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II. Was ist ein „Juristisches Gutachten“?

Ein juristisches Gutachten hat Antworten auf Rechtsfragen zu geben und die Gründe für diese Antworten darzulegen. Über die gutachterlich zu bearbeitenden Rechtsfragen geben der Sachverhalt und die mit ihm verknüpften streitigen Rechtsstandpunkte der Parteien Auskunft. Vom Sachverhalt ausgehend ist der gedankliche Weg (Methode = Weg) zu erarbeiten, der auf der Grundlage einschlägiger Gesetze und der Verfassung schrittweise über Zwischenergebnisse zur abschließenden Antwort auf die Fallfragen führt.

1. Konkreter Rechtsstreit (Rechtsfall)

Rechtsfälle entstehen aus Streitigkeiten über Vorgänge des täglichen Lebens, deren Folgen für betroffene Menschen bewältigt werden müssen, weil sie eine soziale Störung darstellen oder weil problematische Grundlagen für rechtliche Gestaltungsent|4|scheidungen – behördliche Genehmigungen, Verträge etc. – geklärt werden sollen. Rechtsfälle sind stets konkret, d.h. nach beteiligten Personen, Ort und Zeit streitauslösender Ereignisse und vorgegebener Sachverhaltssituationen individualisierbar. Bei den Sachverhaltsinformationen des Rechtsfalles handelt es sich durchweg um konkrete Angaben, mit denen einzelne streitige und fragliche Rechtsbeziehungen in individualisierter Form beschrieben werden. Dementsprechend stellen auch die hieraus abgeleiteten Rechtsfragen des Falles konkrete Rechtsfragen dar: bezogen auf individuelle Streitparteien in einer spezifischen alltäglichen Streit- und Entscheidungssituation.

Methodische Grundregel: durchgängige Fallbezogenheit

Alle gutachterlichen Ausführungen müssen einen Bezug zur Beantwortung der Rechtsfragen des konkreten Falles aufweisen, der gelöst werden soll. Das bedeutet umgekehrt, dass Ausführungen im Gutachten, denen der konkrete Fallbezug fehlt, methodisch fehlerhaft sind. Dieser – leider sehr verbreitete – Fehler wird nur bei folgender Vorgehensweise vermieden:

(1) Zunächst werden auf der Grundlage des Sachverhalts konkrete Rechtsfragen formuliert, die im Gutachten beantwortet werden müssen.

(2) Jede dieser im Rechtsstreit begründeten konkreten Rechtsfragen lässt sich im Sinne einer abstrakten Rechtsfolge verallgemeinern und einer gesetzlichen Regelung zuordnen, die die gesuchte Rechtsfolge enthält.

(3) Die für die gutachterliche Fallösung „einschlägigen“ Gesetze werden also über die gesetzliche Rechtsfolge durch ihre inhaltliche Verbindung mit den konkreten Rechtsfragen des Falles gefunden.

(4) Damit erweist sich das Gesetz als der methodische Leitfaden, der aufgrund seiner durchgängigen strukturellen Unterscheidung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge innerhalb jedes Gesetzes die für die rechtliche Lösung des konkreten Streitfalles benötigte Verknüpfung der konkreten Sachverhaltsgegebenheiten mit der in der gesetzlichen Rechtsfolge zum Ausdruck kommenden abstrakt-generellen Rechtsregel liefert. Die im Gesetz formulierten Tatbestandsvoraussetzungen enthalten die abstrahierten Voraussetzungen, die im konkreten Fall erfüllt sein müssen, damit der Schluss auf die gesuchte gesetzliche Rechtsfolge rechtlich trägt.

(5) Wenn die konkreten Daten des Falles die abstrakten Tatbestandsmerkmale der gesetzlichen Regel erfüllen, dann ist die Schlussfolgerung des Gutachters auf die ebenfalls abstrakte gesetzliche Rechtsfolge begründet.

Das Gesetz dient bei dieser Vorgehensweise als rechtliche Erkenntnisquelle für die schrittweise zu erarbeitende Fallösung. Es liefert damit zugleich die abschließende Antwort auf die Fragen, welche konkreten Falldaten nach Maßgabe der gesetzlichen Tatbestandselemente für die Lösung relevant sind und welche Schlussfolgerungen aus ihnen für die gesuchte Fallösung mit Blick auf die gesetzliche Rechtsfolge gezogen werden dürfen.

|5|2. Gutachtenstil – systematische Suche nach dem Ergebnis

Im Unterschied zum Richter (Urteil) kennt der Gutachter das Ergebnis des Rechtsfalles nicht, wenn er mit der Begutachtung beginnt. Seine Arbeitsmittel sind der konkrete Sachverhalt, die sich hieraus ergebenden konkreten Rechtsfragen, die er selbst formulieren muss, sowie der verbindliche Rechtsmaßstab zur Beantwortung dieser Fragen: die Verfassung, das Gesetz, der Vertrag sowie die einschlägigen Auslegungsregeln für diese. Auch dieser Schritt, das Auffinden der allgemeinverbindlichen einschlägigen Rechtsgrundlagen, gehört zu den Aufgaben des Gutachters.

Aus der Verknüpfung von konkretem Sachverhalt mit abstrakten, möglicherweise für die Fallösung einschlägigen Gesetzen, ergibt sich der hypothetische Charakter der gutachterlichen Arbeitsmethode. Auf der Grundlage streitiger und fraglicher, also ungewisser, Rechtsbeziehungen wird danach gefragt, ob sich die Existenz oder eben die Nichtexistenz der streitigen Rechtsfolge aus der jeweiligen Gesetzesgrundlage gesichert nachweisen lässt: durch Übereinstimmung der konkreten fraglichen Rechtsfolge mit der abstrakten gesetzlichen Rechtsfolge in Verbindung mit der schrittweisen Prüfung, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolge aus dem Sachverhalt begründbar sind (sog. Subsumtion). Gedanklich wie darstellungsmäßig stehen beim Gutachten stets die Fragestellungen am Anfang, die Ergebnisse als letzter Begründungsschritt am Ende. Am ehesten deckt sich diese gutachterliche Arbeitsmethode in der Rechtspraxis mit der anwaltlichen Beratungstätigkeit, die dann ggf. einem gerichtlichen Rechtsstreit zugrunde gelegt wird. Das ist aber nur eine gedankliche Hilfsbrücke für den gutachterlichen Denk- und Darstellungsstil.

3. Rechtsstreitigkeiten unter Einbeziehung des Staates – Besonderheiten der Fallbearbeitung im Öffentlichen Recht

Der Staat kann seine Entscheidungen nicht wie eine Privatperson nach eigenem Belieben treffen. Er ist an rechtliche Ermächtigungsgrundlagen gebunden. Sie ergeben sich teils aus der Verfassung, teils stehen sie im Gesetz. Aus der durchgängigen Ermächtigungsabhängigkeit staatlichen Handelns[2] folgen strukturelle Besonderheiten des öffentlichen Rechts. Diese Besonderheiten wirken sich auf die Methodik der Fallbearbeitung im Öffentlichen Recht aus. Das führt zu Abweichungen gegenüber dem Zivilrecht und dem Strafrecht.

Die Wahrnehmung von Staatsaufgaben im täglichen Leben und der Einsatz spezifisch staatlicher Durchführungsmittel hierzu findet in unterschiedlich strukturierten Rechtsbeziehungen öffentlichrechtlicher Natur statt, aus denen sich spezifische Anforderungen an die Methode der Prüfung öffentlichrechtlicher Streitfälle ergeben Die Grundkonstellationen sind:

 |6|Die Ermächtigung des Staates zur Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Aufgaben gegenüber dem Bürger und der Allgemeinheit, falls erforderlich durch Eingriff in Bürgerrechte (Staat-Bürger-Verhältnis).

 Das umgekehrte Verhältnis: negatorische (Staatsabwehr) und positive (leistungsmäßige) Inanspruchnahme des Staates durch den Bürger (Bürger-Staat-Verhältnis).

 Innerstaatliche Rechtsverhältnisse und Rechtsstreitigkeiten, an denen der Bürger nicht beteiligt ist und die er nicht aus eigenem Recht beeinflussen kann (sog. Binnenrechtsstreitigkeiten).

Fälle und Lösungen zum Öffentlichen Recht

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