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Unbekannt

Der weiße Tiger

»Aufstehen, ihr Faulpelze! Alle in einer Reihe aufstellen«, schallte die Stimme des Primärs durch die Sklavenunterkunft. Geschmeidig erhob sich der weiße Tiger und reihte sich gehorsam ein. Er war wie alle Wesen hier nur mit einem braunen Lendenschurz bekleidet und schaute mit trostlosem Blick zu Boden. Dabei dachte er allerdings über seine Situation nach.

Vor 123 Monden war er noch frei gewesen, nun fristete er sein Leben als Sklave. Abgerichtet. Gebrochen? Nein! Einen kleinen Teil seines Willens hatte er sich bewahren können. Den anderen und vor allem dem Primär, diesem unbarmherzigen Bastard, gegenüber spielte er den willigen Sklaven. Doch er wartete nur auf seine Chance zur Flucht. Lange hatte er ausharren müssen und unzählige Erniedrigungen eingesteckt. Er konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft man ihn missbraucht hatte.

»Das ist nur zu deinem Besten«, hatte der Primär beim ersten Mal gesagt. »Wenn dein Meister mit dir unzufrieden ist, bist du tot. Also hör auf zu flennen und steh deinen Mann.«

Es hatte viel zu lernen gegeben. Wie man seinem Meister jeden Wunsch von den Augen ablas, wie man sich zu benehmen hatte, wie man sich in Form hielt, wie man zum perfekten Sexspielzeug wurde. 10 Jahre und 3 Monate waren eine verdammt lange Zeit in Gefangenschaft.

Und er wusste, dass seine Uhr ablief. Er war auf der Höhe seiner körperlichen Attribute. In ein paar Jahren würde kein Hahn mehr nach ihm krähen und dann wäre es um ihn geschehen. Also gab er stets sein Bestes, um perfekt auszusehen. Er wusste, dass die Kunden nur die mitnahmen, die ihnen auf Anhieb gefielen. Schon vier Mal war der weiße Tiger in die Endausscheidung gekommen und doch war er immer noch hier. Ein wenig Glück und die Fähigkeit sich zu präsentieren, gehörten eben auch dazu.

Ein neuer Kunde war vielversprechend. Je mehr Käufer kamen, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, gewählt zu werden. Aber neue Kunden waren auch problematisch, stellten einen Risikofaktor dar. Wie würde der neue Besitzer seine Sklaven behandeln? Was waren die Vorlieben dieses Menschen? Diese und noch viel mehr Fragen wurden insgeheim diskutiert, solange die Wesen unter sich waren, fernab der wachsamen Augen ihrer Peiniger. Schon so einige Wesen hatten die Gunst eines Käufers erregt und waren dem Schlächter Ursay entkommen. Ob es ihnen allerdings besser erging als den Zurückgebliebenen, wusste keiner. Also blieb ihnen nur die Hoffnung. Hoffnung auf ein besseres Leben. Hoffnung auf einen guten Meister.

Der Primär kam zurück in den Raum und stellte die Reihe nach seinem Willen um. Nun war der Tiger weit hinten und würde als letztes drankommen. Auch wenn ihm das nicht zusagte, verzog er keine Miene. Für die Wesen war der Primär des Händlers nicht einer der ihren, sondern eine Abscheulichkeit, ein Verräter und ein Monster, der wie alle Menschen, den Tod verdiente.

Mit wachsamen gelben Augen prüfte die rechte Hand des Schlächters die Ware, wobei er penibel Haltung und Aussehen begutachtete.

»Du«, keifte der Teufel und zeigte auf einen Hundesklaven. »Dein Blick gefällt mir nicht und dein Aussehen ebenso wenig. Raus aus der Reihe oder muss ich nachhelfen?«

Gehorsam trottete der angesprochene Sklave aus der Reihe und zu seinem Strohhaufen.

»Mach dich nützlich, Sklave. Wenn ich wiederkomme, hast du alles Stroh hier erneuert, sonst…« Mit einem dämonischen Grinsen im Gesicht wandte der Primär sich ab. »So, alle anderen der Reihe nach und zeigt euch von eurer besten Seite.«

Im Vorzimmer angekommen, mussten alle warten, um dann einzeln durch den Vorhang zu treten. Der weiße Tiger spitzte die Ohren und versuchte, die Kommentare des Kunden zur präsentierten Ware aufzuschnappen. Allerdings konnte er nur vereinzelte Wörter hören.

»Also die Otter …«

»… mein Herr … nicht zu verkaufen … schlechte Ware …«

Oh, die Otterbrüder. Ja, von denen hatte der Tigersklave gehört. Sie waren verkauft und zwei Tage später wieder zurückgebracht worden. Was genau vorgefallen war, wusste er nicht. Zu viel Neugierde war gefährlich. Am Ende war es auch egal, denn er kannte die Strafe für Misserfolg: den Tod.

Der Primär hatte also einen Fehler gemacht und dem Kunden schlechte Ware präsentiert. Sein Herz machte einen schadenfrohen Sprung, wobei er darauf achtete, seine Maske aufrecht zu erhalten. Es geschah diesem Sadisten recht, auch einmal gezüchtigt zu werden. Für diesen Fehler würde der gelbe Tiger leiden müssen, das stand fest. Er verkniff sich ein Grinsen, denn er konnte die wachsamen gelben Augen auf sich gerichtet spüren. Der weiße Tiger wusste, nur ein kleiner Fehler und er hätte keine Chance, sein Glück bei dem Kunden zu versuchen. Sekunden wurden zu Stunden und als sich der Primär von ihm abwandte, atmete er erleichtert aus. Das war nochmal gut gegangen.

Plötzlich kam Bewegung in das Monster und es stürzte sich auf eines der Wesen. »Was gibt es denn da zu grinsen, Abschaum?«, frage der Primär wütend. Der gelbe Tiger war allen anderen was Größe und Muskeln betraf deutlich überlegen und hatte keine Mühe, sein Opfer mit einer seiner Pranken gegen die Wand zu pressen. Ohne eine Antwort abzuwarten, traf die Faust des Monsters den wehrlosen Sklaven und dieser sackte bewusstlos zu Boden.

»Du, räum den Müll hier weg und stell dich wieder in die Reihe«, schnauzte er das nächstbeste Wesen an. Sein Blick glitt über die verängstigten Wesen und nun zeigte sich auf seinem Gesicht ein dämonisches Grinsen. Der Primär war die rechte Hand des Teufels und das zeigte er auch. Schnell wurde sein Befehl umgesetzt, während das Monster an seinen Platz am Vorhang zurückging.

»Der Nächste«, knurrte der gelbe Tiger und sofort trat der erste in der Reihe durch den Vorhang.

»Hm…«, war alles was der Tigersklave vom Kunden hören konnte. Einer nach dem anderen stieg durch den Vorhang und wurde abgelehnt. Der Kunde war offenbar sehr wählerisch.

Als der vorletzte Sklave zum Vorzeigen ging, konnte der weiße Tiger einen schnellen Blick auf den Kunden erhaschen. Ein Junge, ein halbes Kind. Na, wenn das nicht seine Chance war, endlich hier herauszukommen und zu fliehen. Angestrengt dachte er über seine Möglichkeiten nach.

»Du bist dran, Kleiner«, schnaubte der Primär abfällig und drängte ihn, sich zu beeilen.

Guten Mutes schritt er majestätisch durch den Vorhang. Nach vier Schritten hatte er die Plattform direkt vor den beiden Menschen erreicht. Die Augen des Jünglings fixierend streckte er sich und zeigte seinen Körper. Der Kunde ließ den Blick über ihn wandern. Ein seltsamer Ausdruck lag in diesen blauen Augen, aber das störte ihn nicht und so wartete er geduldig ab. Genau in dem Moment, als der Blick des Knaben auf seinem Lendenschurz ruhte, setzte er seinen Plan um. Mit einer eleganten Bewegung durchschnitt der Tiger mit einer seiner scharfen Krallen den dünnen Stoff und entblößte sich völlig.

Dazu räkelte er sich ausgiebig und schenkte dem Knaben einen verführerischen Blick. Früher hätte er sich geschämt, nackt vor einem anderen so zu posieren. Früher… Das war lange Vergangenheit. Vor der Gefangenschaft; vor dem, was man ihm angetan hatte. Scham war das erste, was sie einem als Frischfleisch austrieben und heute wusste er, dass sein Körper seine einzige verbleibende Waffe war. Diesen Trumpf auszuspielen, war jedoch ein gefährliches Unterfangen. Bei einem Misserfolg würde er lange nicht vorzeigbar sein.

Aus den Augenwinkeln sah er die Zornesröte im Gesicht des Händlers. Jetzt konnte er nur still beten und hoffen, erwählt zu werden. Stille kehrte ein und nichts geschah. Dann errötete der Junge und hob den Blick. Der weiße Tiger konnte einen Schauer nicht unterdrücken. Diese kristallblauen Augen, dieser wissende, unergründliche Ausdruck, das passte überhaupt nicht zur Schamesröte des Menschen.

Nach wenigen Momenten wandte sich der Kunde an den Händler und stammelte: »Den, ähm, nehme ich.«

Erleichtert atmete der weiße Tiger aus. Er hatte es geschafft. Dieser Knabe würde nicht lange zwischen ihm und seiner Freiheit stehen. Innerlich begann er bereits Fluchtpläne zu schmieden. Noch einmal schenkte sein alter Meister ihm einen bösen Blick, dann wandte sich der Geschäftsmann dem Kunden zu und beachtete den Sklaven nicht weiter.

»Eine vortreffliche Wahl, mein Herr«, schmeichelte er. Mit einer schnellen Geste schickte er den erwählten Sklaven auf ein Podest. Demütig und mit gesenktem Kopf stellte der junge Tiger sich auf den ihm zugewiesenen Platz.

»Wünscht der Herr vielleicht noch ein paar exquisite Spielsachen?«, fragte der Händler, schnippte mit den Fingern und der Vorhang der kleinen Bühne wurde hochgezogen. Zum Vorschein kamen allerlei Dinge. Vom Netzhemd über diverse Dildos und Mundknebel, bis hin zu Peitschen und chirurgisch aussehenden Werkzeugen. Die Augen des Jungen weiteten sich. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, stand er auf, um sich die Spielsachen genauer anzusehen. Der Kunde stöberte ein wenig und besah sich die Lederfesseln genauer.

»Ich nehme die hier. Das hier. Und oh Gott…, was ist denn das

»Das, mein Herr, ist eine neunschwänzige Lederpeitsche mit Stahlkuppen, ein gutes Instrument zum Züchtigen, sowie für die Entspannung des Meisters nach einem harten Tag geeignet.«

»Ok, das auch.« Mit diesen Worten wandte sich der neue Meister von dem Sammelsurium ab und ging zu seinem Platz zurück. Unmerklich schluckte der weiße Tiger. Dieser Knabe war genauso ein Sadist wie der Rest seiner Rasse. In stillen Gedanken schwor er sich, ihm jeden Schlag zweimal zurückzuzahlen, bevor er ihm das Leben nahm.

Der Händler schien überglücklich zu sein, einen Seelenverwandten und guten Kunden gefunden zu haben. »So, mein Herr. Wie soll Euer Eigentum gekennzeichnet werden? Wir haben Halsbänder, stählerne Arm- und Fußfesseln, Ohrmarken und unseren Verkaufsschlager: die Brandzeichnung.«

»Zeig mir doch bitte die Halsbänder. Aus weichem Leder, wenn ich bitten darf«, antwortete der Kunde und genehmigte sich einen Schluck aus seinem Glas.

Kein Brandzeichen? Das waren doch gute Nachrichten. Fast war der Tiger versucht, dem Menschen zum Dank einen schnellen Tod zu gewähren.

Tief über die Lederwaren gebeugt, fuhr der Knabe sanft mit seinen Fingern über die Auswahl. Der Tiger indes nutzte seine Chance und hob verstohlen den Blick. Erneut trafen sich die Augen von Wesen und Mensch. Er wollte sich rasch abwenden, aber etwas in dem Blick des Jungen hielt ihn ab. Irritiert stellte der Sklave fest, dass weder Feindseligkeit noch Heimtücke von den blauen Kristallen ausging. Nein, eher ein warmer Ausdruck zeigte sich ihm. Der Knabe sah kurz zur Ware und fixierte seinen Sklaven anschließend wieder. Schnell folgte auch der junge Tiger dieser Aktion und sah den Finger des Menschen langsam über die Ware gleiten. Es schien fast, als ob sein Meister ihm die Wahl lassen wollte. Das war verrückt und er wandte sich rasch ab. So etwas war zu unwahrscheinlich, um wahr sein zu können. Er hörte zu, wie der Kunde sich eines der Lederbänder aussuchte. Er konnte es nicht lassen und hob erneut den Blick. Sein Herr hatte sich für ein feines schwarzes Lederhalsband mit silbernem Anhänger entschieden.

Sofort erhob der Schlächter erneut das Wort: »Wenn der Herr mir sein Siegel überreichen möge, dann bringen wir es sofort an.«

»Nicht nötig«, mit diesen Worten zog der Knabe seinen Siegelring vom Finger und drückte ihn auf den Anhänger. Eine blaue Flamme erschien und erlosch wenige Augenblicke später. Als sich der Ring vom Anhänger löste, kam eine Art Wappen zum Vorschein. Ein rotes Symbol in einer unbekannten Sprache in mitten eines blauweißen Wirbels.

Sprachlos starrte der Händler auf das Wappen. Nein, nicht auf das Siegel, sein Blick galt dem Ring, den er gierig betrachtet.

»So, das wäre dann alles. Also … fassen wir nochmal zusammen. Ich nehme den weißen Tiger, das Buch über Sklavenerziehung, die Lederhandfesseln, das Netzhemd mit Lederhose, die Peitsche und das Halsband.«

»Ähm …, ja Herr. Lassen Sie mich das schnell zusammenrechnen«, stotterte Ursay, sichtlich bemüht, seine professionelle Haltung zurückzuerlangen.

Der Händler begann mit den Zahlen zu jonglieren und kritzelte dabei auf einem Zettel herum.

»Und kommen wir nochmal auf die Otterbrüder zurück«, begann der Junge und brachte den Geschäftsmann abermals völlig durcheinander. »Wenn ich dich recht verstanden habe, handelt es sich bei den beiden um fehlerhafte Ware, die entsorgt werden muss?«

Ein Nicken des Geschäftsinhabers bestätigte diese Annahme und der Knabe fuhr fort: »Na, dann schlage ich einen besseren Weg vor. Wie wäre es, wenn ich dich von dieser Last befreie? Dann hätten wir beide etwas davon. Ich könnte die beiden als Dekoration über den Kamin hängen und du sparst dir weitere Kosten für die Entsorgung und so weiter. Deal?«

Ursay hatte offenbar Mühe, den Worten seines Kunden zu folgen und sah etwas dämlich drein. Doch bevor er antworten konnte, setzte der neue Meister nach: »Ich bin müde und würde die Transaktion gerne schnell beenden. Als Bezahlung sollte das hier mehr als genug sein.« Bei diesen Worten stand der Kunde auf und zog einen leuchtenden, zeigefingerlangen, roten Kristall hervor.

Die Augen des Händlers fixierten das Kleinod und nahmen einen noch gierigeren Ausdruck an. Er nahm den Stein entgegen und ergötzte sich an dessen Schönheit. Ohne den Schatz auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen, gestand der Händler gequält: »Mein Herr, ich muss leider sagen, das ist viel zu viel. Ich bin zwar kein Fachmann, aber ich schätze den Wert auf mindestens zehn meiner besten Sklaven. Das kann ich nicht annehmen.«

»Du, Primär, bring die zwei Otter zu meinem Wagen und steck sie in den Kofferraum. Tiger, ich bin nun dein Meister, leg dein Halsband an und trag meine übrigen Einkäufe.«

In beide Katzenwesen kam Bewegung und sie führten ihre Aufträge gehorsam aus. Während der Primär sich schnell eine Bestätigung von seinem Meister holte, musste sich der kleinere Tiger stark zurückhalten, nicht vor Zorn zu zittern. Die Otter hatten ein solches Schicksal nicht verdient. Niemand verdiente ein solches Schicksal.

Der Junge dehnte gelangweilt die Muskeln und strich sich danach die Robe glatt. Ohne den Blick von seiner Ware zu lassen, sagte er: »Ich möchte nun gehen. Was mein Guthaben anbelangt, so werden wir uns bei meinem nächsten Besuch bestimmt einig werden. Einen guten Tag noch und auf gute weitere Geschäfte.«

Der Händler sprang auf die Beine und verbeugte sich tief. »Ich wünsche Euch einen wunderschönen guten Tag, mein Herr, und viel Spaß mit Eurem neuen Sklaven. Sollte etwas nicht zu Eurer Zufriedenheit sein, scheuen Sie sich nicht, mich zu verständigen.« Mit einem Kopfnicken quittierte der Kunde Ursays Worte und ging schnellen Schrittes in Richtung Ausgang. Sein Wesen folgte ihm in gebührendem Abstand.

Als die beiden das Geschäft verließen, kam ihnen der Primär entgegen. Mit einer tiefen Verbeugung sprach er: »Eure Waren wurden verstaut, werter Herr.«

Ein Nicken war die einzige Erwiderung des Jungen. Schnell überholte der weiße Tiger seinen Herrn und hielt ihm ergeben die Tür des Wagens auf, dabei flötete er: »Meister.«

»Gut, gut. Du bist ein braver Sklave.« Mit diesen Worten verschwand der Knabe im Auto.

Hastig beeilte sich der Sklave, nachzukommen. Er warf noch einen Blick zurück. 10 Jahre und 3 Monate war er hier gefangen gewesen und es gab keine einzige gute Erinnerung an diesen Ort. Nur Schmerz, genug für ein ganzes Leben, verband er mit diesem Komplex des Grauens. Er konnte sich ein erleichtertes Lächeln nicht verkneifen. Nun begann ein neuer Abschnitt. Eine neue Hoffnung. Der Mensch, sein neuer Meister, würde nicht lange zwischen ihm und seiner Freiheit stehen.

Das schwor er sich und schloss die Fahrgasttür. Damit ließ er sein altes Leben hinter sich und bereitete sich auf die Zukunft vor.

Das Haus des Meisters

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