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Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772)

Handlung

Hettore Gonzaga, Oberhaupt eines kleinen oberitalienischen Fürstentums, sieht zufällig in der Kirche die schöne Emilia und verliebt sich auf der Stelle in sie. Fortan hat er keine Lust mehr auf seine Mätresse, die Gräfin Orsina.

Dem geplanten Damentausch steht allerdings der Umstand entgegen, dass Emilia Galotti gerade den Grafen Appiani heiraten und mit ihm aufs Land ziehen will.

Der Prinz hat aber nun einen Kammerherrn namens Marinelli, der mit stillschweigender Billigung seines Chefs folgenden Plan ausheckt: Das Paar auf der Fahrt zur Trauung durch das als Räuberbande getarnte fürstliche Fußvolk überfallen, Appiani ermorden und Emilia in das Lustschloss des Prinzen entführen.

Der Anschlag gelingt. Emilia trifft den Prinzen im Lustschloss, ahnt aber noch nicht, wer hinter dem Überfall steckt. Erst nachdem auch die abgelegte Geliebte und Emilias Vater Odoardo eingetroffen sind und mit ihr gesprochen haben, geht ihr ein Licht auf. Sie sitzt in der Klemme. Einerseits verabscheut sie den Prinzen, andererseits merkt sie, wie empfänglich sie für seine Verführungsversuche ist (Verführung ist die wahre Gewalt).

Sie steht vor der Alternative zwischen Mord und Selbstmord, verwirft beide Lösungen und bittet ihren Vater, sie zu erstechen. Der tut es schließlich auch. Ehre gerettet, Tochter tot.

Prinz Gonzaga erkennt, was er angerichtet hat, aber das hindert ihn nicht, alles auf Marinelli zu schieben.

Interpretation und Kritik

Selbst auf die Gefahr hin, gleich alle Mediävisten unter den Lesern zu verärgern, muss gesagt werden, dass vor Lessing mit der deutschen Literatur nicht viel los war. Produziert wurden Minnelieder, dann eine Weile fast gar nichts, anschließend eine solide Bibelübersetzung (Luther), Bauernschwänke, derbe Geschichten, Barockopern und protestantische Kirchenlieder.

Lessing (1729-1781) lebte in der Zeit der Aufklärung, also jener vom Bürgertum getragenen geistesgeschichtlichen Epoche, die sich - nach einem berühmten Wort des Philosophen Kant - den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zum Ziel gesetzt hatte.

Die Germanisten unterscheiden zwischen drei Phasen der Aufklärung. Ihre letzte, die Spätaufklärung, ist zeitlich deckungsgleich mit der Zeit des "Sturm und Drang", zu dessen Vorläufern und Vorbildern Lessing zählte.

Der Sturm und Drang machte sich natürlich den Rationalismus der Aufklärung, die Befreiung des Denkens von religiösen Bindungen und die Frontstellung gegen fürstliche Willkür zu Eigen. Zugleich verstand er es, die frei gewordenen religiösen Kräfte an Weltliches zu binden. Die Säkularisierung (Verweltlichung) des Gefühls führte zu einer neuen Empfindsamkeit in der Literatur, zur Erfahrung der Einsamkeit und zur Überbetonung der Innerlichkeit.

Man kann also sagen, dass der aufklärerische Rationalismus nach außen hin mit einer irrationalen Innerlichkeit verschmolz.

Es fällt bei Lessing selbst - wie bei vielen anderen Dichtern - nicht leicht, ihn einer bestimmten Literaturepoche zuzuordnen. Er war sicherlich ein Vertreter der Spätaufklärung, aber ein höchst problematischer, dem wegen seiner sehr entschiedenen religiösen Bindung auch Tendenzen nicht fremd waren, die sich mit der Aufklärung beißen. Man darf ihn aber als Wegbereiter des Sturm und Drang bezeichnen, zugleich als Vorbild für die bedeutendsten Vertreter dieser Epoche, vor allem für den jungen Schiller. Und Lessing war, um einen dritten Begriff einzuführen, der Begründer des bürgerlichen Trauerspiels, und zwar im Rahmen der Neugestaltung des deutschen Dramas überhaupt.

Lessings Reformvorschläge, veröffentlicht in der Wochenzeitschrift "Hamburgische Dramaturgie", nach der Einstellung des Blatts dann in Buchform, lassen sich so zusammenfassen:

1. Die Lehre von den drei Einheiten (Einheit des Orts, der Zeit und der Handlung*) gilt nicht mehr. Nur die Einheit der Handlung muss gewahrt werden. Zeit und Ort können wechseln.

2. Die handelnden Personen des Dramas müssen gemischte Charaktere sein; Extreme erregen kein Mitgefühl.

3. Am Ende der Tragödie muss die Katharsis (Reinigung) stehen, nicht der pure Schrecken.

Diese Grundsätze hat Lessing in der "Emilia" nur teilweise verwirklicht. Seine Polemik gegen die Einheit von Zeit und Ort ist schwer verständlich, wenn man sieht, dass die Handlung auf einen einzigen Tag zusammengedrängt ist und nur zwei Schauplätze hat, nämlich die Residenz und – vorwiegend - das Lustschloss.

Die Einheit der Handlung hat er dagegen vorbildlich durchgehalten.

Der Forderung nach gemischten Charakteren entspricht am ehesten der Prinz.

Er ist auf eine durchaus empfindsame und zarte Weise in Emilia verliebt. Er zeigt menschliche Schwächen und ist sich ihrer ebenso bewusst wie seines Rollenkonflikts (individuelle Neigungen gegen Staatsraison). Er übt auch herbe Kritik an der höfischen Lebensart und ihrer geistigen Öde.

Andererseits zeigt er völlige Mitleidslosigkeit (siehe das berühmte recht gern, als ihm ein Todesurteil zur Unterschrift vorgelegt wird). Er belädt sich mit Schuld und lässt die Drecksarbeit von anderen machen. Er ist rücksichtslos, egoistisch und am Ende in seiner Schuldzuweisung an Marinelli auch noch selbstgerecht.

Aber was ist nun mit Emilia und mit Marinelli? Die eine ist in ihrer furchterregenden Tugendhaftigkeit nur gut und der anderen in seiner kriecherischen Tücke nur böse.

Kommt (siehe Prinzip Nr. 3) am Ende die Katharsis wie in der griechischen Tragödie oder das Grässliche, also der von Lessing bekämpfte reine Schrecken?

Wer seine eigene Tochter ersticht, um ihre Tugend zu retten, mag sich selbst vor der Furcht und die Tochter von künftiger Verführung gereinigt haben, aber das Schauderhafte dieses Tugenddogmatismus' überwog schon damals bei vielen Zuschauern und Kritikern.

Warum ersticht Odoardo seine Tochter und nicht, wie in der antiken Handlungsvorlage, der Virgina-Geschichte von Livius, den Prinzen? Gebiert der Klassengegensatz Bürgertum/Absolutismus hier eine gegen sich selbst gekehrte Aggressivität?

Eine Antwort ist nur möglich, wenn man sich die Scheinbarkeit der Entpolitisierung des Dramas vergegenwärtigt. Emilia Galotti ist ein politisches Drama, nur: Zentraler Wert bürgerlicher Eigenständigkeit ist nicht die Selbstbestimmung oder das Aufbegehren gegen die Willkür, sondern die Tugend. Und es geht zugleich nicht um eine revolutionäre Beseitigung des Klassengegensatzes, sondern - im Vorfeld - um die Bestätigung des bürgerlichen Selbstverständnisses und der eigenen Position durch ein Selbstopfer. Wer das völlig zu Recht für grässlich hält, sollte nicht ganz die Frage aus dem Auge verlieren, was an einer Revolution (oder auch etwa dem Volksaufstand in der Livius-Geschichte) mit all ihren unschuldigen Opfern weniger grässlich ist.

Das soll die Kritik an Lessing nicht entschärfen. Bedenklich bleibt der Umstand, dass Emilia hier einem Prinzip geopfert wird und dass Odoardo nur einen sehr flüchtigen Ansatz zur metaphysischen Revolte - Empörung über oder gegen Gott - zeigt, obwohl er selbst glaubt, dass dieser seine Tochter unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat. Aber mehr konnte ihn der Lutheraner Lessing nicht sagen lassen.

Emilia Controllotti

EMILIA. Um meiner Tugend willen, Vater, geben Sie mir den Dolch.
ODOARDO. Besinne dich! Auch du hast nur ein Leben zu verlieren.
EMILIA. Oh mein Vater, lästern Sie nicht. Das ew'ge Leben bleibt mir, das sollten Sie nicht gering achten!
ODOARDO. Gewiss, gewiss. Doch welche Seite der Ewigkeit erwartest du, wenn du dich selbst entleibst?
EMILIA. Geschieht es um der Tugend willen, wird mir der Richter unser aller gern verzeihen.
ODOARDO. Oh der verbogenen Wollust deiner Tugend! Von wo droht ihr denn Gefahr? Denkst du, man tut ihr Gewalt an?
EMILIA. Das fragen Sie, mein Vater? Der Leichnam meines Bräutigams ist noch warm, und sein Mörder will mich verführen.
ODOARDO. Mörder? Das war Marinelli, die Kanaille. Aber vielleicht hatte auch der Himmlische seine Hand im Spiel, um dich von dem Langweiler zu befreien, mit dem deine Mutter dich um ein Haar verkuppelt hätte.
EMILIA. Vater!
Odoardo (gleichfalls schreiend): Wenn du ihn je geliebt hättest, müsstest du dann die Verführungskunst des Prinzen fürchten?
Emilia (schluchzend): Ich gesteh´s ja. Der Prinz erzeugt einen Aufruhr in meiner Seele, wann immer ich nur seine Stimme höre.
ODOARDO. Dann geh mit ihm und ich stehe dafür, dass zwischen euch und seinem Schlafgemach der Traualtar steht.
EMILIA. Der Wächter meiner Tugend sollten Sie sein, mein Vater, nicht ihr Verderber.
ODOARDO. Tugend, Tugend! Ich kann's nicht mehr hören! Wozu diese Tugend jenseits der Liebe?
EMILIA. Das fragen Sie? Was unterscheidet uns Bürger von höfischer Verderbnis, wenn nicht die Tugend?
ODOARDO. Naives Huhn! Die haben die Macht, wir nicht. Das ist alles!
EMILIA. Das lügen Sie! Verderbter!
ODOARDO. Hör auf zu plärren, das ist ja nicht zu ertragen. Schluss, oder ich ....
EMILIA. Sie spotten meiner Tugend! Den Dolch!
(Der Prinz tritt ein.)
PRINZ. Was muss ich hören?
ODOARDO (im Weggehen): Gut, dass Sie kommen, Exzellenz. Um ein Haar hätte ich sie erstochen.
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