Читать книгу Und das Fleisch ist wach - Joachim Schrott - Страница 4

Prolog

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Aus dem Discman dröhnte die Musik direkt in ihren Kopf hinein - Main Stream Music, die aktuelle Hitparade. Ein leichter Wind sorgte dafür, dass die stechende Sonne nicht unangenehm auffiel. Ihre Körper waren mit Lichtschutzfaktor sechs eingecremt, mehr brauchte es damals nicht. Sie hörten Puff Daddy mit I'll be missing you, LeAnn Rimes mit How do I live, R. Kelly mit I believe I can fly oder Savage Garden mit I want you. Der Discman, Peters Errungenschaft extra für diesen Urlaub, war ideal für den Strand und fast pausenlos im Einsatz. Mit aufgesetztem Kopfhörer befand man sich sofort in einer anderen Welt und konnte die gewünschte Dosis Realität über den Lautstärkeknopf regeln. Mit einer Adapterkonstruktion schafften sie es, drei Kopfhörer gleichzeitig anzuschliessen. Das brauchte zwar Unmengen an Batterie, war aber cool und liess sie zu dritt in die gleiche Scheinwelt eintauchen. Die drei Wirtschaftsstudenten genossen eine Woche ihrer Semesterferien auf der Ferieninsel Ibiza. Zuvor hatten sie ihre Urlaubskasse mit Ferienjobs aufgebessert und wollten hier so richtig abfeiern. Sich selbst belohnen für die unsäglichen Mühen des vergangenen Semesters an der Uni. Alle drei waren Singles, fanden sich selbst gut aussehend und hatten es sich zum Ziel gemacht, am Ende des Urlaubs wenigstens eine Eroberung feiern zu können. Sie hatten es richtig gut erwischt. Ihr Leben verlief in den richtigen Bahnen, ihre Chancen für die Zukunft waren rosig. Alles hätte in bester Ordnung sein können, ja sogar sein müssen.

Hier am Strand lagen sie nun seit kurz vor Mittag, an einem Mittwoch im August 1997 und sahen wegen des Sonnencreme-Sandgemischs aus wie panierte Schnitzel. Sie erholten sich vom gestrigen Partytag dem Tag fünf ihres Urlaubs. Nach dem Genuss von Bier und Sangria in nicht überlieferter Menge, fiel das Frühstück mit je zwei bis drei Aspirin und einigen Tassen Kaffee relativ mager aus. Die Welt war noch nicht wieder im Lot. Relaxen und Restalkohol abbauen war angesagt. Und das Verarbeiten des in der Nacht erlebten. Sie hatten seit dem Aufstehen noch nicht darüber geredet, wussten aber alle drei, dass es unumgänglich war. Sie mussten eine Abmachung treffen, wie sie künftig damit umgehen sollten, aber keiner wollte das Gespräch beginnen. Einfach so tun als wäre nichts passiert, ging nicht. Sven, Peter und David hörten Musik und dösten vor sich hin, bis die Batterien des CD-Players leer waren und dieser den Geist aufgab.

Schliesslich brach Sven den Bann:

"Jungs, wir müssen reden. So geht das nicht. Was ist heute Nacht passiert? Haben wir uns strafbar gemacht? Ist IHR was passiert? Weiss sie wer wir sind?"

"Keine Ahnung. Sie ist ja weg. Und was ist eigentlich GENAU passiert? Ich war so besoffen, dass ich nicht mehr alles weiss."

erwiderte David vorsichtshalber mal. Er wollte von den anderen hören, ob ES tatsächlich geschehen war.

"Gehen wir der Reihe nach. Wir waren in der Disco und machten bei der Schaumparty mit. Überall war es nass und feucht. Die Frauen waren so angezogen, als wollten sie nur das eine. Und sie tranken sich um Kopf und Kragen. Am schlimmsten fand ich die Engländerinnen."

"Ja, aber so richtig landen konnten wir dann doch bei keiner, weil sie immer in Gruppen unterwegs waren."

"Und als es schon fast hell wurde sind wir raus an die frische Luft und wollten zurück ins Hotel. Bis dahin sind wir uns wohl einig. Dann hat uns diese blonde Tussi angequatscht. Auf Deutsch. Und sie hat gefragt warum wir jetzt schon gehen, weil sie uns doch noch alle drei vernaschen wollte."

"Genau so war's. Das hat sie gesagt!"

"Ja, sie hat's nicht anders gewollt. Sie ist ja auch freiwillig mit in unser Hotel gekommen."

"Um mit uns zu vögeln."

"Als wir dann drin waren und die Türe geschlossen war, wollte sie auf Klo. Vielleicht hat sie dort gekotzt?"

"Sie hat, ich hab's gehört."

"Dann kam sie raus und hat sich aufs Bett gesetzt. Und sie meinte, dass sie jetzt doch lieber geht und es eine doofe Idee war, mit zu uns zu kommen."

Bis dahin waren sich die Jungs also einig. Trotz möglicher, kurzzeitiger Filmrisse.

"Und dann?"

Peter wollte es von den anderen hören.

"Dann hat Sven sie daran erinnert, warum sie eigentlich hier war. Aber sie wollte nicht mehr so richtig, hat aber auch nicht 'nein' gesagt. Und ihr war so schwindlig, dass sie sich hinlegen musste und sie die Augen schloss. Wegen dem Alk und wer weiss was sie sonst noch hatte. Und als sie auf dem Rücken lag, hast du, Sven, ihr T-Shirt hochgeschoben. Sie hatte nichts drunter. Und du hast sie angefasst, mit ihren Titten gespielt. Aber sie hat gar nicht reagiert. Nur kurz etwas Unverständliches gelallt. Und dann hast du ihre Hose runtergezogen und Peter und ich sind auf den Balkon gegangen."

"Scheisse, ja. Als ich fertig war, bin ich zu euch raus und David ist reingegangen. Wir haben euch vom Balkon aus gesehen. Sie hat mit den Armen gerudert und auch was gesagt. Was denn?"

David schaute beschämt in den Sand.

"Mittendrin wollte sie plötzlich aufhören und gehen, aber ich habe sie nicht gelassen und weitergemacht. Ich kann ja nicht mittendrin aufhören. Aber gewehrt hat sie sich nicht. Sie war einfach passiv. Danach bin ich raus zu euch. Sie war schon wieder eingeschlafen. Und Peter war dran."

"Aber du warst zu besoffen, standest vor ihr und wolltest nicht oder hast keinen hochgekriegt. Stattdessen bist du ins Bad, um eine Runde reihern."

"Da war es schon wieder hell und sie hat einfach nur gepennt. Wir haben sie dann zu dritt gepackt, aus dem Zimmer gezogen, in den Lift getragen und in die Lobby gebracht. Weil keiner da war, haben wir sie in einen Sessel gesetzt und sind wieder hoch gegangen, um zu pennen."

"War das jetzt eine Vergewaltigung? Sie wollte es doch. Wir haben es alle drei gehört"

"Aber nur am Anfang, dann nicht mehr. Sie hat sich ja sogar ein bisschen gewehrt. Wahrscheinlich würde das vor Gericht schon so gewertet werden."

"Gibt es mildernde Umstände, weil wir zu betrunken waren?"

"Wieso Gericht? Wahrscheinlich kann sie sich gar nicht mehr daran erinnern. Ich weiss ja auch nicht mehr alles. Ich glaube, ich würde sie schon gar nicht mehr erkennen. Und sie war noch betrunkener als wir."

Insgeheim war Peter froh, dass er ES nicht getan hatte, auch wenn die Gründe dafür nicht gerade ehrenhaft waren. Die drei Freunde einigten sich darauf, die Wahrheit zu sagen, falls sie jemals eine Aussage machen mussten. Allerdings nur bis zu dem Punkt, als sie sich ins Bett legte. Danach würden sie aussagen, dass sie sich nicht wehrte und allenfalls kurz weggetreten war, aber sie dies gar nicht registrierten, weil sie selbst zu viel Alkohol intus hatten. Wirklich falsch war diese Aussage nicht.

Bis zu ihrer Abreise mieden sie vorsichtshalber die besagte Disco und verbrachten die letzten Tage an einem etwas weiter entfernten Strand. Das schlechte Gewissen sass tief. Am Flughafen checkten sie sogar einzeln ein und sassen im Flugzeug weit voneinander entfernt. Auf diese Art und Weise wollten sie jeglicher Art von möglicher Konfrontation aus dem Weg gehen. Niemand sprach sie an. Kurz darauf waren sie wieder zu Hause - auf sicherem Boden. Nach der Reise verloren sie nie wieder ein Wort über diese Angelegenheit und kurz nachdem sie das Vordiplom bestanden hatten, verlief auch ihre Freundschaft im Sand. Als Sven die Uni wechselte und David ein Auslandsemester einlegte trennten sich ihre Wege.

ES war nie geschehen.

*

Er war der Star in seinem Dorf, zumindest der mediale Star. Obwohl aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte er es geschafft. Seinen Eltern war dieser Erfolg verwehrt geblieben, sie waren zwar ebenfalls sehr intelligent, doch hatten ihre Eltern es verpasst, ihnen eine anständige Schulbildung angedeihen zu lassen und sie zu fördern. Das sollte ihrem einzigen Sohn nicht passieren. Dieser sollte es besser haben und nun statt ihrer den Erfolg in die Welt tragen. Dafür kämpften sie. Stolz sollte er sie machen, sie wollten der Welt zeigen, zu was ihre Familie fähig war. Seine Eltern waren es auch, die ihn dank ihrer Beziehungen zu einem Redakteur, einige Male in der lokalen Zeitung präsentieren konnten, um über seine Erfolge zu berichten. Sie waren ehrgeizig für ihn und er nahm die Unterstützung dankbar an. Er stand gerne im Rampenlicht und so konnte er seinen verhassten ehemaligen Mitschülern zeigen, was aus ihm geworden ist. Schon als Kind fiel er als intelligent und besonders wissbegierig auf und hatte in der Schule immer die besten Noten. Die Lehrer hatten von dieser Seite nur Gutes über ihn zu berichten.

Den guten Noten hatte er es auch zu verdanken, dass er nicht von der Schule flog, denn er hatte auch eine andere Seite, eine dunkle. Er spielte Mitschüler gegeneinander aus und spinnte Intrigen, die jedoch selten aufflogen. Was ihn definitiv zum Aussenseiter machte, war aber etwas anderes: er war eines jener Kinder, die Tiere quälten. Nur so zum Spass. Fliegen die Flügel ausreissen, um zu sehen wie gut sie zu Fuss unterwegs waren, Fröschen ein Bein abschneiden, um zu überprüfen, ob sie einbeinig hüpfen konnten (sie konnten es nicht) oder Mäusen die Augen ausstechen, weil er wissen wollte, ob sie den Heimweg auch blind finden konnten. Er stand auch bei der einen oder anderen verschwundenen Katze unter Verdacht, aber nachweisen konnte man ihm nichts. Dazu war er zu schlau. Freunde hatte er keine und brauchte sie auch nicht. Schon früh war ihm klar, dass er die Insel so schnell wie möglich verlassen würde. Sie war zu klein und zu eng für ihn, denn er war zu Höherem berufen.

So hatte er es nach der Schule dank der Unterstützung seiner Eltern geschafft, ein Stipendium an einer renommierten Universität in den USA zu erhalten. Die Mischung hatte es gemacht. Intelligenz und Fleiss auf der einen Seite, was ihm zu sehr guten Noten verhalf und eine gewisse Durchtriebenheit, das konsequente Ausnutzen von Beziehungen und kriminelle Energie auf der anderen Seite, ohne die er das Stipendium nicht erhalten hätte. In den USA hatte er sich als Waisenkind ausgegeben, hatte sich von entfernten Verwandten, die seinen Eltern einen Gefallen schuldeten, adoptieren lassen, hatte hier und da ein Empfehlungsschreiben gefälscht - und schon war er dabei. Mittendrin. Die geliebte Welt der Forschung stand ihm offen. Plötzlich wurde er für das Zerstückeln von Fröschen nicht mehr gehasst, er tat es nun im Dienste der Wissenschaft. Gelernt hatte er dabei, dass man sehr weit kam, wenn man es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahm, wenn man Einfluss nahm und manipulierte. Lange Zeit hatte er dafür keine Quittung erhalten.

Er zog sein Medizinstudium schnell und zielstrebig durch. Die guten Noten waren echt, die richtungsweisende Abschlussarbeit schrieb er selbst. Auch die Versuchsreihen entwickelte er selbst, Tierversuche machten ihm nichts aus, im Gegenteil. Die Ratten und Mäuse gaben ihr Leben schliesslich für einen guten Zweck - zum Wohle der Menschheit. Vielleicht war das das Gefährliche an ihm - er war wirklich gut, er hätte die kriminellen Dinge nicht tun müssen, um erfolgreich zu werden. Seine bedingungslose Konsequenz beschleunigte einfach. Geduld zu haben und Umwege zu gehen waren nicht seine Dinge.

Und so war es für ihn auch selbstverständlich, dass er heute, an einem Mittwoch im August 1997, kurz nachdem er sein Studium mit Bestnoten abgeschlossen hatte, genau in jener Firma anfangen konnte, die er sich für seine Forschungen vorstellte. Hier wollte er mit seiner Doktorarbeit Geschichte schreiben. Der Professor, der sie betreute sowie das Unternehmen, das ihn anstellte und mit profitieren wollte, setzten grosse Stücke auf ihn. Der Erwartungsdruck war gross, doch er wusste, dass er ihm standhalten konnte. Schliesslich hatte er einen Plan. Einen Masterplan, mit dem er in die Geschichte eingehen würde. Dank seiner Forschungen sollte ES in den nächsten Jahren zum ersten Mal geschehen. Die Titelseiten warteten auf ihn.

Und das Fleisch ist wach

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