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VII. Arbeit am Sachverhalt und an den Rechtsfragen des Falles

Die meisten Klausuraufgaben enthalten wenig geordnete Grunddaten über die tatsächlichen Gegebenheiten, die Situation und die Ereignisse, die zu ihr geführt haben – also über die Sachlage, die den konkreten Streitfall ausmacht. Hinzu kommt, dass die am Ende der Aufgabenstellung formulierte(n) Rechtsfrage(n) – Was kann X gegen den Bescheid unternehmen? Hat die Klage des X Aussicht auf Erfolg? Ist das umstrittene Gesetz wirksam zustande gekommen? – in aller Regel zu allgemein sind, um einen schrittweise abarbeitungsfähigen Leitfaden für die schriftliche Fallösung zu liefern. Hierfür ist eine Strukturierung der Sachverhaltsgegebenheiten im Hinblick auf die zu beantwortenden Rechtsfragen des Falles erforderlich. Die Strukturierung des Falles besteht aus vier Arbeitsschritten. Sie gehören noch nicht zur Fallösung, sondern stellen Vorbereitungsschritte dar. Mit kurzen Notizen zu den Ergebnissen jedes dieser Arbeitsschritte ist der Weg für die abschließende schriftliche Ausarbeitung eröffnet.

|11|1. Tatsachenstoff des Falles (1. Stufe)

Der erste Arbeitsschritt besteht in der Zusammenstellung des Tatsachenstoffs, also aller zwischen den Beteiligten unstreitigen Daten, Ereignisse und Zusammenhänge des Falles, in die der nachfolgende rechtliche Streitstoff eingebettet ist. Zum Tatsachenstoff gehört auch die „Rechtsgeschichte“ des Falles. Das ist alles, was sich im Vorlauf der aktuell zu bearbeitenden rechtlichen Fragen zwischen den Beteiligten vor Gerichten oder in Form verwaltungsbehördlicher Entscheidungen abgespielt hat. Es empfiehlt sich, den Tatsachenstoff in Form von stichwortartigen Notizen festzuhalten. Damit ist eine Abgrenzungsgrundlage gegenüber den streitigen Rechtspositionen und Fallfragen geschaffen.

2. Parteivorbringen, Streitgegenstand (2. Stufe)

In einem zweiten Arbeitsschritt werden die streitigen Positionen jeder beteiligten Seite formuliert und einander gegenübergestellt, und zwar möglichst in den eigenen laienhaften Worten der Beteiligten, um den Blick für die wirklichen Anliegen der Streitbeteiligten frei zu halten (konkrete Streitpositionen). Maßstab für die Formulierung dieser Positionen ist das, was jede Seite für sich rechtlich erreichen will. Damit wird der maßgebliche Ansatz erarbeitet, um nachfolgend die einschlägigen Rechtsfragen zu bestimmen, die begutachtet werden sollen.

Zur Ermittlung der streitigen Standpunkte und des wirklichen rechtlichen Begehrens der Beteiligten sind ggf. Auslegungen der mitgeteilten Informationen über diese Standpunkte erforderlich. Das ist keine juristische Auslegungsarbeit, sondern eine Auslegungsarbeit, die sich auf den Sachverhalt bezieht. Sie ist typisch für die anwaltliche Beratungstätigkeit, die für den Anwalt damit beginnt, herauszufinden, was die Mandantin oder der Mandant wirklich will.

Hier liegt eine erste potentielle Fehlerquelle für die Fallbearbeitung. Ihr begegnen Bearbeiter am wirksamsten durch strikte Vermeidung juristischer Fachausdrücke und vorschnelle rechtliche Einordnungen des Falles nach Maßgabe von gesetzlichen Entscheidungsgrundlagen. Der Streit ist – wiederum stichwortartig – so zu skizzieren, wie ihn die Parteien mit ihren eigenen Worten darstellen. Für die Auslegung dieser Darstellung ist auf die allgemeine Lebenserfahrung zurückzugreifen, soweit es um Privatpersonen im Streit mit dem Staat geht. Auch das staatliche Streitvorbringen sollte nicht mit juristischen Fachausdrücken beschrieben werden, sondern mit der psychologisch naheliegendsten Zielsetzung, die sich aus der jeweiligen staatsaufgabenmäßigen (amtlichen) Stellung der beteiligten staatlichen Stelle ergibt.

|12|Merke

Der Grund für die Zurückhaltung beim Umgang mit gesetzlichen Rechtsbegriffen und Systembegriffen liegt in der Gefahr, durch vorschnellen gedanklichen Rückgriff auf solche Allgemeinbegriffe mit ihren vielfältigen assoziativen Zuordnungsmöglichkeiten den eigentlichen konkreten Rechtsstreit zu verfehlen (häufiger Fehler). Die Vielfalt der Lebenswirklichkeit, der die Streitfälle entnommen sind, ist unbegrenzt. Das allgemeinverbindlich formulierte, abstrakte Gesetz ist dagegen stets begrenzt. Wer sich beim Einstieg in die Fallbearbeitung zu stark vom abstrakten Gesetz leiten lässt, verfehlt leicht den konkreten Streitstoff.

In einem allein auf die Fallbearbeitung bezogenen Sinne kann man dieses so ermittelte konträre Parteivorbringen als „Streitgegenstand“ bezeichnen. Mit einem prozessualen Streitgegenstand vor Gericht hat das wenig zu tun. Es geht um die aus dem Fall zu ermittelnden streitigen Positionen, auf die das verlangte Gutachten zu gründen ist.

3. Rechtliche Fragestellungen des Falles auf der Grundlage des konkreten Parteivorbringens (3. Stufe)

Mit der Formulierung der rechtlichen Fragestellung oder der mehreren rechtlichen Fragestellungen wird auf der dritten Stufe die Grundlage für die juristische Begutachtung vervollständigt. Gedanklich und arbeitstechnisch geht es bei diesem Strukturierungsschritt darum, aus dem auf der zweiten Stufe ermittelten konkreten Streitbegehren der Beteiligten die rechtlichen Fragen des Falles herauszufiltern und zu formulieren, die begutachtet werden sollen. Dazu müssen diese Rechtsfragen in der einschlägigen Gesetzessprache und mit Hilfe der Systematik der jeweiligen Rechtsmaterie – Staatsorganisationsrecht, Grundrechte, allgemeines Verwaltungsrecht, Polizeirecht, Baurecht, Kommunalrecht etc. – formuliert werden. Jetzt – erst jetzt – sind abstrakte Gesetzes- und Rechtskenntnisse gefragt.

Dieser Arbeitsschritt, die Umsetzung des konkreten streitigen Parteivorbringens in die allgemeinen Rechtsfragen des Falles, die zu begutachten sind, ist der umfassendste und schwierigste. Er liefert aber das, wonach die Bearbeiter suchen: das Prüfungsprogramm für die Erstellung des Gutachtens. Darin sind folgende Teilschritte eingeschlossen:

 Erster Teilschritt: zu beantworten ist zunächst die Frage, ob es sich überhaupt um eine öffentlichrechtliche Streitigkeit – verfassungsrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Natur – handelt. Hier sind ggf. Abgrenzungen gegenüber privatrechtlichen Streitigkeiten erforderlich.[7]

 Der zweite Teilschritt besteht in der Klärung der Frage, in welchem Verhältnis sich der Rechtsstreit abspielt: im Staat-Bürger-Verhältnis, im Bürger-Staat-Verhältnis, im innerstaatlichen bzw. innerkommunalen Verhältnis (zwischen Staatsorganen, Verwaltungsbehörden, kommunalen Entscheidungsträgern). – Durch einen Blick |13|auf die in der rechtlichen Fallfrage genannten Personen und staatlichen/kommunalen Stellen lässt sich diese Frage in der Regel problemlos und schnell beantworten.

 Als dritter Teilschritt folgt dann die rechtlich-systematische Formulierung der Rechtsfragen des Falles, die aus den kontroversen Standpunkten der Beteiligten (unter Ziffer 2) abzuleiten sind.

 Der vierte Teilschritt besteht in der Ermittlung der einschlägigen Gesetzes-, Verfassungs- und Verordnungs- oder Satzungsgrundlagen. Diese Ermittlung läuft über die in den formulierten Rechtsfragen enthaltenen allgemeinen Rechtswirkungen, für die passende Grundlagen in den Rechtsfolgen in Betracht kommender allgemeinverbindlicher Regeln gefunden werden müssen. Dann können im Gutachten die Tatbestandsgrundlagen geprüft werden.

Einschlägige Rechtsgrundlagen

Oft passen allgemeine gesetzliche Rechtsfolgen nicht genau zu den konkreten streitigen Rechtswirkungen. Sie müssen dann ggf. auf der Grundlage verschiedener gesetzlicher Regelungen miteinander kombiniert oder entsprechend (analog) angewendet werden.[8]

Welche gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die Fallösung einschlägig sind und der Begutachtung zugrunde gelegt werden müssen, ist immer aus dem konkreten Streitstoff heraus zu beantworten. Der konkrete Streitstoff liefert den Zugang zu derjenigen Rechtswirkung, die im Streit ist: z.B. einem Entschädigungsanspruch, der Gültigkeit eines Gesetzes, der Wirksamkeit eines Verwaltungsakts oder seiner Rücknahme, der Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Gefahrenabwehrmaßnahme etc.

Daraus folgt: die gesuchten einschlägigen Gesetzesgrundlagen müssen über die gesetzliche Rechtsfolge gefunden werden.[9] Einschlägig ist jede gesetzliche Rechtsfolge, die der konkret streitigen Rechtswirkung eine Rechtsgrundlage zu liefern vermag (Übereinstimmung von konkreter streitiger Rechtswirkung und abstrakter gesetzlicher Rechtsfolge nach der Art der Rechtswirkung).

Ist diese Übereinstimmung gefunden, konzentriert sich das Gutachten auf die Prüfung des jeweiligen gesetzlichen Tatbestands (Tatbestandselemente plus richtige Anwendung im Einzelfall (Ermessensfehlerfreiheit, Verhältnismäßigkeit).

4. Gutachterlicher Prüfungsauftrag (4. Stufe)

Die generelle und umfassende Frage am Ende der Aufgabenstellung enthält zugleich den gutachterlichen Prüfungsauftrag. In der Regel weicht dieser Prüfungsauftrag inhaltlich und umfänglich nicht von den konkreten rechtlichen Fragestellungen ab, die auf der 3. Stufe ermittelt und formuliert worden sind. Es kann aber zu folgenden Abweichungen kommen, denen dann gutachterlich gefolgt werden muss.

Der gutachterliche Prüfungsauftrag kann:

 |14|Einschränkungen gegenüber den als gutachterlich relevant ermittelten konkreten Rechtsfragen enthalten. Wenn es beispielsweise im Hinblick auf eine verwaltungsgerichtliche Klage heißt: „Ist die Klage des X gegen das Land L begründet?“, wird nur nach der Begründetheit gefragt und ist die prozessuale Zulässigkeit der Klage nicht zu prüfen. Mitunter wird die Prüfung bestimmter Gesetzesgrundlagen ausgeklammert, weil sie nicht zum Prüfungsstoff gehören.

 Erweiterungen gegenüber den als gutachterlich relevant ermittelten Rechtsfragen enthalten. Dann muss das Gutachten entsprechend erweitert werden, beispielsweise durch Prüfung einer Fallvariante, nach der zusätzlich gefragt wird.

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