Leere starrten. Die leicht gespritzten Finger verharrten regungslos vor ihrem Gesicht. Erneut fühlte sie Angst unter ihre Haut kriechen.

„Hast du es nicht gehört?“ fragte er endlich, und hielt sie mit seinem finsteren Blick am Boden gebannt.

„Was?“ fragte sie, mit bang vor der Brust geballten Fäusten. Ihr war auf einmal schrecklich kalt.

Und im nächsten Augenblick wußte sie, was er meinte. Hadhuin hob erneut den Blick, wobei er deutlich die Augen weitete. Mehr als ins Leere, schien er in einen waagerechten Abgrund zu blicken. Sein Gesicht wurde mit einem Mal so bleich wie ein aufgeschlitzter Fischleib, und was an ihre Ohren drang, rechtfertigte sein Entsetzen zur Genüge.

Gleich darauf ertönte es auch schon wieder, lauter als zuvor: ein gequälter, schmerzerfüllter, unheimlich in die Länge gezogener Schrei. Er kam aus einiger Entfernung, mutmaßlich über die Auen hinweg, und aus keiner menschlichen Kehle, so viel war sicher, so wenig wie aus der eines Tiers. Das Schlimmste war: es lag etwas bittendes, unendlich mitleiderregendes darin.

Erneut trafen sich ihre Blicke.

„Was war das nur?“, fragte sie leise und mit zitternder Stimme. „Was, bei allen Göttern?“

Aber von nun an blieb alles still. Stiller als zuvor. Als bestünde darin die einzig mögliche Antwort, sowohl auf ihre Frage als auch auf den gräßlichen Schrei selbst, dessen äußerste Verebbung einen Todeshauch über die starre, winterliche Erde sandte.

Hadhuin sank langsam in die zitternden Knie. Als sie voller Verzweiflung ihre Arme um ihn warf, erschrak sie über die Verhärtung seines Körpers, von den Hüften an aufwärts. Sie griff nach seiner rechten Hand und fand sie kalt und regungslos wie einen Stein am Flußufer. Sie tastete sich an seinen muskulösen Armen hinauf, und die Kälte reichte bis an die Schultern, die breit und kantig aus dem fellenen, ärmellosen Wams ragten. Bei alledem stand Schweiß auf seiner wächsernen Stirn. Sie begann ihm das Wams aufzuschnüren, schob ihre Hände über seinen harten, jugendlichen Leib, und noch ehe sie unter seine Achseln greifen konnte, waren ihre Handinnenflächen naß vom herabströmenden Schweiß.

„Du bist kalt“, hörte sie sich stammeln, „so kalt.“

Und doch konnte sie nicht mehr an sich halten. Es wäre womöglich nicht geschehen, hätte ihr nicht die Angst im Nacken gesessen, die sie um jeden Preis abschütteln oder wenigstens für eine Weile vergessen wollte; mit einer plötzlichen Bewegung warf sie sich auf ihn, schlang ihre Beine um seine Hüften und küßte ihn. Leidenschaftlich preßte sie ihren Mund auf den seinen und schob ihre Zunge hinein. Hadhuin wußte offensichtlich nicht, wie ihm geschah und war starrer als zuvor, wenn er unter ihrem Ansturm auch mählich den Kopf in den Nacken beugte. Heftig rieb sie ihren Unterleib an ihm, und als sie von ihm abließ, dann nur um aufzustehen und ihn zum Schlaflager zu ziehen.

Sie fand es unglaublich, wie gleichgültig er alles mit sich geschehen ließ. Seine Augen waren wie die eines Kindes, als sie ihn auf die Felle niederstieß und ihm weinend die Kleidung vom Leib zu reißen begann. Nackt und keuchend lag er unter ihr und schaute sie an, aus einer Unschuldsmiene wie sie ihr bis vor wenigen Augenblicken noch unmöglich erschienen wäre. Sie hockte mit gespreizten Beinen auf ihm und wartete, daß er etwas unternehme. Aber nichts geschah.

Und dann begann sie auf ihn einzuschlagen. Mit flachen Händen schlug sie ihn ins Gesicht, links, rechts, links, rechts, ohne Unterlaß.

„Du verdammter, nichtsnutziger Auswurf einer Sklavenmutter!“, brüllte sie ihn an. „Du beschissenes, davongelaufenes Aas!! Ihr Hurenböcke seid doch alle gleich! Was willst du überhaupt hier? Wer hat dich gerufen? Ich hasse dich! Hörst du?? Ich hasse dich!!! Was beim....“

Und da, endlich, kam eine Reaktion. Zunächst griff er nach ihren frenetisch auf ihn einschlagenden Armen und hielt sie fest, während sie ihm, erstickt vom Schluchzen, die letzten Verwünschungen ins Gesicht spie. Mit gewandten Bewegungen machte er sich unter ihr frei, warf sie auf den Rücken und schob ihr das wollene Kleid hinauf, bis über die Hüften. Sie lag jetzt unter ihm, die Beine auseinandergerissen, und erwartete ihn zornig.

Aber es nützte alles nichts. Er fand sie nicht, sie mußte ihm helfen. Leise stöhnte er auf, als sie mit sicherer Hand sein pralles Glied packte, es anfeuchtete und ihm die Richtung wies. Bis es seinen Weg alleine fand.

Als er endlich in sie drang und dabei unerbittlich ihr Fleisch auseinandertrieb, mit heftigen Stößen, groß und gewaltig wie ein Rammbock, fühlte sie sich halbwegs versöhnt. Nun war es an ihr, zu stöhnen und sich zu winden. Doch sobald der erste Schmerz vorbei war, glätteten sich ihre Wangen. Sie lächelte.

Alle Häßlichkeit fiel von ihr ab wie das Fadengespinst um einen flugbereiten Schmetterling.

Lange hatte sie dieses Gefühl vermißt!

Sie lag auf ihrer linken Körperseite, angenehm in die Decke vermummt. Unter sich spürte sie den Fellbelag des Lagers an ihrer nackten Haut. Ohne die Augen zu öffnen wußte sie, daß es Nacht geworden war. Dennoch konnte sie nicht lange geschlafen haben. Sie war höchstens kurz weggedämmert, davongetragen und gewiegt wie auf einem Floß von dieser wohligen Schläfrigkeit, die einen nur nach dem wilden, begehrenden Ansturm des eigenen Körpers mit dem eines anderen befällt.

Leise ächzend reckte sie ihr rechtes Bein nach vorne, gefolgt von ihren Arm, um ihn zu suchen, jenen Lust und Wärme spendenden Leib, und sich an ihn zu schmiegen. Aber der Platz neben ihr schien leer. Träge und widerwillig öffnete sie die Augen; sie nahm vom Fußende des Lagers her ein Flackern war, sah den rötlich–gelben, tanzenden Abglanz des Herdfeuers an der Wand gegenüber und fand ihn durch das vertraute Knacken bestätigt.

Dann vernahm sie seine leise Stimme:

„Und wann genau gedenkst du aufzubrechen?“

Hellwach geworden richtete sie sich auf und krallte vor ihrer Brust die Finger in die Decke.

„Morgen, in aller Frühe.“

Letztere war die Stimme Faghnars, der mit dem Rücken zur Tür saß, also mit dem Gesicht zu ihr. Aber er schien ihr keine Beachtung zu schenken. Er hielt die breite Kapuze über den Kopf geschlagen. Der Schein des niedrigen Feuers beleuchtete von unten her den großzügig geschwungenen Mund, den der dichte, wallende Bart wie ein Wasserfall umflutete.

„Wann werde ich dich wiedersehen?“

„Wenn deine Zeit gekommen ist.“

Sie stahl sich von ihrem Lager und zog ihr wollenes, bis zu den Knöcheln reichendes Kleid über. Barfüßig trippelte sie am Herd vorbei, kniete vor Faghnar nieder und griff nach seiner breiten Hand.

„Bitte, bleib! Wenigstens noch für ein paar Tage.“

Faghnar machte seine Hand frei, um die Kapuze zurückzuschlagen. Sie erschrak, als sie in seine eisig erstarrte Mine blickte.

„Nichts lieber als das. Aber ich habe schon zu viel Zeit verloren. Mein Trost ist, daß ich eine schreckliche Bedrohung von euch abwenden konnte. Nur diese eine Nacht gewähre mir also noch zur Ruhe an deinem Herd. Ich werde sie brauchen, bevor ich mich anderen Angelegenheiten zuwende.“

Faghnars menschliche Züge, so wie sie sie kannte und für unveränderlich hielt, waren die eines Mannes im fortgeschrittenen Alter. Aber jetzt hätte sie schwören mögen, daß er seit ihrer letzten Begegnung – seit dem Vorabend also! – eine Spur ergrauter aussah. Der Anblick machte sie schaudern. Was für Zeiten kündigten sich wohl an, wenn schon die Götter zu altern begannen?

Der Gedanke war noch nicht recht zu Ende gedacht, da war sie bereits sicher, sich getäuscht zu haben. Ihr gegenüber saß ein Unsterblicher: so wie er vor Äonen einer war, so wie er es immer sein würde. Er breitete in einladender Geste die Arme aus, faßte seine beiden Schützlinge um die Schultern und sprach:

„Aber laßt uns zum Abschied ein würdiges Mahl genießen. Hadhuin, hol das erlegte Reh herein, das draußen im Schnee liegt. Ich werde dir zeigen, wie man es ausweidet und häutet, und dann wollen wir es gemeinsam zubereiten.“

Faghnars Blick funkelte im Widerschein des Feuers wieder mit solcher Lebendigkeit, daß man darüber seine Entstellung vergaß.

So saßen sie wenig später um den Röstbraten herum, den Faghnar auf einen langen Ast gespießt hatte und geduldig wendete. Die an den Vorder- und Hinterläufen herausragenden Enden ruhten in den aufwärts ragenden Vergabelungen zweier weiterer Äste, die er geschickt zwischen den Bohlen des Hüttenbodens und der gemauerten Feuerstelle verkeilt hatte. Hin und wieder hieß er Hadhuin mit einem angespitzten Wacholderzweig in das garende Fleisch stechen, während die Hausherrin behutsam Met darüberträufelte. Nachdem sie den Braten kurz vom Feuer genommen und die Einstichstellen mit Zweigen getrockneten Thymians gespickt hatten, zog ein unvergleichlicher Duft durch die Hütte.

Als sie den ersten Bissen kostete, wußte sie eines sicher: keine Fürstin oder Königin hatte je solch ein Mahl genossen! Denn Faghnar, wiewohl er sich auch in Burgen und Palästen bewirten ließ, machte dort niemals einem Truchsessen oder Küchenmeister das Amt streitig.

Ihr Blick fiel auf das gewendete Rehfell, das zum Abtrocknen neben dem Herdfeuer hing. Die Innereien dagegen hatte Hadhuin in den Schnee hinausgeworfen. Nur Leber, Nieren und Herz hatte er auf Faghnars Geheiß zurückbehalten und zum Rösten gesondert auf die Wacholderzweige gespießt, die der Gott ebenfalls aus dem Wald mitgebracht hatte.

Sie ahnte, für wen das restliche Gekröse wie auch die abgenagten Knochen bestimmt waren. An Hadhuin gewandt fragte sie:

„Der Wolf hat sich dir also auf deinem Weg hierher angeschlossen?“

Und ehe er etwas entgegnen konnte, ließ Faghnar verlauten:

„Von Yskeard weiß ich, daß du ihm in der alten Festung von Ghwil Dwyrna begegnet bist.“

Hadhuin hielt einen Moment lang mit Kauen inne.

„Der Rabe“ mutmaßte er schließlich nach einem tiefen Zug aus dem Metkrug. Sie ließ ihren fragenden Blick von einem zum anderen wandern, und Faghnar berichtigte:

„Die Räbin. Yskeard, meine treueste Kundschafterin neben Skaerdyx, ihrem Gefährten. Wo immer ich wandere, ist einer von beiden nicht weit.“

„Zwei Raben?“ Sie war ehrlich erstaunt, denn nie hatte sie von den gefiederten Boten des Gottes gehört.

„Ein Pärchen. Seit Urzeiten begleiten sie mich, und kaum jemand weiß von ihnen. Unter den Menschen seid ihr die ersten, die ihre Namen hören. Behaltet sie für euch, und umso besser werde ich mich euch mitteilen können, wenn ich nicht anwesend bin.“

Schweigend nahmen sie den Rat entgegen. Er schien einleuchtend, ohne daß dies einer weiteren Erklärung bedurft hätte.

„Aber der Graue“, knüpfte Hadhuin an die eingangs an ihn gerichtete Frage an, „bis gestern hinkte er noch, und heute....“

„Nichts als ein ausgekugeltes Gelenk“, versetzte Faghnar. „Heute früh, auf meinem Weg in den Wald, machte ich mich ihm vertraut und renkte es ihm wieder ein. Behandelt ihn gut, und er wird über euch wachen und nicht von eurer Seite weichen. Auch wenn niemals ein Hund aus ihm wird.“

„Und das Maultier?“ wollte Hadhuin wissen.

„Es wird sich an ihn gewöhnen.“

„Und wird der Wolf nicht versuchen, es sich zur Beute zu machen?“ warf sie ein.

„Nein. Wölfe jagen im Rudel, wie du weißt. Alleine vermag er es nur mit Kleintieren aufzunehmen. Und zudem respektiert er die Stute als Teil eurer Gemeinschaft.“ Woraufhin Faghnar abrupt das Gespräch für beendet erklärte: „Es ist spät geworden. Morgen habe ich einen langen Weg vor mir. Laßt mir die wenigen noch verbleibenden Stunden zur Ruhe.“

Mit diesen Worten hüllte er seinen Mantel fester um sich und schlug die Kapuze über den Kopf. Den vor wenigen Tagen erst geschnittenen Stab aus Eschenholz hatte er wie eine Schranke vor sich auf den Knien liegen. Keiner von beiden wagte ein weiteres Wort an ihn zu richten. Nachdem sie einen kurzen, verstohlenen Blick mit Hadhuin getauscht hatte, standen sie wie auf Absprache auf und begaben sich in den hinteren Teil der Hütte und auf das Lager. Faghnar veränderte seine Haltung nicht im geringsten, sondern blieb aufrecht und wie erstarrt vor der Tür sitzen, die er mit seinem breiten Rücken abschirmte.

So habe ich ihn zuvor nie schlafen gesehen, dachte sie im Niederlegen, während Hadhuin sie von hinten fest um die Taille faßte. Aber da war es ja auch nicht verlautbar gewesen, daß er ein Gott war.

Das nächste was sie bewußt wahrnahm war ein eisiger Luftzug, der von der Tür her über ihr Gesicht strich. Benommen blinzelte sie über das Fußende ihres Lagers hinweg ins Freie. Dünne Rauchfäden stiegen aus dem fast erloschenen Herd, während jenseits des Flusses der neue Tag heraufglomm und die Nacht einäscherte. Sie war also im Nu eingeschlummert und hatte bis gerade eben in einem durchgeschlafen, ohne auch nur die Lage zu ändern.

Von draußen hörte sie das Krachen brechenden Holzes. Sie warf sich den dicken Wollmantel über, ehe sie ins Freie trat. Der Wind traf sie mit unerwarteter Härte und trieb ihr Tränen aus den Augenwinkeln; mit steifen Fingern schlug sie sich das Tuch vors Gesicht, als sie der Stelle zuschritt wo sie sich zu erleichtern pflegte.

Kurz darauf fand sie Hadhuin hinter der Hütte damit beschäftigt, einen Unterstand für das Maultier zu bauen. Hierfür brach er sich Äste zurecht. Einstweilen hatte er der Stute eine der Decken übergeworfen, die er mit sich führte.

„Es ist ein zähes Tier, aber gegen den schneidenden Ostwind muß es geschützt werden“, begründete er die Maßnahme und hielt kurz mit der Arbeit inne, um sich unter seinem Umhang die Hände warmzureiben.

Sie zog fröstelnd ihren Mantel enger um sich, was ihr nicht viel nutzte, da das Gewebe winddurchlässig war, und fragte nach Faghnar; dabei wußte sie genau, wie die Antwort lauten würde.

„Im ersten Morgengrauen ist er aufgebrochen.“ Hadhuin zeigte ihr die Richtung an, indem er mit einer Kopfbewegung flußaufwärts wies. „Wir sollen uns vorsehen, sagte er mir zum Abschied; es würde noch einmal bitterkalt werden, dies sei erst der Anfang.“

Und jetzt sah sie auch die in südlicher Richtung durch das Gehölz führenden Fußstapfen. Der Anblick tat ein übriges, ihre Stimmung zu verdüstern. Schweigend begann sie, sich Holz aufzuladen. Sie klaubte es zwischen den Stützpfosten der Hütte zusammen, wo ein gewisser Vorrat zum Trocknen aufgeschichtet war, und trug es in der Armbeuge hinein.

Kurz darauf prasselte wieder ein Feuer auf dem Herd. Sie blieb ein Weilchen sitzen und wunderte sich, wie leicht es sich entzünden ließ: obwohl kaum noch Glut vorhanden war, hatte sie es mit nur wenigen Atemzügen zum Flackern gebracht. Mit Genuß fühlte sie, wie die Wärme ihre Haut streichelte. Das Blut schoß in die Wangen zurück und belebte ihre wie versteinerten Gesichtszüge. Zu ihrer eigenen Überraschung lächelte sie.

Im Hinausgehen nahm sie das Rehfell vom Querbalken. Hadhuin fuhr unverdrossen in seiner Arbeit fort und hatte bereits eine ansehnliche Menge an verwertbaren Schäften zusammengetragen. Überrascht blickte er über die Schulter, als sie dem Maultier das Fell überwarf, zusätzlich zur Decke, und ihn am Arm packte. Widerstrebend zunächst, ließ er sich von ihr mitziehen. Vielleicht überzeugten ihn ihre schmalen Finger, die sie zärtlich zwischen die seiner eigenen schwieligen Hand flocht.

Sie lagen bereits nackt miteinander auf dem Lager, sie obenauf, als das kalte, kirschrote Licht der Morgensonne seinen Weg durch die engen Ritzen des nach Osten weisenden Giebels fand und sich an den wärmeren Schein des Herdfeuers herantastete. Sie schloß die Augen, stützte sich auf ihre gestreckten Arme und warf mit einem leisen Stöhnen den Kopf in den Nacken, während seine gespreizten Fingerkuppen über ihre erwartungsvoll bebenden Seiten strichen. Sie fühlte wie er Einlaß begehrte, öffnete sich weit wie ein Burgtor und blickte ihm überrascht in die Augen, als sie ihn vollkommen unerwartet fragen hörte:

„Und wie ist dein Name?“

Der Gott des Zwielichts

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