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Höchstpersönliches Vorwort
ОглавлениеWo immer ich war, wohin ich auch kam: Ständig hatten die Deutschlehrer "Don Carlos" am Wickel. Da ich vor dem Abitur ganz schön herumgekommen bin, geschah das drei Mal.
Dem normalen Leser wird es heute im Gespräch mit einem Germanisten so ergehen wie dem Schauspieler in der berühmten Anekdote:
Sire, geben Sie ... äm näh ... äh ...
Sie meinen wohl Gedankenfreiheit?
Nun, ich hatte das alles mehrfach wiedergekäut, so dass ich eigentlich hätte in der Lage sein müssen, ganze Passagen zu deklamieren oder wenigstens die Handlung herunterzubeten. Weit gefehlt. Das einzige, was ich, bevor ich mich in diesem Buch an Schiller heranmachte, noch im Kopf hatte, war die Stelle, an der die Prinzessin von Eboli den Marquis von Posa fragt Sie wollen mich doch nicht ermorden? und der Marquis antwortet In der That! Das bin ich sehr gesonnen. Das lag natürlich an der unfreiwilligen Komik der Diktion.
Ob der große Rest unwiederbringlich aus dem Hirn gedunstet oder nur zugeschüttet war, habe ich bei der Arbeit an diesem Buch erfahren, und die Nicht-Pennäler unter den Lesern dieses Leitfadens werden es für sich auch herausbekommen.
Interessanter ist gerade für die an Literatur Interessierten, wieso nichts mehr präsent ist.
Dafür gibt es, wie üblich, ein ganzes Ursachenbündel, aus dem einiges herausragt:
Da ist zum einen die Wirrnis und Unverständlichkeit der Handlung, des Stils und der Begrifflichkeit. Wie man etwa die Schüler in der späten Mittelstufe mit Götz von Berlichingen nerven kann, dessen Handlung ein einziges Kuddelmuddel ist und in dem Begriffe auftauchen, die kein Deutschlehrer erklären kann, jedenfalls nicht richtig (etwa "Urfehde schwören"), wird mir ewig ein Rätsel bleiben.
Hinzu kommt natürlich die Fremdbestimmtheit der Literatur, mit der die Schüler konfrontiert werden. Jeder Leser hat die Erfahrung gemacht, wie sich Bücher in sein Gedächtnis eingegraben haben, auf die er aus eigenem Interesse gestoßen ist.
Und schließlich, na klar, hat die Verbraucherseite im Klassenzimmer gemeinhin auch andere Interessen und Probleme als die deutsche Klassik.
Warum dann dieses Buch?
Den Schülern soll etwas an die Hand gegeben werden, was gleichermaßen Gebrauchs- und Unterhaltungswert hat. Ehemalige Schüler (und wer ist das nicht?) sollen Gelegenheit haben, ihre rudimentären Erinnerungen an die große deutsche Literatur aufzufrischen. Den Lehrern schließlich mag der Leitfaden, in dem ja viele Werke gegen den Strich durchgebürstet werden, als nebenwirkungsfreies Hausmittel gegen Betriebsblindheit dienen.
Inhalt und Interpretation sind jeweils übersichtlich und streng voneinander getrennt. Insofern kann der Leitfaden als eine Art konzentrierter Ersatz für "Königs Erläuterungen" (die hier freilich gar nicht benutzt wurden) herhalten. Die parodistische Einlage schließlich soll die Dichter und ihre Helden für kurze Zeit vom Sockel holen und den Leser ein wenig dafür entschädigen, dass es in der deutschen Hochliteratur so erbärmlich wenig zu lachen gibt.
Gegliedert ist das Ganze einigermaßen chronologisch, d. h. - von begründbaren Ausnahmen abgesehen - nach den Erscheinungs- bzw. Erstaufführungsdaten. Die ursprünglich geplante Untergliederung in Literaturepochen habe ich wohlweislich fallengelassen, um nicht in Teufels Küche zu geraten. Der Faust etwa vereint Elemente des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik, die Harzreise lässt sich ebenso gut unter die Romantik wie unter den Vormärz packen, und die Schöpfer des Michael Kohlhaas und des Siddharta passen sowieso in keine Schublade.
Für die Auswahl muss um Nachsicht gebeten werden.
Damit niemand glaubt, hier sollten die bedeutendsten Dichter und ihre größten Werke präsentiert werden, ist erläuternd hinzuzufügen, dass das wichtigste Auswahlkriterium die - zum Teil schon traditionelle - Bedeutung des Werks für den Deutschunterricht ist. Hier kommt also nicht das Beste zum Zuge, sondern das, was gemeinhin "durchgenommen" wird. Die "Judenbuche" und der "Hauptmann von Köpenick" gehören, ohne die Verdienste von Droste-Hülshoff und Zuckmayer auch nur im geringsten schmälern zu wollen, nicht gerade zur Weltliteratur, aber sie bieten sich wegen ihrer Leichtfasslichkeit für den Mittelstufenunterricht an. Mein persönlicher Geschmack hat bei der Auswahl kaum eine Rolle gespielt. Sonst hätte ich einige literarische Hervorbringungen sicherlich draußen gelassen. Welche, lässt sich an einigen Parodien ablesen. Aus Gründen der Selbstachtung musste ich allerdings auch meine persönliche Schmerzgrenze respektieren. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür, dass ich mir Anna Seghers' 7. Kreuz und Plenzdorfs neue Leiden nicht auch noch aufgeladen habe.
Auf der anderen Seite mussten unter dem schrecklichen Zwang, eine Auswahl zu treffen, Opfer gebracht werden: Hölderlin, Hebbel, Grillparzer, Keller, Storm, C.F. Meyer, Thomas Mann, Musil, Hauptmann, Kästner, Grass und Handke sind nur einige von ihnen. Und die armen Lyriker von Rilke über Hoffmannsthal und Benn bis Celan sind ganz ausgeblendet worden, denn Inhaltsangaben sind bei Gedichten überflüssig und Interpretationen ähneln dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.
Wer da meint, dass ein Nationalproporz gewahrt werden muss, mag zur Kenntnis nehmen, dass die Schweiz immerhin mit Frisch und Dürrenmatt vertreten ist. Die österreichischen Leser bitte ich um Pardon dafür, dass ich nur einen Kaukanier, nämlich Franz Kafka, gewürdigt habe. Wer einen DDR-Schriftsteller vermisst (Plenzdorf? Kunze?), muss sich mit Brecht begnügen. Der stammt zwar aus Augsburg, aber das besagt nichts für die Zuschreibung und Vereinnahmung von Literatur. Joseph Conrad ist ja schließlich auch einer der größten englischen Schriftsteller, obwohl er aus der Ukraine kam und Polnisch seine Muttersprache war.
Zitate aus den besprochenen Werken sind im Interesse besserer Erkennbarkeit ohne Anführungszeichen kursiv gedruckt.