Читать книгу Der Gott des Zwielichts - Joachim Kurtz - Страница 6
Es war nur das linke gewesen.
ОглавлениеDas rechte, erinnerte er sich, war schwarz, oder schwarzbraun, und nichts daran deutete auf eine widernatürliche Verfärbung hin. Das linke dagegen war grau und von bläulichen Schlieren durchzogen, auch schien es glasartig und starr, und nicht zuletzt blind. Hadhuins Schädel dröhnte von innen heraus, und von allen Dingen die seinen halb betäubten Sinn hätten beherrschen können, war es das graublaue Auge eines Fischotters.
Dann hörte er das Knacken eines Kienspans, was ihn einerseits mit Dankbarkeit erfüllte. Es war aber auch alarmierend, weil zwangsläufig jemand anders als er selbst sich um das Feuer gekümmert haben mußte. Mit einer gewaltigen Anstrengung zwang er sich, die schmerzenden Lider auseinanderzureißen.
Das Feuer brannte, wie er vermutet hätte, rechts von ihm. Draußen dämmerte es. Ein kurzer Blick nach oben genügte, um den vertrauten Umriß der Felsauskragung zu erkennen, unter der sein Versteck lag. Sich selbst fand er sorgsam von oben bis unten vermummt. Irgendwer meinte es scheinbar gut mit ihm. Aber wer? Mit einem leisen Stöhnen versuchte er, den Oberkörper aufzurichten. Eine breite Hand packte ihn bei der linken Schulter und zog ihn sanft, aber bestimmt auf sein Fellager zurück, während er noch spürte, wie es im Nackenbereich mit einem weiteren Fell aufgepolstert wurde, so daß sein Kopf etwas erhöht zu liegen kam. Gerade hoch genug, um vorsichtig an der Öffnung des Schafsbalgs nippen zu können, der ihm an die Lippen gesetzt wurde. Aber die Milch, die er enthielt, schmeckte verdorben. Hadhuin spuckte sie angewidert von sich.
Und da war es wieder, das Auge, nicht weit von seinem Gesicht entfernt, als jemand sich von hinten über ihn beugte.
„Trink!“ befahl eine Stimme, und der Schafsbalg wurde ihm mit solcher Bestimmtheit ans Kinn gedrückt, daß er sich nicht zu helfen wußte. Er trank. Langsam, in kleinen Schlucken, leerte er nach und nach das halbe Gefäß. Zu Beginn kostete es ihn einige Überwindung, aber die Hand, die ihm das Gesöff darreichte, war unnachgiebig.
Das rechte und, wie es den Anschein hatte, gesunde Auge musterte ihn mit einem prüfendem Blick, und als Hadhuin röchelnd zu einer Frage ansetzen wollte, legte sich ein langer, knochiger Finger vor einen inmitten von grauem Bartgestrüpp gerundeten Mund.
„Shhhhhhh!“ war alles was er hörte. „Jetzt mußt du schlafen.“
Mehr als nach einem Befehl, klang es wie eine Verlockung. Erleichtert gab Hadhuin allen Widerstand auf und ließ sich in einen See tiefer Trunkenheit sinken, dem Schlaf entgegen, der am Grund auf ihn wartete.
Als er aufwachte, war es heller Tag. Hadhuin lag auf der rechten Körperseite, und das erste was er sah, war das munter flackernde Feuer. Und plötzlich wurde ihm auch bewußt, was genau ihn aus dem Schlaf geholt hatte, nämlich der Hunger. Was ihn darauf brachte, waren das Zischeln in die Flammen tröpfelnden Fetts und der dazugehörige Duft – der nach geröstetem Fleisch!
Jetzt hielt ihn nichts mehr am Boden. Mühelos und ohne irgendwelche Schmerzen zu verspüren, stemmte er sich zunächst auf den Ellbogen und warf die Felldecke von sich. Tatsächlich, über dem Feuer wurde ein Braten gedreht. Hadhuin stand auf und tat verblüfft zwei Schritte rückwärts.
Prompt wurde ihm schwindlig. Schwärze umwölkte in Form aus dem Nichts schießender Punkte seine Augen, und er fühlte wie er nach hinten kippte. Noch ehe er die Arme ausstrecken konnte um den Fall abzufangen, fühlte er sich von einer kräftigen, von rechts kommenden Hand gepackt und nach vorne gezogen.
„Hooo.... nicht so hastig, Freund Hadhuin. Auch die tapfersten Krieger müssen von ihren Wunden genesen. Setz dich wieder, langsam, so ist es gut. Geht es schon besser? Hier, trink einen Schluck Wasser. Und rühr dich nicht mehr von deinem Platz, ehe du dich am Fleisch dieses frisch erlegten Ebers gestärkt hast. Verstanden? Nur ein wenig Geduld noch, er ist fast gar.“
Verwirrt nahm Hadhuin den vollen Krug entgegen.
„Aber....wie....woher....“
„....ich deinen Namen weiß?“ nahm der Graubärtige seine Frage vorweg und lachte wohlwollend. „Keine Sorge, wenn ich ein Jäger entlaufener Sklaven wäre, würdest du jetzt gefesselt auf einem Karren liegen und Richtung Kadhlynaegh rollen. Von mir hast du nichts zu befürchten.“
Hadhuin ließ sich das kalte Wasser durch die Kehle rinnen und fühlte sich augenblicklich besser. Dann versuchte er, sich zu erinnern. Er hatte jagen wollen, ja, aber das wollte er schon länger. Unten am Bach wollte er dem Rotwild auflauern, mit Pfeil und Bogen. Die Spur der Ereignisse führte von da an ins Leere, als er sich hinter den Fichten versteckte. Und warum schmorte jetzt ein Eber über dem Feuer, statt eines Hirschs?
Gedankenverloren faßte er sich an den Kopf, und erst jetzt merkte er, daß er einen Stirnverband trug.
„Ein böser Sturz“, bemerkte der Fremde, der am Kopfende von Hadhuins Lager sitzend den Spieß drehte. „Du hattest Glück, daß ich da war, sonst wärst du womöglich verblutet.... aber dafür hätten deine Verfolger ohnehin gesorgt, das kann ich dir versichern.“
Mit der Fingerkuppe strich er etwas Fett von der braunen Fleischkruste und führte es an die prüfenden Lippen.
„Und wo hattest du überhaupt deine Waffe?“
Diese Frage löste bei Hadhuin einen vertrauten Reflex aus, der darin bestand, daß seine rechte Hand an die Hüfte fuhr. Der Dolch! Wo in Khwéals Namen hatte er ihn gelassen? Und hatte er sich diese Frage nicht schon einmal gestellt? Natürlich, als er in Gefahr war, auf der Flucht.
Aber vor wem? Wer waren die genannten Verfolger?
Der Fremde stand auf und machte sich an dem Spieß zu schaffen, indem er ihn mit seinen langen Armen an beiden Enden packte und auf den tragenden, senkrecht zwischen Steinbrocken verankerten Birkenschäften eine Astgabelung höher setzte. Hadhuin staunte über die Kraft und Gewandtheit des Mannes. Der brach jetzt einen Brotfladen auf, den er von einem Stein neben seinem Sitzplatz genommen hatte, und reichte ihm eine der kreisrunden Hälften. Dann begann er lange Streifen gerösteten Fleisches von Lenden und Keulen zu schneiden und häufte sie auf Hadhuins Brothälfte. Und natürlich benutzte er dazu den Dolch, den er aus dem weiten Ärmel seines Gewands hervorgeholt hatte.
Aber Hadhuin war vorläufig für nichts anderes mehr zu interessieren als für das heiße, saftige, knusprig gebratene Fleisch auf dem duftenden, fettgetränkten Brotfladen. Mit Heißhunger machte er sich darüber her und scherte sich einen Kehricht um alles andere. Auch darum, daß er nun doch keine von ihm selbst erlegte Jagdbeute verzehrte.
Der andere setzte sich ebenfalls zum Essen nieder, jedoch weitaus gelassener als er selbst. Er hat in letzter Zeit wohl keinen Mangel an Fleisch gelitten, dachte Hadhuin, spülte den letzten Mundvoll mit einem Schluck Wasser hinunter und streckte verlangend die Hand nach einem weiteren Stück Brot aus. Der andere reichte ihm einen ganzen Fladen und den Dolch hinterher.
„Von nun an paß besser darauf auf! Diese Waffe ist dein Talisman. Sie ist dir Schild und Schwert in einem. Hörst du?“
Hadhuin hatte den Dolch am dargereichten Griff gepackt, konnte ihn dem Mann aber nicht entwinden. Der hielt ihn fest in seiner linken Hand. An der Klinge. Der doppelschneidigen. Ohne sich zu verletzen. Ohne auch nur um die Breite eines Haares nachzugeben. Die Finger wie eine Adlerkralle um den blanken Stahl geschlossen. Den vernichtenden Blick aus unbewegter Mine streng auf Hadhuin geheftet.
„Hörst du mich, Sklave, der ein Krieger sein will?“
Hadhuin stammelte mit Schweißperlen auf der Stirn eine Bejahung, und der andere lockerte den Griff, gerade genug, daß er das Messer mit Mühe herausziehen konnte. Dann öffnete sein Gegenüber langsam die Faust, bis die ganze Handinnenfläche von den Fingerspitzen bis zum Handgelenk zu sehen war.
Sie hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen.
Hadhuin ließ den Blick von der Hand zur blanken Klinge, und von dort wieder zur Hand zurückwandern, und dann aufwärts zu dem bärtigen Gesicht mit den schwarzen, borstigen Brauen. Er hätte schwören mögen, daß sich die Lippen unter dem Bart, der sie vollständig überwucherte, zu einem grimmigen Lächeln kräuselten.
Und im nächsten Moment wurde der Mann von einer unsagbaren Heiterkeit befallen. Er warf den Kopf in den Nacken, zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Hadhuin und brüllte, daß die Felswände widerhallten. Hadhuin, so beschämt er war und so sehr der Spott ihn stach, konnte trotzdem nicht anders als sich von der plötzlichen Fröhlichkeit anstecken zu lassen. Ein wolkenloser Sommerhimmel hätte nicht heiterer sein können, als der seltsame Fremde es auf einmal war. Und er mit ihm.
„Oh, verzeih bitte!“ gluckste der Mann und wischte sich mit den Ärmeln seines Gewands dicke Tränen aus den Augen. „Aber du hättest eben...“
Widerstandslos wurde der Sprecher von einem neuen Lachanfall überwältigt. Leicht nach vorne gebeugt hielt er sich die auf und ab hüpfenden Seiten, ohne daß ein Laut zu hören gewesen wäre. Das zog sich so lange hin, bis Hadhuin ernsthaft befürchtete, er würde ersticken. Schließlich fing er sich doch wieder, holte tief Luft und schrie seine Erleichterung hinaus.
„Verzeih mir, junger Freund; aber du hättest eben wirklich dein eigenes Gesicht....“
Das Ende des Satzes wurde von der dritten und vorläufig letzten Lachsalve verschluckt, die nicht weniger heftig und andauernd war als die beiden vorausgegangenen. Hadhuin fühlte sich so gelöst, als nähme er an einem Trinkgelage der Götter teil. Er brach das Brot auf, füllte eine Hälfte mit Fleisch und wollte sie seinem neuen Freund und Beschützer reichen, aber der lehnte dankend ab.
„Iß und komm zu Kräften!“ forderte er ihn auf. „Du hast es nötig. Zu lange hast du dich von Milch und Brei ernährt, wie Säuglinge und zahnlose Greise. Kein Wunder, daß dich die Mattigkeit beim Jagen überwältigen wollte.“
Fragte man einen Mann, der einen Dolch an der Schneide festhielt ohne sich daran zu verletzen, woher er das wußte? Hadhuin war nicht dumm. Er beschloß, seine Neugierde vorläufig zu zügeln. Angesichts der Macht, die er offensichtlich besaß, wurden selbst der Name und die Herkunft des Mannes zur Nebensache. Es war besser, ihn den Zeitpunkt, seine Identität preiszugeben, selbst wählen zu lassen. Hadhuin wußte, er stand unter seinem Schutz, und das war wichtiger als alles andere.
Während er an seiner zweiten Portion kaute, versuchte er wiederum sich auf die letzten Geschehnisse vor seiner Bewußtlosigkeit zu besinnen. Jemand oder etwas verfolgte ihn, ja. Und auf der Flucht stellte er fest, daß er bis auf Pfeil und Bogen unbewaffnet war. Er hatte, was ihm bis zu diesem Tag noch nie passiert war, vergessen, seinen Dolch zu gürten. Ohne den er sonst nie auch nur einen Schritt aus seinem Versteck heraus tat. Er mußte ihn an der Feuerstelle liegen gelassen haben, deswegen hielt er auf seiner Flucht auch auf die jenseits des Bachs ansteigende Bergflanke zu, besessen von dem Gedanken, an seine einzige auf ihre Wirksamkeit erprobte Waffe zu gelangen.
Und plötzlich hatte er seinen Verfolger vor sich, statt hinter sich. Und dann waren es deren zwei. Nach und nach begann sich das Bild seiner Erinnerung zu einem erkennbaren Ganzen zusammenzufügen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, als er sich jetzt an die stechendem Augen erinnerte, deren haßerfüllte Glut die gesamte nähere Umgebung in solcher Weise verblassen ließ, daß die Gestalt als solche nur als räuberisch geduckter Schatten wahrnehmbar war. Vor diesem Anblick war er geflohen, ja; und nur das grenzenlose Entsetzen, diesen Angreifer jetzt in verdoppelter Gestalt vor sich zu haben, ließ ihn vor lauter Verzweiflung wieder in die Gegenrichtung rennen. Also zurück, seinem ersten Verfolger in die Fänge?
Hadhuin fragte sich erneut, warum es jetzt ausgerechnet ein Eber war, dessen Fleisch er verzehrte. Und dann hielt er einen Moment mit Kauen inne. Hatte nicht auch irgendetwas geschrien? Ja, etwas mehr als jemand. Während er zu Ende aß, langsamer jetzt, weil er allmählich satt und träge wurde, versuchte er den Zeitpunkt des Schreis in die Kette der nach und nach von seinem Gedächtnis preisgegebenen Ereignisse einzuordnen.
Denn er hatte ihn nicht am Ende seiner Flucht gehört; also nicht da wo er gestürzt sein mußte, sondern eher zu Beginn, am jenseitigen Ufer des Bachs, nahe seines Jagdverstecks. Und es war auch nicht der Schrei eines einzelnen Wesens, es waren zwei einander überlagernde Schreie gewesen. Unwillkürlich schaute er zu dem Fremden auf, der ihn schweigend von seinem Sitzplatz aus beobachtete.
Und als er sein linkes Auge sah, fiel ihm der Fischotter wieder ein.
Hadhuin nahm noch einen kräftigen Schluck Wasser, rutschte ein Stück nach hinten und lehnte sich erschöpft an die Felswand. Jetzt war es erst einmal Zeit, sich einer Zufriedenheit zu überlassen, wie er sie lange nicht mehr gekannt hatte. Dankbar legte er beide Hände auf den wohlgefüllten Bauch und schloß eine Weile die Augen.
„Genug gegessen?“ Die tiefe Stimme schreckte ihn aus seiner Träumerei hoch. „Dann nimm einen Verdauungstrunk. Hier!“
Mit diesen Worten reichte ihm der Bärtige den Schafsbalg dar. Hadhuin nahm ihn entgegen, öffnete ihn und roch argwöhnisch an seinem Inhalt. Er fand seine Befürchtung bestätigt und wollte ihn angewidert zurückreichen, aber der andere verweigerte die Annahme.
„Trink!“ befahl er, und Hadhuin wußte augenblicklich, daß Verweigerung nicht möglich war. Eingeschüchtert setzte er den Balg an die Lippen.
„Trink“, hörte er wieder die Stimme des Mannes, und ihr wohlmeinender Klang vertrieb den Schatten der Demütigung so schnell, wie sie gerade eben noch sein Gemüt damit befangen hatte. „Trink deine Medizin. An den Geschmack wirst du dich schneller gewöhnen, als du glaubst. Und bald wirst du ihn sogar vermissen, denn deine brave Stute wird lange keine Milch mehr geben. Das Wetter schlägt um, Freund Hadhuin. Nicht mehr lange, und die Baumkronen werden klirren vor Frost. Im Übrigen hattest du ausgesprochenes Glück mit dem Tier. Es hat zur Unzeit gefohlt und das Jungtier verloren; wie sonst hätte es überhaupt Milch geben können, zu dieser Zeit des Jahres?“
Auf diese Worte hin nahm sich Hadhuin fest vor, Pendari bei erstbester Gelegenheit ein Dankopfer darzubringen und saugte tapfer am Balg. Und der Fremde hatte wiederum recht: hatte man sich erst einmal überwunden, konnte man sich an den strengen Geschmack durchaus gewöhnen.
„Ich bin also gestürzt?“ nahm Hadhuin nach einer Weile das Gespräch wieder auf, angeregt von einer inneren Wärme, wie nach dem Genuß von Bier oder Met. „Unten am Bach?“
„Und zwar am diesseitigen Ufer, als du besinnungslos vor Furcht den Hang hinab ranntest“, antwortete der Fremde, ehe er nach einer kurzen Pause noch anfügte: „Nicht, daß du dazu keinen Grund gehabt hättest.“
„Wer waren überhaupt meine Verfolger?“ wollte Hadhuin wissen.
„Bewohner des Waldes“, lautete die knappe Auskunft. „Daß sie dich zuvor nicht behelligten, hast du allein zwei Dingen zu verdanken. Zum einen dem Feuer hier, das du nicht etwa aus einem Stück Holz gebohrt, sondern wie es einem Vandmar geziemt aus einem Eisen geschlagen hast.“
Mit diesen Worten schürte der Mann die Glut auf und legte mehrere Holzstücke nach.
„Flammen von Andrynemas Licht“ murmelte er, als wäre er stolz darauf. „Entfacht vom Atem der Schlange....“
„....und den ersten Vandrimar überbracht von einem Gott“, ergänzte Hadhuin.
„So ist es“, ließ der andere als Bestätigung verlauten. Von Hadhuins Kenntnis der Dinge schien er nicht im mindesten beeindruckt. Seiner Gleichmut war zu entnehmen, daß er nichts anderes erwartet hätte. Was kaum verwunderlich war, denn wer kannte nicht von Kindesbeinen an die Geschichte vom Raub der Züngelnden Flammen durch Faghnar, seither bekannt als Gott des Feuers oder Wandernder Gott?
„Ich tat also gut daran“, sprach Hadhuin weiter, „mich für meine Fahrt mit Feuerstein und Schlageisen zu rüsten, und nicht allein der Kälte wegen. Was nun das zweite betrifft, das zu meinem Schutz vor den Kreaturen des Waldes beitrug....“
„....so hast du längst erraten, worum es sich handelt.“
„Ihr sagtet es mir selbst vor einer Weile: es war der Dolch. Was aber ist so besonders daran, außer daß er wirklich eine vorzügliche Waffe zu sein scheint?“
„Er ist eine vorzügliche Waffe. Und mehr als das, wurde die Klinge von dem selben Gott geschmiedet, der einst das Feuer für die Essen der Vandrimar raubte. Wenn du die Klinge ins Licht hältst, spiegelt es sich auf der glatten Oberfläche so hell, als würdest du direkt in die Sonne schauen. Von innen heraus aber leuchtet sie in Andrynemas Licht. Dir ist dieses Licht zu sehen verwehrt, wie du auch äußerlich die Flammen des Herdfeuers nicht von denen eines Feldfeuers unterscheiden könntest. Die Kreaturen des Waldes aber sehen es, und sie fürchten es mehr als alles andere. Das Herdfeuer hast du im Schlageisen mitgenommen. Damit und mit dem Dolch warst du auf deiner Flucht in die Wildnis doppelt geschützt. Was aber geschah, als du dich nur ein einziges Mal ohne deine Waffe vom Feuer entferntest.... Nun ja, du hattest Pech. Denn überdies war der Mond noch nicht untergegangen.“
„Der Mond?“ fragte Hadhuin ungläubig. „Aber was hat der Mond....“
„Ghléan wurde einst von Haeldwyr entthront. Von allen Gestirnen war es sie allein, die den Tag regierte, bis Haeldwyr ihrer Herrschaft mit Gnidhrs Hilfe ein Ende bereitete. Aber in diesen Wäldern, und in der Ebene bis an den Bhréandyr und ans jenseitige Ufer, lebte bis zur Ankunft der Vandrimar ein Volk, das Haeldwyrs Thronraub verurteilte; und wenngleich es sich seiner alles überstrahlenden Macht beugen und sein Gesetz anerkennen mußte, huldigte es doch weiterhin Ghléan als der eigentlichen Königin des Firmaments. Die Vandrimar kamen als Statthalter Haeldwyrs und unterjochten das Alte Volk, das sie Laeghtrimar nannten, die Wölfischen. Lange widerstanden die Laeghtrimar, klug, zäh und kämpferisch, stets ihrer Sippe verpflichtet wie das Tier, mit dessen Namen man sie belegte. Aber ihre Tage waren gezählt. Die Vandrimar brachten das Feuer, das Faghnar für sie von der Schlange geraubt hatte, und gegen die darin geschmiedeten Waffen hatten die Waffen der Laeghtrimar so wenig Bestand wie das Licht des Mondes gegen das der Sonne....“
„Ich hörte, die letzten von ihnen flohen, um Tod oder Unterwerfung zu entgehen, auf die Dhirunischen Felder....“
„....deren Zugang seitdem von Faowgh versperrt wird, der geflügelten Schlange, dem Hüter des Feuers, dem Listenreichen – und der dennoch der List eines gewissen Gottes nicht gewachsen war!“
Bei diesen Worten schienen sich wieder die Lippen des Sprechers unter dem Bart zu kräuseln. Hadhuin nahm es wahr als ein eisiges Lächeln, wenn auch etwas gemildert durch den Schalk, der aus dem gesunden der beiden Augen funkelte.
„Bis hierher kennst du die Geschichte, nicht wahr, so wie sie von Alters her überliefert wurde. Was du aber nicht weißt, und was bisher noch keinem Vandmar bekannt ist, ist daß manche der Laeghtrimar aus Ardhirunai zurückkehren, und zwar als Rächer ihres Volkes. Für Haeldwyrs Licht sind sie blind, und wie in grauer Vorzeit mißt allein Ghléan ihre Tage und Nächte. Hüte dich also, wenn du den Mond am Himmel weißt: ob sichtbar oder unsichtbar, leuchtend oder von Wolken verdeckt, sei es bei Tag oder bei Nacht, bei Vollmond wie auch bei Neumond....!“
Hadhuin war sprachlos. Der Mond! Von sich aus wäre er im Leben nicht auf den Gedanken gekommen, Ghléan irgendeine besondere Bedeutung beizumessen. Er freute sich an ihrem Anblick, wenn sie leicht und weiß wie eine Feder über dem Abendrot schwebte; was er weniger schätzte war, wenn sie zu voller Pracht entfaltet den Nachthimmel erhellte und die Welt in silbriges Licht tauchte, das ihm nicht selten um den Schlaf brachte und zudem die Sterne überstrahlte, deren Heerschar ihm einen weitaus überwältigenderen Anblick bot. Wenn das jedoch gerade nicht der Fall war, nahm er sie allenfalls als Randerscheinung wahr, die keinerlei Einfluß auf sein Tun und Lassen hatte.
Und jetzt wurde ihm gesagt, er solle sich vor ihr hüten. Und wie es schien, nicht ohne Grund, wenn er sich an die jüngsten Ereignisse erinnerte.
Hadhuin erhob sich von seinem Sitzplatz und trat an den Rand seiner Felsenwohnung. Der Himmel war wolkenlos, und dem Stand der Sonne nach zu urteilen, schien es früher Nachmittag zu sein. Es war ein absolut windstiller Tag; so weit Hadhuins Auge reichte, waren alle Baumwipfel starr und regungslos. Im Gegensatz zu den windigen, regennassen Tagen, die er seit seiner Ankunft hier verlebt hatte, war die Luft jetzt angenehm trocken und kühl. Dennoch sah es so aus, als würde der Fremde recht behalten, und ein Kälteeinbruch stand bevor. Die Windstille kam Hadhuin trügerisch an, er hatte den Verdacht, daß sich der Wind nur drehte und bald aus der Gegenrichtung wehen würde, also von Osten.
„Das Maultier ist auf der Weide?“ fragte er seinen Gefährten beiläufig, als dieser neben ihn trat. Er fragte mehr um das Schweigen zu brechen als um eine Antwort zu erhalten, die er ohnehin von vorneherein kannte.
„Ja. Laß es grasen, so lange es noch etwas Grün findet, und um so länger wird es dir noch Milch geben können. Spürst du die Veränderung in der Luft?“
„Ich spüre sie. Heute nacht wird es kalt werden, fürchte ich. Vielleicht sollten wir noch Holz heranschaffen, um....“
„Sorge dich darum nicht und überlaß das Feuer mir. Ruh dich aus und sieh zu, daß du zu Kräften kommst, du wirst dich nämlich bald wieder auf Fahrt begeben müssen.“
„Aber....“
„Geh, setz dich ans Feuer, oder noch besser leg dich eine Weile hin. Es ist nicht gut für dich, wenn du stehst, du bist immer noch bleich wie eine Fischgräte. Ich gehe derweil die Stute melken. – Und sperr das Maul nicht auf wie ein blökendes Schaf“, empfahl ihm der Bärtige über die Schulter gewandt, während er den Hang hinab stapfte, „davon wirst du auch nicht klüger. Warte bis ich zurück bin, dann erfährst du alles der Reihe nach.“
Die frisch aufgeschürten Flammen zeichneten sich vor dem dämmrigen Blau des Abendhimmels ab, als Hadhuin, aus einem leichten, kurzen Schlaf erwacht, erneut Hunger verspürte und sich die Bissen einzeln aus dem Wildbraten schnitt. Nach wie vor beschäftigten ihn die Ereignisse, die zu seinem Unfall geführt hatten, und wenn er auch mittlerweile seine Erinnerungen besser geordnet hatte, ergaben sie immer noch kein schlüssiges Bild.
Was ihm am meisten zu denken gab, war das Bild des vor der sonnigen Grasnarbe aufgerichteten Otters.
„Als ich gestern abend aus meiner Bewußtlosigkeit erwachte....“
„Gestern abend?“ lachte der Graubart. „Nein, mein Freund. Du bist in der Morgendämmerung aufgewacht, nicht in der Abenddämmerung.“
„Ich lag die ganze Nacht bewußtlos?“ fragte Hadhuin überrascht.
„Das will ich meinen.“
„Schön. Als ich denn heute....“
„Gestern morgen, Hadhuin. Nicht heute morgen.“
Hadhuin brauchte einige Augenblicke, um die entsprechenden Schlüsse zu ziehen.
„Ich war die ganze Nacht bewußtlos und schlief danach einen ganzen Tag und eine weitere Nacht?“
„Ich sagte dir doch: dein Sturz hätte böse ausgehen können. Ich kam gerade zur rechten Zeit, denn du warst in jedem Fall auf meine Hilfe angewiesen, auch ohne dir den Schädel blutig zu schlagen.“
Fast unmerklich ließ der Sprecher seinen Blick auf den vor Hadhuin liegenden Dolch abgleiten, nicht länger als die Dauer eines Lidschlags. Es genügte, ihn bis auf die Knochen erschauern zu lassen. Schuldbewußt nahm er die Waffe wieder zur Hand, nur um in seiner Verlegenheit weitere Streifen gebratenen Fleisches herunterzuschneiden.
Er mußte sich räuspern, ehe er weitersprach.
„Nun, worauf ich hinauswollte: auf die Gefahr, die mir drohte, wurde ich dank eines Fischotters aufmerksam, glaube ich. Er schien keine Furcht zu haben und kam ganz nahe an mich heran. Und, aus irgendeinem Grund scheint es mir – ich meine....“
„Ob ich etwas damit zu tun hatte, meinst du?“
Mit der Antwort schien es der Mann nicht eilig zu haben. Stattdessen lehnte er sich zurück, wobei er offensichtlich keine Schwierigkeiten hatte, es sich an dem unförmigen Felsblock hinter seinem Rücken bequem zu machen, und legte am Rand der Feuerstelle die Füße übereinander. Verschwörerisch funkelte sein gesundes Auge aus dem Halbdunkel, an den Flammen vorbei, deren Flackern es widerspiegelte.
„Da fällt mir ein, ich soll dich von jemandem grüßen. Vor zwei Tagen machte ich seine Bekanntschaft, unweit seiner Höhle, wenige Stunden Fußmarsch bachaufwärts; errätst du, wen ich meine?“
Hadhuin spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten.
„Er läßt dir ausrichten, du mögest dich besser nicht mit ihm anlegen. Er sei drauf und dran gewesen, dir einen Krallenhieb ins Gesicht zu verpassen, als du ihn mit deinen angespitzten Baumruten bedrohtest. Und glaub mir, du kannst von Glück reden, daß er die Trägheit seiner Winterruhe nicht abgeschüttelt hatte, sonst wäre es dir übel ergangen.“
Hadhuin schluckte.
„Nun, es geschah etwas unvorhergesehenes....“
„Oh ja“, lachte der Graubärtige, „das kann ich dir seitens des Bären auch bestätigen!“
„Ihr sprecht also die Sprache der Tiere?“
„Mehr als das, die Sprachen aller Tiere.“
„Wie kam es zu der Begegnung?“
„Rein zufällig trafen wir uns, als ich den Bach heruntergeschwommen kam. Er stand am Ufer und stillte seinen Durst.“
„Ihr seid geschwommen? Im Bach?“
„Zugegeben: der Bhréandyr wäre breiter und tiefer, aber er hätte mich nicht zu dir geführt. Der Gestalt eines Otters genügt das Bachbett aber durchaus.“
Damit erhielt Hadhuin die Antwort, die er mehr oder weniger erwartet hatte. Leicht war sie dennoch nicht zu verarbeiten. Er holte tief Luft und ließ sich das Gehörte eine Weile durch den Kopf gehen, ehe er weitersprach.
„Ihr scheint genau gewußt zu haben, wo Ihr mich finden würdet?“
„Spätestens seit dem Zusammentreffen mit deinem braunhaarigen Freund. Aber ich hätte dich so oder so aufgespürt.“
„Und was verschafft mir die Ehre, wenn ich fragen darf?“
Der andere wand die knochigen Finger über der Brust ineinander und seufzte.
„Um dir das zu erklären, müßte ich sehr weit ausholen“, brummte er. „Und danach ist mir im Augenblick nicht zumute.“
Nachdem er eine Zeitlang dumpf vor sich hingebrütet hatte, sagte Hadhuin:
„Ihr habt mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, als Ihr Euch so plötzlich vor mir aufrichtetet....“
„Du warst wirklich sehr unachtsam, vorgestern.“
„....aber ich muß Euch danken, denn sonst wäre ich kaum auf meinen Feind aufmerksam geworden, der mich aus dem Hinterhalt bedrohte.“
„Viel hätte es dir ohnehin nicht genutzt. Ein einzelner Mann könnte kaum etwas ausrichten gegen einen Angreifer wie diesen. Wärst du dagegen mit deiner wichtigsten Waffe gegürtet gewesen, hättest du allein dadurch die Bedrohung abgewehrt.“
„Ich tat also das Richtige, indem ich die Flucht ergriff?“
Der andere machte eine Geste der Gleichgültigkeit.
„Weit wärst du nicht gekommen. Aber zum Glück war ich ja da, und kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine andere Gestalt annehmen.“
Mit Bauchgrimmen erinnerte sich Hadhuin an die beiden einander überlagernden Schreie hinter seinem Rücken, als er Hals über Kopf davonrannte.
„Mir war, als hörte ich einen Eber“, mutmaßte er zögerlich.
„Dann wird es wohl ein Eber gewesen sein“, versetzte der andere und beugte sich vor, um wie zur Bestätigung eine Rippe aus der Seite des Wildbrets zu brechen. „Aber hörtest du nicht noch etwas anderes?“ fragte er genüßlich kauend, nachdem er es sich wieder behaglich gemacht hatte.
„Bei Gnidhrs verwachsenem Buckel, ich wollte, ich könnte es leugnen!“
„Ein gräßlicher Schrei, nicht wahr? Allein, daß du ihn hörtest, darin lag deine Rettung. Es bedeutete nämlich, daß ich der verwunschenen Kreatur die Seiten aufschlitzte und ihr das Herz aus dem Leib pflügte.“
„Ihr meint....“
Hadhuin deutete vage auf die aus dem Schädel des getöteten Ebers ragenden Hauer.
„So ist es. Nur daß meine noch um einiges mächtiger waren, das kann ich dir versichern.“
Verlegen kratzte sich Hadhuin im Nacken.
„Ihr eßt von einem Wesen, dessen Gestalt ihr kurz zuvor noch angenommen hattet?“
Gleichgültig schleuderte der Gefragte den abgenagten Knochen über die Schulter und leckte sich die Finger.
„Irgendwelche Einwände?“
„Nicht, solange es Euch nicht nach meinen eigenen Rippen gelüstet.“
„Und warum sonst sollte ich mir die Mühe machen, dich so fürsorglich zu mästen?“
Hadhuin hielt dem Blick des anderen stand und kämpfte, so gut er konnte, gegen den Lachreiz an. Seinem Gegenüber schien es nicht anders zu gehen. Hadhuin sah, wie sein Bauch immer heftiger bebte, bis sie schließlich beide fast im gleichen Moment brüllend aus sich heraus platzten.
Hadhuins Befürchtung erwies sich als begründet: als es vollends dunkel geworden war, legte sich ein Ring von Kälte um die Feuerstelle in der Felsnische. Der Nachthimmel war ein mit Kristallsplittern bestückter Baldachin. Hadhuin rieb sich die Hände unter seinem Überwurf und ging an seinen Platz zurück, wo ihn die von der Felswand reflektierte Wärme empfing.
„Wenn ich es recht verstehe“, nahm er das Gespräch wieder auf, „habt Ihr also noch im Sprung Eure Gestalt gewechselt....?“
„Eine bessere Möglichkeit, deinen Angreifer zu überraschen, hätte es kaum geben können. Ich fiel ihn sozusagen aus dem Nichts an.“
„Der Kampf kann nicht lange gedauert haben.“
„Bah, Kampf....“
„Ein sehr ungleicher, nehme ich an, wenn einer der Gegner unsterblich ist....“
„Täusche dich nicht: der andere ist es gewissermaßen auch. Er wird wiederkehren, und seine beiden Gefährten ebenfalls!“
„Sie.... starben auf die gleiche Weise?“
„Wenn man es so sagen will, ja. Zumindest auf eine sehr ähnliche. Morgen zeige ich dir, was von ihrer bisherigen Erscheinung übrigblieb.“
Mit diesen Worten wickelte sich Faghnar fester in seinen Umhang und rutschte ein Stück nach vorne, bis nur noch sein Kopf von dem Fels gestützt wurde.
„Aber jetzt leg dich schlafen! Bald wirst du dich auf den Weg machen und wieder auf dich alleine gestellt sein. Bis dahin sorge dich um nichts. Du weißt ja jetzt, unter wessen Schutz du stehst.“
Hadhuin war erneut müde geworden, weswegen er sich diesen Rat nicht zweimal erteilen ließ. Wenig später lag er wohlig in seine Felle vermummt und glitt sanft in einen tiefen, traumlosen Schlummer. Das Schnauben des Maultiers und das Knistern des Feuers, bewacht vom Feuergott selbst, waren das letzte was er an diesem Abend wahrnahm.
Bald nach Tagesanbruch schritten sie gemeinsam den Schauplatz des in jeder Hinsicht ungleichen Kampfes ab, bei dem drei mit übermenschlichen Kräften ausgestattete Angreifer eines unzureichend bewaffneten Mannes wiederum von einem einzelnen, aber deutlich überlegenen Verteidiger überrascht worden waren. Fast am Fuß des Berghangs angelangt, da wo er sanft zum Bachufer hin auslief, deutete Faghnar auf eine rot verfärbte Stelle am Boden.
„Eine Blutlache?“ fragte Hadhuin und schaute überrascht um sich. „Das ist alles?“
Faghnar nickte.
„Die Kreaturen, die dich angriffen, sind nicht körperlos. Aber fast.“
„Was verleiht ihnen Bestand, wenn nicht ihr Körper?“
„Ihr zielgerichteter Wille. Ihr blinder, durch nichts zu besänftigender Haß. Diese Wesen sind eigentlich tot. Einst waren sie gewöhnliche Menschen, so wie du; aber das ist länger her als die natürliche Zeitspanne eines menschlichen Lebens auch nur annähernd umfassen könnte....“
„Und dennoch bestehen sie fort? Wie ist das möglich?“
„Auf den Dhirunischen Feldern, wo sie weilten, vergeht die Zeit langsamer als hier. Viel langsamer.“
Hadhuin blickte seinen Begleiter an und war sich keineswegs sicher, ob er ihn richtig verstand.
„Sie sind Widergänger“, erklärte Faghnar weiter. „Purer Lebenswille, genährt aus dem brennenden Wunsch nach Rache. Ihre äußere Erscheinung kannst du einer Windhexe vergleichen: was du siehst, sind im Kreis herumwirbelnde Blätter, aber die treibende Kraft ist der Wind, ohne den sie wieder in sich zusammenfallen. Wo immer sich dieses Schauspiel wiederholt, ist es derselbe Wind, der es erzeugt. Wenn auch mit anderen Blättern, oder mit Staub, oder womit auch immer. So werden auch die von mir Getöteten zu einer neuen Körperlichkeit zurückfinden. – Komm, ich zeige dir die andere Kampfstätte!“
Jenseits des Bachbetts bot sich ihnen im Fichtenschatten, wo der erste Kampf stattgefunden hatte, genau das gleiche Bild. Mit dem einzigen Unterschied, daß die Blutlache hier kleiner war, denn sie stammte von einem, nicht zwei Angreifern. Hadhuin inspizierte sie eine Weile nachdenklich, mit einem Knie auf den Boden gestützt. Dann trat er hinaus auf die freie Lichtung und richtete suchend den Blick gen Himmel. Fahl, aber scharf umrissen zeichnete sich vor dem stählernen Blau das Halbrund des Mondes ab. Hadhuin fand es schwierig, den Anblick mit einer drohenden Gefahr in Verbindung zu bringen.
Es überraschte ihn nicht daß Faghnar, der neben ihn getreten war, seine Gedanken erriet.
„Der Mond ist kein Unheilbringer“, gab er zu bedenken. „Ghléan ruft dir nur in Erinnerung, daß sie einst die Tage und Nächte maß. Und wenn du klug und aufmerksam genug bist, ihren Haeldwyr gegenüber verzögerten Lauf zu beobachten, kannst du im Gegenteil das Unheil sogar meiden.“
„Was muß ich hierfür noch beherzigen?“
„Wärst du nicht im Besitz dieses Dolches, den ich einst für dich schmiedete, würde mein Rat so lauten: meide alles von Menschen nicht in Besitz genommene Land, wann immer der Mond darüber hingeht, gleich in welcher Phase, auch bei Neumond. Weiche nicht von den allseits genutzten Straßen und Wegen ab. Wo der Boden urbar gemacht ist, Zäune gezogen sind oder ein Herdfeuer brennt, dort bist du sicher. Mit der Waffe, die du von jetzt an immer bei dir tragen wirst, hast du jedoch nirgends etwas zu befürchten. Die Untoten sind blind ohne den Mond und empfindungslos gegenüber der Sonne, aber sie fürchten nichts mehr als Andrynemas Licht.“
Hadhuin betastete ungläubig den Griff seines seitlich gegürteten Dolchs.
„Du hast ihn – für mich geschmiedet?“
„Als ich dich vor gar nicht langer Zeit zum ersten Mal sah, wußte ich, ich würde dich brauchen. Denn wie ich schon zu einem Bekannten aus alten Tagen gesagt habe: seltsame Dinge gehen vor sich in der Welt. Seit gestern hast du eine ungefähre Vorstellung davon. Nun mußt du mir versprechen, daß du genau das tun wirst was ich dir sage, auch wenn dir vieles davon unverständlich erscheinen mag. – Komm, laß uns zurückgehen in dein Versteck; am Feuer ist besser plaudern, und ich habe dir noch einiges zu erklären. Zuvor gib mir aber ein letztes Mal dein Messer, ich will mir einen Stab aus der Esche dort schneiden, von der du schon die Zweige für deine Pfeile gebrochen hast....“
Schnee umtanzte Hadhuin, als er am darauffolgenden Tag Richtung Ebene zog, das bepackte Maultier hinter sich an einem groben Strick führend. Große, weiche Flocken schwebten vor dem Wind her, fielen aus dem aschfahl gewordenen Himmel in die Bäume, die ihnen die nackten Äste entgegenreckten und sie wie geöffnete Hände auffingen, als hätten sie den ganzen Winter auf nichts anderes gewartet.
So wurde die Welt allmählich von einem weißen, feinen, aber zusehends dicker werdenden Pelz überzogen. Es war so still, daß Hadhuin das Fallen des Schnees hören könnte, als er am Ufer eines seichten Bachs rastete. Neben ihm bogen sich die Ranken einer wilden Rose, die immer noch an der vorjährigen Last ihrer leuchtend roten, an der Spitze mit einem schwarzen Tupfer versehenen Früchte trug. Sachte häufte sich kristalliner Flaum darauf, begleitet von einem kaum wahrnehmbaren, richtungslosen, allgegenwärtigen Flüstern. Selbstvergessen träumte der Wald und lauschte in sich hinein. Hadhuin tat es ihm gleich. Er saß am Grund eines schmalen Tals im Schutz ausladender Eichen und fühlte sich sicher. Für kurze Zeit gestattete er es sich, seine Aufmerksamkeit schweifen zu lassen und auf nichts bestimmtes zu richten.
Das Leben war eine seltsame Angelegenheit. Seine Anfänge verloren sich im Nebel des Vergessens, seine Spur führte ins Nichts und der Schatten der Unwissenheit begrenzte es von allen Seiten. Sein Dasein als Sklave war das einzige, was Hadhuin kannte. Er konnte sich weder an Vater noch Mutter erinnern. Irgendwann fand er sich wieder im Fluß des Lebens, als Kind, aber wie er hineingelangt war, wußte er nicht. Niemand hatte es ihm je verraten.
Auch nicht der Gott, der sich ihm plötzlich offenbart hatte, der vor ihn getreten war, ohne daß er ihn je beschworen hätte, im Gegensatz zu den vielen anderen Göttern und Göttinnen, die er in seinem Leben schon um Beistand angerufen hatte. Sie alle hüllten sich in Unsichtbarkeit und Schweigen, aber als er am wenigsten darauf gefaßt war, hatte er auf einmal Faghnar an seiner Seite, den Wanderer, den Feuerdieb, der den Drachen beschlich, unsterblicher Unheilstifter und Beschützer der Menschen. Jetzt wußte er, daß all sein Tun und Handeln an die Beschlüsse dieses Gottes geknüpft waren, daß sogar die Entscheidungen, die er selbst getroffen zu haben meinte, von ihm provoziert worden waren. Und das war im Grunde auch schon alles, was er wußte.
Warum gerade er? Auch darüber hatte der Gott nichts verlauten lassen. Ihm blieb nichts, als sich zu fügen. Und sich zu fragen, ob er von sich aus je seinen Herrn in Kadhlynaegh verlassen hätte, wäre es nicht zuvor – ohne sein Wissen! – zu einer Begegnung mit Faghnar gekommen. Andererseits: war es von Belang? Daß der Gott ihn ausersehen hatte, ihn unter allen Freien und Unfreien, war es nicht Auszeichnung genug? Hätte Faghnar den Wunsch nach Freiheit in die Brust eines Schwächlings gesetzt? Mit Sicherheit nicht. Hadhuin war überzeugt: wenn er jetzt alleine und ganz auf sich gestellt die winterliche Wildnis durchstreifte, dann nur weil es seinem innersten Wesen entsprach. Er mußte irrtümlich in den Sklavenstand geboren worden sein, denn Bridhna hatte ihm das Herz eines Kriegers mitgegeben.
Das Schlagen ungeduldiger Flügel riß ihn aus seiner Grübelei. Mit schnarrender Stimme erhob sich ein Rabe aus dem Geäst über ihm, zog eine Schleife über den Baumkronen und nahm dann eine Richtung auf, die Hadhuins bisherigen Weg mit einer leichten Wendung nach Nordosten fortzusetzen schien. Das war das vereinbarte Zeichen. Faghnar hatte ihn angewiesen, dem ersten Raben zu folgen den er zu sehen bekäme. Ohne weitere Verzögerung nahm Hadhuin seinen Marsch wieder auf.
Zunächst folgte er dem Bachlauf. Der Flug des Raben hatte in schnurgerader Linie die Bergflanke gekreuzt, die Hadhuins Einschätzung nach von dem Bach in einer ausladenden Biegung umrundet wurde. Dies entsprach nicht ganz den Gegebenheiten, wie sich herausstellte, denn an einem Punkt, der vom Rastplatz aus nicht einsehbar gewesen war, folgte das Wasser der Geländeneigung mit einer scharfen Wendung nach rechts. Sein Lauf war schmal genug, daß Hadhuin mit einem beherzten Sprung übersetzen konnte. Dabei glitt ihm das Seil aus der Hand, an dem er das Maultier führte, aber die Stute folgte ihm bereitwillig. Nun ließ er das Bachbett hinter sich und hielt auf der rückwärtigen Flanke auf den tiefsten Punkt zwischen dieser und der benachbarten Bergkuppe zu.
Der Schnee fiel unterdessen immer dichter. Als das Gelände sanft auslief und sich abwärts zu neigen begann, zeichnete sich hinter den Baumstämmen ein langgezogener Bergkamm ab, wobei die unregelmäßige, von blattlosen, beschneiten Baumkronen gebildete Linie in dem alles gleichmachenden Weiß nur schwer zu erkennen war. Der davor hingebreitete, lichte Talgrund schien ungewöhnlich glatt und eben. Schneegestöber wirbelten darüber hin wie plündernde Horden, getrieben von einem eisigen Wind, der erbarmungslos in die ungeschützt daliegende Talschneise einfiel. Hadhuin mußte unwillkürlich an das Gleichnis denken, mit dessen Hilfe ihm Faghnar die wandelbare Körperlichkeit der Untoten erklärt hatte, und griff verstohlen in Hüftnähe nach seiner Waffe, seinem Talisman.
Er wußte, daß sein Weg ihn rechts herum führen würde, und genau so bestätigte es ihm der Flug des Raben. Als hätte er nur darauf gewartet, ihm das Zeichen geben zu können, kam der Vogel die Talschneise entlanggeflogen, sich mit kräftigen Flügelschlägen gegen den Wind stemmend. Mit seinem kohlschwarzen Gefieder war er selbst im dichtesten Schnee nicht zu übersehen. Er zog seine Bahn fast auf Bodenhöhe, was Hadhuin als Hinweis deutete, seinen Marsch am Talgrund fortzusetzen statt auf halber Berghöhe.
Unten angekommen, griff Hadhuin nach einem langen, abgebrochenen Aststück, das er aus dem frischen Schnee ragen sah, und näherte sich dem Rand der weißen, ausgedehnten Fläche, die den größeren Teil des Tals einnahm. Sie grenzte sich entlang einer großzügig geschwungenen Linie gegen die sanfte Böschung ab, in deren Nähe sie büschelweise von steifgefrorenem Rohr durchstoßen wurde. Prüfend ließ Hadhuin das dünnere Ende des Asts darübergleiten, und schon unter dem geringsten Druck begann die Eisdecke nachzugeben. Knackend verzweigten sich Risse, aus denen das Wasser des darunterliegenden Sees an die Oberfläche trat.
Hadhuin hielt sich nach rechts, am Ufer entlang, und benutzte den Ast fortan als Wanderstab. Eiskalter Wind schnitt ihm ins Gesicht, und mehrmals mußte er sich mit dem weiten Ärmel seines Überwurfs Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Fluchend stapfte er voran und tat sein möglichstes, dem dichten Geäst des Unterholzes auszuweichen. Die Stute trottete ihm geduldig hinterher und schüttelte sich hin und wieder den Schnee aus der Mähne. Er war froh, ihr Schnauben zu hören; es bedeutete ihm Leben, Wärme und Zugehörigkeit und war das einzige, was ihm inmitten der winterlichen Ödnis Trost und Hoffnung spendete.
Bis er wieder das Krächzen des Raben hörte. Hadhuin hob gerade noch rechtzeitig den Blick, um ihn aus dem Geäst über ihm davonfliegen zu sehen, geradewegs aus der Talschneise heraus auf einen Bergrücken zu, der sich in der Ferne wie ein dunkles Bollwerk erhob. Ohne recht zu wissen, warum, hatte Hadhuin es plötzlich eilig; bald würde es dämmern, ja, aber welche Zuflucht durfte er hoffen zu erreichen, ehe die Nacht hereinbrach? Er wandte sich vom Ufer des Sees ab, den er etwa zu einem Viertel umrundet hatte, und machte eine Anstrengung, seinen Schritt zu beschleunigen.
Der Berg vor ihm stemmte sich in den Horizont, als hätte er die Last der Himmelskuppel zu tragen. Er schien nicht viel höher zu sein als die Berge der Umgegend, dafür jedoch umso breiter und massiger. Als der Waldboden allmählich anzusteigen begann, nahm Hadhuin den Hang weitaus gedehnter wahr als die Bergflanken, die er auf seiner Wanderung bisher beschritten hatte.
Er ging jetzt im Windschatten, aber die bittere Kälte wurde dadurch kaum gemildert. Der Schneefall hatte indessen nachgelassen, nur wenige Flocken wirbelten noch um die nackten Stämme herum. Die Bäume standen umso dichter, je weiter er das langgezogene Tal hinter sich ließ, und zu Beginn machte er sich noch vor, daß daher auch das vage Zwielicht käme. Immer wieder schickte er bange, prüfende Blicke durch das Astgewirr über ihm, bis es irgendwann nicht mehr zu leugnen war: das Grau, das vom dünnen Gestänge der Baumkronen wie ein Baldachin getragen wurde, hatte sich um eine Spur verdunkelt.
Und mit einem Mal wurde er von einer Hoffnungslosigkeit befallen, wie er sie seit Beginn seiner Flucht nicht gekannt hatte. Was war er nur für ein Narr: sein sicheres Waldversteck zu verlassen und im Schnee einem Raben hinterherzulaufen, weil irgendein Unbekannter sich als Feuergott auszugeben verstand! Wie hatte er so dumm sein können, auf solch eine Hochstapelei hereinzufallen? Wie konnte er nur den unsinnigen Anweisungen eines Fremden Folge leisten? Er, Hadhuin, geboren in den Stand der Sklaven und ausgezogen, ein Krieger zu werden? Fast hätte er seine Bitternis laut hinausgelacht. Und was hieß das überhaupt, einen Raben zu verfolgen? Wie konnte er sicher sein, daß es nicht jedesmal ein anderer war? Als gäbe es nicht genug Aasvögel in der Welt.
Dämmerung senkte sich herab, langsam, aber unerbittlich, die schattenhafte Vorbotin der Nacht. Sie durchwirkte den trüben Winterhimmel und sickerte durch das kahle Geäst, verwob das Licht mit dem Dunkel, gab dem Wolf die Gestalt eines Hundes. Und umgekehrt. Hadhuin lief keuchend weiter bergan, aus Verzweiflung. Er lief bergan, wie er in die Gegenrichtung hätte laufen können, das eine machte so wenig Sinn wie das andere. Oben erwartete ihn der gleiche eisige Wind, der ihm im Tal schon das Gesicht zerschnitten hatte. Hadhuin lief, weil es auch keinen Sinn machte, stehenzubleiben. Er lief und lief, wie er glaubte, immer geradeaus und in Flugrichtung des Raben, den er schon seit geraumer Zeit weder gesehen noch gehört hatte. Trotz aller Kälte rann Schweiß aus seinen Achselhöhlen. Er hörte sich japsen und fürchtete, er würde den Verstand verlieren, oder den Mächten der höllischen Finsternis anheimfallen, oder beides. Er lief, ohne zu wissen warum, geschweige denn, wohin. Dabei verfluchte er den angeblichen Gott und seine Zauberkunststücke, mit denen er ihn geblendet hatte, und ebenso die wahren Götter, die ihm sein erbärmliches Schicksal aufgebürdet hatten. Aber vor allem verfluchte er sich selbst für seine Dummheit. Als er von links einen Schatten schräg an sich vorbeiziehen sah, ließ er ohne zu überlegen den Wanderstab fallen, ebenso den Strick, an dem er das Lasttier führte, und griff nach seinem Dolch. Angespannt lauschte er in die Dämmerung. Als weiter nichts geschah, fragte er sich, ob ihm wohl seine Augen einen Streich gespielt hatten. Oder ob er wirklich langsam verrückt zu werden begann. Vorsichtig ging er weiter; den Dolch in der erhobenen, zum Zustoßen bereiten Rechten, tastete er sich Schritt für Schritt auf einen breiten Schatten zu, der aus dem Halbdunkel wuchs und sich wie ein Gürtel über die Bergflanke zog.
Erst als er dicht davorstand, sah er, daß es ein Palisadenwall war.
Er hatte gerade genug Zeit, tief Luft zu schöpfen, ehe über seinem Kopf ein durchdringender Schrei ausgestoßen wurde. Zu Tode erschrocken sprang Hadhuin zwei Schritte rückwärts, obwohl er vom ersten Moment an wußte: es war der Rabe.
Kraftlos und erschöpft ließ er die abwehrbereit erhobenen Arme sinken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Rabe schnarrte noch einmal von seinem Palisadensitz herunter, dann hörte er Flügelschläge, die sich nach rechts entfernten. Zitternd und unsicher ging er auf die Stelle zu, wo sich das Tier flatternd wieder niedergelassen hatte, wenn ihn sein Sinn nicht täuschte. Und fand, nachdem er einige Schritte getan hatte, die Palisadenreihe mitsamt der sie stützenden Erdaufschüttung durchbrochen.
Ein Tor war es keins, so viel konnte er gerade noch erkennen. Die größtenteils angespitzten Pfähle waren gewaltsam niedergerissen worden. Auch der massige Wall aus Erde und Geröll war abgetragen, so daß er eine keilförmige Öffnung bildete. Hadhuin drehte sich um und pfiff nach dem Maultier, das hangabwärts stehengeblieben war. Wenige Augenblicke später führte er es am Strick in die ehemalige, längst nutzlos gewordene Befestigungsanlage hinein, hie und da Steine und Holzsplitter aus dem Weg kickend. Irgendwo hinter sich hörte er den Raben aufflattern und davonfliegen.
Der Schnee erwies sich jetzt als vorteilhaft, da er ihn wenigstens schemenhaft die innerhalb des Ringwalls gelegenen Gebäude erkennen ließ: als gedrungene Schatten zeichneten sie sich vor dem in der Höhe allmählich verflachenden Hang ab, denn die weiße Decke, die ihn überzog, fing auch noch den allerletzten Rest von Tageslicht ein. Hadhuin hatte nur einen Gedanken: einen Unterschlupf zu finden, in dem er die Nacht zubringen konnte. Möglichst an einem wärmenden Feuer. Ohne zu überlegen, stapfte er auf den erstbesten der aus dem Schnee ragenden Blockbauten zu. Der Eingang befand sich gleich auf der ihm zugewandten Seite. Die Tür hing schräg in der oberen Angel, da die untere aus dem Pfosten gerissen war, und mit Mühe gelang es ihm, sie halb offen zu stemmen.
Drinnen roch es modrig und nach Schimmel, durchsetzt von irgendetwas weiterem, unbestimmbaren. Angewidert wehrte er einige Spinnweben ab, die ihm unmittelbar hinter dem Eingang ins Gesicht hingen. Während er sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten durch den scheinbar leeren Raum tastete, bemerkte er Zugluft und versuchte, ihre Richtung zu bestimmen. Insgeheim hoffte er, die Öffnung befände sich irgendwo an dem niedrigen Dach, was sie als Rauchfang ideal gemacht hätte. Nachdem er sieben oder acht Schritte in den Bau vorgedrungen war, befand er den Boden immer noch glatt und eben, scheinbar aus gestampftem Lehm. Dem Echo seiner Schritte nach zu urteilen, schien der Raum leer zu sein, und die gegenüberliegende Wand glaubte er ebenso viele Schritte entfernt, wie er von der Türschwelle aus bereits zurückgelegt hatte. Und dann sah er es: ein kleines Rechteck, fast genau gegenüber der Tür. Als wäre es aus der Dunkelheit herausgeschnitten worden, so daß man das gerade noch wahrnehmbare Zwielicht dahinter sehen konnte. Also keine Luke oder schadhafte Stelle im Dach, durch die der Rauch nach oben abziehen würde. Dennoch, sagte ihm sein prüfender Verstand, sollte ein an der richtigen Stelle entzündetes kleines Feuer keine Schwierigkeiten bereiten.
Also suchte er sich draußen an Holz zusammen, was er finden konnte. Zunächst stöberte er im Schnee nach heruntergefallenen Ästen, und brach dann verschieden große Stücke aus dem morschen Pfahlholz. All das schleppte er eilends in das gerade erkundete Nebengebäude. Auch von dem beim Brechen der Palisaden entstandenen Splitterholz sammelte er so viel wie möglich auf. Er war weitsichtig genug gewesen, schon zu Beginn seiner Wanderung heute morgen dünnes Reisig zusammenzutragen, und mit den Bruchsplittern vermengt schien es ihm zum Feuermachen noch besser geeignet. Im Übrigen hatte er darauf vertraut, sich am zur gegebenen Zeit gewählten Nachtlagerplatz mit Scheitholz eindecken zu können, und die Stute mit zusätzlicher Last verschont.
Als er das Tier endlich von seiner Bürde befreien konnte, war es fast stockfinstere Nacht. Die Ausrüstung war mit Überlegung gepackt, und so kostete es ihn jetzt wenig Mühe, sich an die Feuerutensilien heranzutasten.
Was ihn überraschte war die Leichtigkeit, mit der es ihm gelang das zusammengetragene Holz zu entzünden. Allerdings hatte er es so hinter der Tür aufgeschichtet, daß es den Luftzug abbekommen mußte, der seine Wirkung offenbar nicht verfehlte. Als die Flammen aufzulodern begannen, fächelte er mit den Händen dicken Rauch von sich und plazierte den Vorrat an Holz für die Nacht nahe genug an den Flammen, daß es abtrocknen konnte. Dann ging er nach draußen, um die Stute zu füttern.
Er schnürte den noch etwas mehr als zur Hälfte vollen Hafersack auf und lehnte ihn an die Wand aus verschränkten Balken, rechts neben der Tür, durch deren Spalt der flackernde Lichtschein des Feuers drang. Die Stute näherte sich vorsichtig schnuppernd, mit vorgestrecktem Kopf, konnte sich aber scheinbar nicht zum Fressen entschließen. Stattdessen scharrte sie kurz mit dem Huf und schüttelte mit einem mißbilligenden Schnauben die Mähne. Verwundert ließ sich Hadhuin ein paar Hände voll des Getreides durch die Finger gleiten, roch daran, prüfte die Körner mit den Lippen, konnte aber nichts absonderliches feststellen. Das Maultier hatte sich derweil abgewandt, pflügte mit geblähten Nüstern über den Boden und begann schließlich Schnee zu fressen, wobei es sich mehr und mehr in die Dunkelheit entfernte. Hadhuin schaute ihm hinterher, kratzte sich den Nacken und betrat dann kopfschüttelnd seine Nachtbehausung.
Er verschloß nach bestem Vermögen die prekär in ihrer Angel hängende Tür und stützte sie mit einem kräftigen Ast. Dann ließ er sich, endlich! auf die am Boden ausgebreiteten Felle nieder und seufzte mit einem Gefühl unaussprechlicher Dankbarkeit. So blieb er eine Weile mit untergeschlagenen Beinen sitzen und rieb sich die durchgefrorenen Hände, eher er sich mit Heißhunger über sein Nachtmahl hermachte.
Sein Proviant war ansehnlich; allein was von dem Eber an gebratenem Fleisch übrig geblieben war, würde noch für viele Tage vorhalten. Gierig begann er eine Portion zu verschlingen, die er zum Anwärmen am Rand des Feuers auf sein umgestülptes Kochgefäß gelegt hatte. Dazu brach er sich große Stücke Brot aus einem ebenfalls bereitgelegten Laib und stopfte sie hinterher. Hin und wieder nippte er am Schafsbalg und gedachte seines Beschützers, des Feuergottes, von dessen Wahrhaftigkeit er mittlerweile wieder überzeugt war. Aller Groll war verflogen, und er empfand aufrichtige Reue über seine eigene Wankelmütigkeit.
Der Geschmack der vergorenen Milch war ihm innerhalb kürzester Zeit lieb geworden. Dabei blieb es, auch nachdem er gestern abend zum ersten Mal gesehen hatte, wie die Fermentierung vonstatten ging. Er traf gerade mit Faghnars Hilfe die letzten Reisevorbereitungen, oben in seinem Felsversteck, als dieser den Schafsbalg nahm, ihn öffnete und kräftig in die Milch spuckte.
Es war die letzte gewesen. Hadhuin hatte sie mit Mühe abgemolken, und es war klar, daß es so schnell keine mehr geben würde. Zumindest nicht, ehe das Tier erneut gefohlt hätte. Faghnar verschloß den Balg wieder und begann ihn zu schütteln. Dabei hatte er einmal mehr diese Miene aufgesetzt, die Hadhuin schon so gut kannte: der Blick leicht verengt, dazu das vage zu erahnende Kräuseln der Lippen unter dem stahlgrauen Bartgestrüpp, und ein Blitzen, das zu verkünden schien: Ich weiß, was gerade in dir vorgeht, Junge! Schließlich legte er den Schafsbalg nahe am Feuer ab und sagte:
„Morgen früh binden wir ihn dem Maultier so auf, daß er auf einer seiner Flanken zu liegen kommt, und decken ihn gut zu. Wenn die Milch während des Marschs tüchtig geschüttelt wird und nicht zu sehr abkühlt, hast du morgen abend wieder deinen gewohnten Schlaftrunk.“ Hadhuin verspürte ein frostiges Kribbeln, daß sich von der Schulter bis an den Fersballen zog. Als wäre seine ganze linke Körperhälfte von einer Schicht Raureif bedeckt.
So ging es ihm jedesmal, wenn er diesen Blick ertragen mußte.
Er erwachte im Morgengrauen von einem Pickgeräusch, draußen vor der Balkenwand. Ohne weiteres konnte Hadhuin bestimmen, wovon es verursacht wurde, nämlich von einem Schnabel, der in kurzer Abfolge in eine große Menge Getreidekörner stieß.
Er öffnete langsam die Augen und blickte in Glut und Asche. Dünner Rauch stieg daraus auf. Ein verkohlter, leise vor sich hin glimmender Palisadenstumpf ragte dicht an die Feuerstelle heran. Hadhuin hatte den massigen Pfahl so gelegt, daß er zum Brennen nachgeschoben, und das Feuer zugleich vom Boden her mit kleineren Scheiten aufgefüttert werden konnte.
Er stemmte mit dem rechten Ellbogen den Oberkörper halb in die Höhe, gähnte und streckte sich ausgiebig. Obwohl er geschlafen hatte wie ein Stein und sich frisch und ausgeruht fühlte, mußte er noch mehrmals gähnen und sich die Augen reiben. Schließlich warf er die Felldecke von sich ab, kniete sich hin, scharrte alles noch verbliebene Holz zusammen und häufte es auf die verbliebene Glut, die er mit einer Astgabel aufstocherte. Mit langsamen, gleichmäßigen Atemstößen blies er das Feuer an und freute sich am Fauchen der Glut, die durch den auftreffenden Luftstrom entfacht wurde.
Bald flackerte und knackte es an der Feuerstelle wieder wie in der vergangenen Nacht, und um sie herum verbreitete sich Wärme. Hadhuin schob von der Fensterseite her den angekokelten Pfahl in die Flammen, löste die Tür aus ihrer notdürftigen Stütze und trat in die kalte Morgenluft hinaus, um zu urinieren.
Der Rabe ließ sich bei seinem Frühstück nicht im Geringsten stören. Unverdrossen krümmte er die Krallen in den umgekrempelten Sackrand und ließ den schwarzen Schnabel in den Hafer schnellen, daß die Körner nur so aufspritzten. Hadhuin beschritt die über Nacht verharschte Schneedecke und schaute sich in der alten Bergfestung um, die vor langer Zeit verlassen worden sein mußte. Sie schien groß angelegt, der Ringwall zog sich jedenfalls weit hin. Hadhuin folgte ihm mit dem Blick, bis er sich zwischen den Bäumen verlor. Der Wald behauptete sein Recht und hatte längst begonnen, das einstmals gerodete Gelände wieder einzunehmen, aber viele der alten Festungsgebäude – wie das, in dem er letzte Nacht Unterschlupf gefunden hatte – trotzten der Überwucherung mehr oder weniger unversehrt. Bei einigen waren die Außenmauern halbhoch aus Stein gemauert.
Hadhuin zweifelte nicht, daß die Festung noch aus der Zeit der Eroberungszüge gegen die Laeghtrimar stammte, und das erfüllte ihn, der sich als Anwärter auf das Kriegertum verstand, mit Ehrfurcht. Zweifellos war es ein Außenposten gewesen, denn bis auf den heutigen Tag siedelten die Vandrimar hier nur vereinzelt. Wenn überhaupt. Hadhuin hatte eine ungenaue Vorstellung, wo er sich befand, wenngleich er ahnte, daß es bis in die Ebene nicht mehr weit sein konnte. Aber auch dort fand man umso weniger Bewohner, je weiter man nach Norden zog.
Schließlich nahm er die Hufspur des Maultiers auf und gelangte zu einem halb verfallenen Unterstand, wo es offensichtlich die Nacht zugebracht hatte. Von dort wiederum führte ihn die Spur aus der Festung hinaus, auf dem gleichen Weg wie er sie gestern betreten hatte. Nicht weit von den Palisaden entfernt sah er, wie es an der Rinde einer Birke nagte. Daß es ihn entgegen seiner sonstigen Gewohnheit mit keiner Art von Begrüßung bedachte, wunderte ihn kaum; schließlich mußte es hungrig sein, da es den Hafer seit der Ankunft gestern Abend nicht angerührt zu haben schien, aus welchem Grund auch immer. Hadhuin bückte sich nach dem erstbesten Ast, auf den er trat, und begann Nachschub für das Brennholz auf seine linke Armbeuge zu häufen.
Zurück in seiner Unterkunft, ließ er die Scheite neben der Feuerstelle auf den Lehmboden poltern. Dann verrammelte er die Tür hinter sich und ging in die Hocke um Holz nachzulegen, mit dem Rücken zum Eingang.
Und erst jetzt nahm er das Augenpaar wahr, das aus der hintersten Ecke des Raums zu ihm herüberspähte.
Langsam ließ er die linke Hand sinken, die er über dem Holzhaufen ausgestreckt hatte, und vermied jede abrupte Bewegung ebenso wie direkten Blickkontakt. Nach und nach zeichneten sich über den Augen zwei spitz zulaufende Ohren ab, die mit der langen, abwärtsgerichteten Schnauze so etwas wie ein schlankes Dreieck bildeten. Es wurde von zottigen Pelzhaaren eingerahmt, wie Hadhuin im flackernden Widerschein erkannte, und die schwarze Nasenspitze war ein weiteres kleines Dreieck, an dem das Raubtiergesicht keilförmig zusammenlief. Eine Zeitlang blieb alles regungslos, aber die runden Pupillen verrieten Leben. Spätestens als die Zunge zwischen den Fängen hervorkam und verstohlen über die Nase leckte, war er sicher: dort im Halbdunkel kauerte ein Wolf. Hadhuin setzte sich mit untergeschlagenen Beinen, als hätte er nichts bemerkt, und kümmerte sich um das Feuer, mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen.
Der Wolf beobachtete ihn regungslos.
Zeit verstrich. Glut wurde zu Asche. Als er es endlich nicht mehr vermeiden konnte, den Augen des Raubtiers zu begegnen, blickte es scheu zur Seite und legte den Kopf auf die Vorderpfoten. Hadhuin, der es vorzog seinen jetzigen Sitzplatz beizubehalten, zog sich eines der Felle herüber.
Das war also der Grund gewesen, warum das Maultier vor der Holzwand zurückwich und nicht aus dem darangelehnten Hafersack fressen mochte: es witterte den Wolf durch die Ritzen. Während er selbst sich anschickte, die Unterkunft mit ihm zu teilen. Widerwillig machte er sich mit dem Gedanken vertraut, die ganze Nacht tief und fest mit dem Rücken zu dem Grauen geschlafen zu haben, sorglos wie ein Kind. Er wußte nicht, ob er darüber wütend werden oder sich schämen sollte. Einen Moment lang sah es so aus, als würde seine Stimmung umkippen und ihn haßerfüllt einen Pfeil auf das Tier abschießen lassen (Faghnar hatte die blanken Schäfte für ihn mit gewundenen Eisenspitzen versehen), aber ein widerstreitendes Gefühl ermahnte ihn, sich zu beherrschen. Was für ein Gefühl dies war, hätte er nicht zu sagen vermocht. Aber wahrscheinlich hatte es damit zu tun, daß er in dem von der Gesellschaft des Rudels ausgeschlossenen Tier eine Art Schicksalsgefährten, wenn nicht Bruder im Waffengang erkannte.
Er verbrachte noch den ganzen Tag in der alten Festung und in Gesellschaft des Wolfes. Diesen wie auch den darauffolgenden.
Es schneite und wollte nicht mehr aufhören zu schneien. Hadhuin ließ den äußersten östlichen Ausläufer des Festungsbergs hinter sich, der, wie er vermutet hatte, die Ebene begrenzte. Kniehoch sackte er in den Pulverschnee ein, der vom Himmel fiel als hätte Bhrygia ihn den ganzen Winter gehortet, um ihn jetzt sackweise über der Welt auszuschütten und sie darunter zu begraben. Es war ein mühseliger, beschwerlicher Marsch, für das Maultier unter seiner Last noch mehr als für ihn selbst. Dabei machte es keinerlei Anstalten, widerspenstig zu werden. Stoisch setzte es einen Huftritt vor den anderen, hielt mit Wimperschlägen den Schnee von den geduldigen, braunen Augen fern und schüttelte hin und wieder die Mähne. Aber nicht das geringste Anzeichen von Protest. Hadhuin selbst war heute Morgen nur äußerst widerwillig aufgebrochen. Der Rabe hatte ihn dazu gebracht, der seit der frühesten Dämmerung nicht müde wurde, krächzend von Baum zu Baum zu flattern. Und das, nachdem er sich seit vorgestern Morgen überhaupt nicht mehr hatte sehen lassen. Wie gerne hätte Hadhuin einen weiteren Tag in seinem neuen Versteck zugebracht, in dem er sich angesichts der seit zwei Tagen fast unaufhörlich fallenden Schneemassen gerade recht behaglich zu fühlen begann. Aber der Schwarzgefiederte ließ ihm keine Ruhe.
In einiger Entfernung folgte ihnen der Wolf. Hadhuin wußte es, ohne sich weiter nach ihm umzudrehen, und ließ ihn gewähren. Nicht daß er ihn während der zwei Tage gemeinsamen Ausharrens gezähmt hätte, und wahrscheinlich würde ihm das auch nie ganz gelingen. Aber zum Freund hatte er sich ihn gemacht, dessen war er gewiß. Das Tier hinkte leicht, was sicher der Grund dafür war, daß es vom Rudel ausgeschlossen wurde. Hadhuin fand es sehr abgemagert, und er fragte sich, ob es sich etwa zum Sterben an diesen einsamen Ort zurückgezogen hatte. Alt schien es nicht zu sein, das Hinken war wahrscheinlich auf eine Verletzung zurückzuführen.
Eine Annäherung auf weniger als fünf Schritte ließ der Graue nicht zu, wie Hadhuin schnell herausfand. Ob er wirklich nur den Tod erwartete? Wenn ja, was hatte er dann von ihm zu befürchten, außer daß dieser beschleunigt würde? Hadhuin fand es unmöglich, sich in die Gemütslage eines verletzten Wolfs hineinzuversetzen, und respektierte die zähnefletschend und mit gesträubtem Nackenfell eingeforderte Distanz. Auch, als er einen toten Hasen vor ihm ablegte, der – endlich! – seine erste eigenhändig mit Pfeil und Bogen erlegte Beute war, gegen Ende des ersten in der Festung zugebrachten Tages. Der Wolf schenkte der großzügigen Gabe keine Beachtung, jedenfalls nicht solange ihn Hadhuin von der Feuerstelle aus beobachtete. Erst spät in der Nacht weckte ihn, sehr zu seiner Befriedigung, das Knacken zerkauter Knochen aus seinem nurmehr leichten Schlummer.
Wald. Überall Wald. Vor ihm wie hinter ihm und in alle Himmelsrichtungen erstreckte sich eine endlose Heerschar von Bäumen, die ihre Äste wie drohende Krieger ihre Arme in den Himmel reckten. Daß das Gelände zunehmend verflachte, machte es nur unübersichtlicher. Hadhuins Mißmut wuchs, und ebenso seine Wachsamkeit. Er zuckte zusammen, sooft der Rabe aus einer Hecke oder Baumkrone aufflatterte, nur um nach seinem Weiterflug sehnsüchtig nach ihm Ausschau zu halten. Denn wer, wenn nicht Faghnars Bote, sollte ihn auf seiner unfreiwilligen Wanderung irgendeinem Ziel entgegenführen?
Er hatte längst die letzte, sanfte Erderhebung hinter sich gelassen als er merkte, daß er den Raben länger vermißte als üblich. Das mußte nicht notwendigerweise etwas schlechtes bedeuten; vor drei Tagen war die längere Abwesenheit seines geflügelten Kundschafters unmittelbar seiner Ankunft in der verlassenen Bergfestung vorausgegangen. Zunächst sah er keinen Grund, warum er sie nicht auch jetzt als Anzeichen deuten sollte, daß er sich auf dem richtigen Weg befand.
Aber was, wenn dem Vogel etwas zugestoßen war?
Ausgeschlossen. Dies war keine gewöhnliche Krähe, sondern ein Bote des Feuergottes.
Wenn er fraß, sah er aber sehr gewöhnlich und gar nicht göttlich aus.
Und wenn schon. Hatte nicht Faghnar in höchsteigener Person sein Mahl am Feuer geteilt?
Ja, das hatte er, Faghnar, den andere Rakhmyr nannten, ein zielloser Wanderer wie er selbst, ein Ausgestoßener wie der lahme Wolf, der sich auf seine Fersen heftete. Verbannt unter die Sterblichen, aß, trank und schlief er wie einer der ihren.
Und schlemmten nicht auch die anderen Götter? Schliefen ihre Räusche aus? Trieben Unzucht?
So sagte man, allerdings. Was Wunder, daß sie die Welt wie ein Hurenhaus regierten....
Wenn es auch unvermindert weiterschneite, lag hier unten in der Tiefebene nicht ganz so viel Schnee wie im Gebirge, das er hinter sich gelassen hatte. Dagegen war der Baumbestand eher noch dichter. Hadhuin schickte den Blick entlang gerader, hoch aufgeschossener Stämme in die weitverzweigten Kronen, die ein im Sommer sehr dichtes und geschlossenes Laubdach vermuten ließen. Kiefern und sonstige Nadelgehölze waren fast gar keine mehr vorhanden. Mit jedem Schritt fühlte Hadhuin sich unwohler. Der Bergwald hatte ihm Zuflucht geboten, ihn gegen mögliche Verfolger abgeschirmt, aber in der Ebene wähnte er sich hilflos und ausgeliefert. Hinter jedem Baum, unter jedem Strauch schien eine Bedrohung zu lauern.
Warum? Warum nur hatte er diesen Marsch ins Ungewisse auf sich genommen?
Weil er es nicht wagte, dem Feuergott zu widersprechen.
Das Gehen war auf dem ebenen Gelände etwas leichter geworden; dennoch begann Hadhuin, der seit dem frühen Morgen unterwegs war, Müdigkeit und Erschöpfung zu verspüren. Zudem begann der Hunger zu nagen, aber er gönnte sich keinen Halt. Unruhe trieb ihn voran, ließ ihn sich nicht das bißchen Zeit nehmen, ein Stück Brot aus dem Proviantsack zu holen, damit er es im Gehen mümmeln konnte. Um wenigstens den Durst zu stillen, stopfte er sich hin wieder eine Handvoll Schnee in den Mund.
So senkte sich allmählich der Nachmittag herab, Vorbote des Abends und der Dämmerung, und somit indirekter Vorbote der Nacht.
Irgendwo vor ihm lag der Bhréandyr, wälzte sich wie eine Schlange durch endlose Wälder einer unbekannten Küste entgegen. Er fragte sich, wie weit es noch sein mochte, und vor allem: was würde er tun, wenn er das Ufer erreichte? Übersetzen? Wohl kaum. Daß fast am äußersten Rand des bewohnten Teils der Ebene ein Fährmann auf ihn wartete, konnte er nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Wohin würde er sich also wenden, flußaufwärts oder flußabwärts? Das erstere würde ihn tiefer in die besiedelten Gebiete hinein führen, und solange er als flüchtiger Sklave erkennbar war, blieb diese Möglichkeit ausgeschlossen. Also flußabwärts. Aber welches Versteck würde er dort wohl finden? Wieder eine aufgegebene Festung, die seinetwegen dem Verfall trotzte?
Schließlich blieb er doch stehen.
Er war an einen Ort gekommen, vor dem die Bäume etwas zurückstanden. Ihn eine Lichtung zu nennen, wäre fast eine Übertreibung gewesen. Ein Schwarzdorn nahm einen Teil davon ein, und seine Zweige bogen sich unter der Last des Schnees, der unvermindert auf ihn herabfiel.
Und dann sah Hadhuin die frische Spur von Vogelfüßen, die von ihm wegführte. Er wandte sich nach rechts, um die Fährte aufzunehmen.
Sie schlängelte sich ein ganzes Stück weit zwischen den Bäumen hindurch. Als er in einiger Entfernung vor sich den Raben aufflattern sah, verfolgte er die Spur noch bis dahin wo sie endete und er den Vogel über sich im Geäst sitzen wußte. Abwartend blieb er stehen. Am rechten äußeren Rand seines Gesichtsfeldes nahm er eine Bewegung wahr und erspähte hinter den Bäumen seinen anderen Begleiter, den Wolf. Er hatte parallel zu ihm den Richtungswechsel vollzogen und blieb jetzt ebenfalls stehen, keine sechzig Schritte von ihm entfernt, und streckte unsicher die Schnauze in den Wind. Er schien etwas zu wittern.
Die Stute begann ebenfalls unruhig zu werden und auf der Stelle zu tänzeln. War es wegen des Wolfes, dessen Nähe sie nach wie vor scheute? Hadhuin hatte Mühe, sie halbwegs im Zaum zu halten. Zugleich sah er den Grauen sich ducken und mehrere Schritte rückwärts weichen, ehe er in abwehrbereiter Haltung und halb von ihm abgewandt stehen blieb. Hastig band er die Stute an einer in Reichweite stehenden jungen Birke fest. Den Bogen in der Linken und einen schußbereiten Pfeil in der Rechten, dazu drei weitere Pfeile gegürtet, ging er hinter einem größeren Baum in Deckung und spähte in die gleiche Richtung wie der Wolf.
Nichts geschah. Angestrengt und ohne die leiseste Bewegung lauschte er in den Wald. Kaum daß er zu atmen wagte. Die Stille war so vollkommen, daß er den Pulverschnee in die Zweige rieseln hörte. Dies und der heftige Puls in seiner Halsschlagader waren eine kleine Ewigkeit lang das einzige, was er wahrnahm.
Als der Wolf eine Bewegung zur Seite hin machte, spannte Hadhuin die knarrende Bogensehne und zielte auf die Gestalt, die er zwischen den Bäumen hervorkommen sah. Sie näherte sich rasch, mit fliegendem Haupthaar, aber an ihren gehetzten Bewegungen war zu erkennen, daß die Gefahr nicht von ihr ausging, sondern von dem, was sie verfolgte.
Ein Blick in ihre angstvoll aufgerissenen Augen, und Hadhuin wußte worum es sich handelte. Er entspannte den Bogen, kam aus seiner Deckung hervor und rief:
„Halt, Frau! Hierher, zu mir!!“
Im gleichen Augenblick stolperte die Angerufene und stürzte. Hadhuin ließ Pfeil und Bogen in den Schnee fallen und lief auf die Frau zu, die jedoch schon wieder aufgesprungen war und weiterrannte. Er versuchte ihr den Weg abzuschneiden, verfehlte sie aber um Haaresbreite. Er konnte ihren panisch pfeifenden Atem hören, als sie ihm entwischte. Mit Riesenschritten setzte er ihr nach und brüllte aus Leibeskräften:
„Warte! Bleib stehen! Ich tue dir nichts, bei mir bist du sicher!!“
Endlich schaffte er es, seinen linken Arm um ihre Taille zu werfen. Er war sich gewiß: wäre die Frau nicht von ihrer Flucht schon außer Atem gewesen, hätte er sie so schnell nicht eingeholt. Jetzt galt es, die kleine Gestalt zu bändigen, die sich in seiner Umklammerung wand wie eine Wildkatze. Hadhuin schrie auf, als sie ihn in die Hand biß. Hinter sich hörte er den Wolf bellen, und zugleich das Krachen brechenden Holzes. Wütend geworden, bekam er die Frau am Oberarm zu packen, wirbelte sie rasch herum und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Ehe sie kraftlos zu Boden fiel, fing er sie auf, preßte sie mit dem Rücken an sich und hielt ihr den gezückten Dolch vors Gesicht.
„Zum letzten Mal“, zischte er ihr ins Ohr: „Bleib endlich ruhig, wenn dir dein Leben lieb ist!“
Behutsam schob er die kleine, bebende, vor Erschöpfung keuchende Gestalt vor sich her, indem er sie um die Hüfte gepackt hielt. Am Ende seines ausgestreckten rechten Arms ragte die Klinge aus seiner Faust. Blut tropfte aus der schmerzenden Bißwunde am Daumenballen und hinterließ leuchtend rote Blacken im Schnee. Indem er seine eigene Spur zurückverfolgte, steuerte er ihrer beider Schritte in Richtung des Baumes, hinter dem er kurz zuvor Deckung gesucht hatte. Nicht weit davon ragte der abgebrochene Schaft der Birke in die Luft. Das Maultier war ausgebrochen, der Wolf ebenfalls außer Sichtweite.
Dann war von irgendwoher ein dumpfes Grollen zu vernehmen. Hadhuin, der es nur zu gut wiedererkannte, spürte augenblicklich seine Knie weich werden. Die Frau in seinen Armen schlotterte. Er wollte sich tapfer zeigen, dem Widergänger ebenfalls eine Drohung entgegenschleudern, aber seine Kehle brachte keinen Laut hervor.
Die Angreifer hielten sich unsichtbar. Immer noch seine Schutzwaffe vor sich haltend – wohl wissend, daß dazu eigentlich keine Notwendigkeit bestand, da es genügte, sie einfach bei sich zu tragen – drehte er sich langsam und mit weit aufgerissenem Blick mehrmals um sich selbst. Und dann war es die Frau, die sich an ihn klammerte und hinter seinem Rücken hielt. Es war diese plötzliche Geste des Vertrauens, des Beschütztwerdenwollens, die ihn wieder erstarken ließ und ihm neuen Mut einflößte. Er nahm sich zusammen und schrie aus voller Brust:
„Wo seid ihr, ihr feigen Bastarde? Kommt hervor und zeigt euch! Oder ist euch der Blutdurst vergangen?!?“ Dann fiel sein Blick auf die geschmiedete Spitze des Pfeils, der neben dem Bogen im Schnee lag.
Andrynemas Licht! fuhr es ihm durch den Sinn. Nicht nur der Dolch, auch die Pfeilspitzen waren das Werk Faghnars! Vor vier Tagen hatte er selbst neben ihm am Feuer gesessen und ihn beobachtet, wie er die Spitzen aus entbehrlichen Eisenteilen aus seiner Ausrüstung fertigte. Mit einfachsten Behelfsmitteln, aber den Händen und dem Geschick eines Gottes – und dem Atem der Unsterblichen, womit er die Flammen zu besonderer Hitze entfachte!
Im Nu hatte Hadhuin den Dolch gegürtet, spannte den Bogen und sandte den ersten Pfeil von der sirrenden Sehne. Er schoß blindlings, ohne zu zielen, mehr als eine Geste der Abschreckung denn um den Feind zu treffen. Federnd schallte es aus dem Wald zurück, als der Pfeil in einen Baumstamm schlug. Der zweite Schuß ging ins Leere. Er legte den dritten Pfeil an, spannte, besann sich aber und ließ den Bogen langsam wieder sinken – bis die Frau mit ausgestrecktem Finger auf einen Schatten zeigte, der gerade noch in Reichweite eines Pfeils durch den Wald glitt.
Hadhuin spannte und schoß.