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4 – Tourist verschwunden

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Geduld war nicht gerade Nicki’s Stärke – und in einer solchen Ausnahmesituation schon gar nicht. Nachdem der Hoteldirektor nicht mehr erreichbar war, ging sie in das Hotelzimmer und überdachte ihre nächsten Schritte. Der Rückflug war erst in neun Tagen, so musste sie zumindest nicht abreisen, ohne alles versucht zu haben. In dieser Zeit werde ich wohl hoffentlich herausfinden was hier abgeht, überlegte sie.

Angesichts des Ernstes der Situation tat sie etwas, was sie bisher noch nie getan hatte. Sie lief zum Kleiderschrank, öffnete dessen Tür und gab in den Zimmersafe die gemeinsam mit Peter gewählte vierstellige Kombination ein. Dann nahm sie sein Handy heraus und hatte dabei Glück, dass es noch angeschaltet war, denn den Code des Handys wusste sie nicht. Da die Batterie fast leer war, steckte sie das Ladegerät in eine Steckdose neben dem Bett und machte sich auf dem Bauch liegend über den Inhalt von Peters Heiligtum her. Den erhofften Hinweis, welcher sein Verschwinden auch nur annähernd hätte erklären können, fand sie jedoch ebenso wenig wie eine verdächtige SMS einer anderen Frau, die es ihr erleichtert hätte, sauer auf Peter zu sein.

So beschloss sie in der Folge zuerst ihre gemeinsamen Bekannten und dann Peters Freunde und Eltern anzurufen, deren Telefonnummern sie im Telefonbuch des Handys fand. Sie hatte immer noch die leise Hoffnung, dass sie einem üblen Streich zum Opfer gefallen war und Peter jemandem zu Hause davon erzählt hatte. Wegen der Zeitverschiebung zu Deutschland musste sie noch eine Weile warten, bis sie die ersten Anrufe tätigen konnte. Also legte sie sich erst einmal hin und wartete in der Zwischenzeit auf eine Eingebung. Aber wie es so ist mit dringend benötigten Eingebungen – sie kommen selten im richtigen Moment. Stattdessen nickte sie doch tatsächlich ein und erholte sich ein wenig. Als sie aufwachte war gerade die richtige Zeit, die Anrufe zu tätigen. Sie benutzte hierfür Peters Telefon und legte die Reihenfolge der Anrufe nach der aus ihrer Sicht grössten Wahrscheinlichkeit einer Mitwisserschaft fest. Schon nach drei Anrufen, bei zweien seiner Freunde und seinen Eltern, war klar, dass in Deutschland niemand Bescheid wusste. Sie war zu aufgelöst und zu ernst als dass man sich mit ihr einen Spass am Telefon erlaubt hätte. Hinzu kam, dass die Gesprächspartner zu überrascht und zu besorgt waren. Sie konnte nun endgültig ausschliessen, dass sie einer seltsamen Art von Humor zum Opfer gefallen war. Nun hatte sie also auch noch seine Freunde und seine Eltern verrückt gemacht. Allerdings wohl nicht zu unrecht. Sie versprachen, ebenfalls zu recherchieren und zu tun was in ihrer Macht stand.

Zudem wollten sie in Kontakt bleiben und sich gegenseitig informieren, falls es irgendwelche Neuigkeiten gäbe. Peters Eltern wollten auch zur Polizei gehen und sich dort nach den Möglichkeiten erkundigen, die man hatte, wenn man von Deutschland aus helfen wollte.

Somit ging für Nicki der zweite Tag ohne Peter zu Ende. An einen schlechten Scherz glaubte sie schon lange nicht mehr. Und auch nicht daran, dass Peter sie betrogen haben könnte. Für sie stand fest: es war etwas Schreckliches passiert. Und so lange nicht seine Leiche angespült wurde oder man ihn woanders fand, bestand in ihren Augen Hoffnung und man konnte auch etwas tun. Auch wenn sie es vielleicht nur tat, um sich abzulenken. Morgen, nach dem Frühstück würde sie als erstes den Hoteldirektor aufsuchen, und dann überlegen wie sie weiter vorgehen könnte.

Gesagt, getan. Unverzüglich nach dem Frühstück klopfte sie an die Bürotür des Direktors. Wie gestern erhielt sie auf ihr Klopfen keine Reaktion und wie gestern war die Türe verschlossen. Super. An der Rezeption erfuhr sie, dass der Herr Hoteldirektor sich entschuldigt hatte und erst am späten Vormittag anwesend sein werde. Das kam öfter vor, denn der Herr Hoteldirektor traf sich manchmal mit Lieferanten oder Vertretern von Behörden. Kein Grund zur Beunruhigung also. Kommt auf die Sichtweise an, dachte Nicki. Ich jedenfalls finde das verdächtig und beunruhigend. Zudem war sie sich nicht ganz sicher, ob die Dame an der Rezeption den 'Herrn Hoteldirektor' im richtigen Tonfall entschuldigt hatte.

So nutzte sie die Zeit und machte sich auf die Suche nach Überwachungskameras. Zuerst sah sie im Hotel nach. Die Kameras waren zwar relativ klein und in unauffälligen Winkeln montiert, aber sie waren weder getarnt noch besonders gut versteckt. Jedenfalls sah es nicht nach Heimlichtuerei aus. So stellte sie fest, dass im Hotel nahezu alle öffentlichen Bereiche, also die Rezeption, die Eingangshalle, die Flure und die Restaurants mehr oder weniger gut durch die Kameras abgedeckt waren. Einerseits konnte es zwar tote Winkel geben, andererseits können moderne Kameras über Weitwinkelobjektive oder durch einfaches hin- und herschwenken grosse Bereiche abdecken. In den Damentoiletten konnte sie selbst nach intensiver Suche keine Kamera entdecken. Soweit machte also alles einen seriösen Eindruck. Die Kameras schienen tatsächlich der Sicherheit der Gäste zu dienen und nicht dazu, heimliche Spanner zu befriedigen.

Auch das weitläufige Hotelgelände war durch Kameras abgedeckt. Sie entdeckte welche auf dem Parkplatz der Angestellten und auf dem Parkplatz, auf dem Gäste ihre Mietwagen abstellten. Ausserdem bei der Hotelzufahrt, den Tennisplätzen und bei den Pools. Selbst der Weg von den Pools zum Strand war im Fokus einer Kamera. Am Strand selbst konnte sie nichts entdecken. Es war also nahezu der gesamte Hotelkomplex – innen und aussen – videoüberwacht. Wenn nun also aufgezeichnet wurde, dann war bestimmt auch Peter zu sehen. Vielleicht kam dann etwas Licht ins Dunkel.

Hoffnungsvoll machte sie sich nach diesen Erkenntnissen erneut auf den Weg zum Hoteldirektor. Dieses Mal erwartete sie eine offene Türe. Der Direktor schien sie bereits zu erwarten. Er schloss die Türe hinter ihr und deutete dabei auf die laufende Klimaanlage.

„Bitte entschuldigen Sie, meine Abwesenheit. Aber mein Tagesablauf ist oft nicht planbar. Ich habe Sie jedoch nicht vergessen und meine Hausaufgaben gemacht. Leider haben sie nicht zum erhofften Ergebnis geführt. Keiner der Angestellten konnte mir bei unserem Meeting sagen, wo Ihr Freund geblieben ist. Tut mir leid.“

Nach diesem Monolog sah er Nicki an und erwartete ihre Reaktion. Sie nickte, ging aber sonst nicht auf seine Ausführungen ein. Stattdessen wollte sie es geschickt anstellen und ihn unauffällig nach den Überwachungskameras ausfragen.

„Ich habe gesehen, dass überall im Hotel und auf dem Gelände Kameras installiert sind. Sind diese in Betrieb? Wie lange wird denn das Aufgezeichnete gespeichert?“ Mit keinem Wort ging sie darauf ein, dass sie bereits wusste, dass es zumindest einige funktionierende Kameras geben musste. Sie hatte dies ja mit eigenen Augen auf seinem Bildschirm gesehen. Was sie daraufhin zu hören bekam, bereitete ihr Angst. So behauptete er doch allen Ernstes, dass die Kameras noch keine Aufnahmen aufzeichneten und dass man gerade am Testen sei. Die Anlage war ziemlich neu.

„Leider, denn sonst hätte ich Ihnen schon gestern vorgeschlagen, in den Aufzeichnungen nach ihm zu suchen. Dafür ist Ihr Peter etwas zu früh verschwunden.“

Bei diesen Ausführungen fröstelte es Nicki unweigerlich; nicht nur, weil sie dem Hoteldirektor vorerst keinen Glauben schenken wollte, sondern auch, weil die Klimaanlage ziemlich effizient war. Der Direktor nahm wahr, dass ihre Brustwarzen nun spitz durch ihr T-Shirt drückten. Diskret versuchte er vorbeizuschauen, was ihm aber nicht gelang. Wenigstens bildete er sich nicht ein, dass es sich um einen Erregungszustand aufgrund seiner besonders männlichen Erscheinung handelte.

Er schlug vor, nun doch die Polizei zu informieren. Etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein. Hier im Hotel könnte man leider nicht weiter helfen. Immerhin bot er ihr an, sie mit in die Stadt zu nehmen und bei der Polizei abzusetzen. Er habe sowieso ein Meeting in der Nähe. Von dort wäre es auch leicht, ein Taxi für den Rückweg zu finden. So fuhr er sie in seiner klimatisierten Limousine, in der auch schon VIP's und andere besondere Gäste den Transfer vom und zum Flughafen erleben durften, ohne Umwege in die Stadt, direkt vor die Polizeistation.

Der Polizeiposten war mitten in der Altstadt des mittelgrossen Städtchens. Er konnte direkt vor dem Eingang anhalten und sie aussteigen lassen. Zuvor bat er noch darum, auf dem Laufenden gehalten zu werden und bot seine weitere Unterstützung an.

Die Polizeiwache war sauber, aber sehr spartanisch ausgestattet. Vom gefliesten, fensterlosen Flur aus führten links und rechts Türen in verschiedene Zimmer, die jeweils mit den Namen und Rängen von Polizisten angeschrieben waren. Diese Massnahme sollte wohl Ordnung und Professionalität suggerieren. Eine etwas breitere Türe, die einzige mit einem grossen Glasfenster, war offensichtlich die erste Anlaufstelle, wenn man etwas von der Polizei wollte - eine Mischung aus Zentrale und Rezeption. Nicki klopfte an und öffnete gleichzeitig die Türe, fand jedoch einen menschenleeren Raum vor. Als sie in Richtung Tresen lief, trat von einem angrenzenden Raum ein uniformierter Polizist herein. Ein gross gewachsener, schlanker, schmächtiger junger Mann von höchstens fünfundzwanzig Jahren. Er legte die höchstens fünf Meter so behäbig zurück, dass Nicki schon nach weniger als drei Metern sicher war, dass sie von dieser Seite keine Unterstützung erwarten konnte. Dieser junge Mann hatte sich offenbar schnell an das Leben und das Tempo eines Staatsangestellten gewöhnt. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es hier ganz offensichtlich keine Klimaanlage gab, um die Hitze zu bändigen. Abhilfe sollte ein grosser Deckenventilator schaffen, der jedoch von vornherein auf verlorenem Posten stand. Schnelle Bewegungen riefen also unweigerlich Schweissperlen hervor, denn als Polizist stand man schliesslich auch bei der grössten Hitze in Uniform herum. Als er dann endlich am Tresen ankam, erwies sich auch die Unterhaltung als ähnlich zähflüssig wie die Luft. Sein Englisch war ziemlich ausbaufähig und so zog sich die Unterhaltung in die Länge.

Nicki schilderte die Situation ausführlich, der Polizist seinerseits nahm dienstbeflissen das Protokoll auf, machte Kopien von Peters Foto und versprach alles zu tun was in der Macht der Polizei stand, um Peters verschwinden aufzuklären. Nicki hatte jedoch ernsthafte Zweifel was die Effizienz des Insel-Polizeiapparats anging. Als sie mit einem flauen Gefühl in der Magengegend die Polizeistation wieder verlassen wollte, kam ein zweiter Polizist hinzu, der wohl mit einem halben Ohr aus dem Nebenraum mitgehört hatte. Er nuschelte etwas zu dem ersten Polizisten, was Nicki beim besten Willen nicht verstehen konnte. Da sie dachte, dass es nichts mit ihr zu tun haben könne, setzte sie ihren Weg fort. Doch noch bevor sie durch die Türe gehen konnte, rief sie der zweite Polizist in Englisch zurück. Dieser war etwas älter und sah dementsprechend erfahrener und routinierter aus. Ausserdem hatte er einen Streifen mehr auf der Schulter, war also der Ranghöhere. Daraufhin durfte sie die ganze Geschichte noch einmal erzählen. Glücklicherweise war sein Englisch wesentlich besser, was die Angelegenheit erheblich erleichterte. Es kam heraus, dass Peter schon der zweite spurlos verschwundene Tourist war. Der erste, ebenfalls ein Mann, verschwand genau sieben Tage vor Peter aus einem benachbarten Strandhotel. Die Umstände waren aber nicht die gleichen, da derjenige mit einem Kumpel unterwegs war, der inzwischen nach Europa zurückgekehrt sein musste. Von ihm fehlte bis heute ebenfalls jede Spur.

Na das macht mir ja Hoffnung, dachte sie. Der ist vor einer Woche verschwunden und noch immer fehlt jede Spur von ihm. Keine Leiche, keine Spur, einfach nichts. Und vor allem niemanden der intensive Nachforschungen anstellte, da der erste Verschwundene scheinbar Single war. Unverrichteter Dinge und mit einem noch schlechteren Gefühl verliess sie die Polizeistation. Immerhin erhielt sie noch die Telefonnummer der Polizeiwache und auch den Namen und die direkte Nummer des zweiten Polizisten.

Nach einer verdächtig langen und entsprechend teuren Taxifahrt fand sich Nicki im Hotelzimmer wieder und fing an, stichwortartig aufzuschreiben was ihr wichtig und vor allem verdächtig erschien. Ohne zu wissen ob es tatsächlich relevant sein könnte, fielen ihr drei Dinge ein:

Erstens der Hoteldirektor, der behauptete, dass die Kameras noch nicht aufzeichneten. Zweitens ebenfalls der Hoteldirektor, der plötzlich hastig das Hotel verliess und am nächsten Tag später als verabredet im Hotel war, OBWOHL er wusste wie wichtig ihr das Treffen war. Und drittens der erste Polizist, der bestimmt auch mitbekommen hatte, dass eine Woche zuvor jemand unter ähnlichen Umständen direkt nebenan verschwunden war. Nun hatte sie also endlich einen Anhaltspunkt für ihre Recherchen und fing an, sich einen Plan zurecht zu legen.

Und das Fleisch ist wach

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