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Kiyoshi

Auf Erkundungstour

Mit offenem Maul stand Kiyoshi vor dem Schreibtisch. Das Wort geschockt beschrieb nicht mal annähernd seinen Geisteszustand. Er las die Regeln ein zweites Mal. Doch konnte sein Geist nicht alles auf einmal verarbeiten. Er konnte einfach nicht begreifen, was da stand. Nachdem er den Kopf geschüttelt hatte, las er die Regeln noch ein drittes Mal. Doch diesmal Zeile für Zeile.

Am Ende angelangt, war er immer noch so schlau wie zuvor. Das ergab keinen Sinn. Kein normaler Mensch würde einem Sklaven befehlen, sich nicht an die Sklave-Meister-Regel zu halten. Auch war es ihm, wie allen Wesen, eingeprügelt worden, wie er sich zu benehmen hatte, wie er zu reden hatte und so weiter. Ein Sklave war ein Gebrauchsgegenstand und wurde nicht einmal als Lebewesen angesehen. Das war die Realität.

Sollte sein Herr wirklich anders sein als der Rest dieser Rasse? Bisher hatte er ihn jedenfalls gut behandelt, mehr als gut. Bei diesem Menschen hatte er nicht das Gefühl, nur ein Gebrauchsgut zu sein. Der Knabe hatte sich ihm gegenüber sehr anständig verhalten und sogar mehrmals versucht, ihren Beischlaf zu verhindern. Aus Rücksicht vor seinen Gefühlen, jedenfalls hatte sein Herr es so formuliert. Schnell verwarf er diese wirren Gedankengänge. Alle Menschen waren sadistische, seelenlose Monster und er ging zur fünften Zeile über. Egal, ob diese Regeln nun wahr waren oder eine Falle, er würde auf gar keinen Fall den Posten als Primär annehmen. Zu verhasst war eben diese Position. Allerdings würde ihm keine Wahl bleiben, wenn sein Herr es ihm befahl. Er konnte nur beten, dass ihm dieses Schicksal erspart bleiben würde.

Dass es Räume gab, zu denen er keinen Zutritt hatte, kannte er bereits. Seltsam war nur, dass der Meister ihm Zugang zum Garten gewährte. Welcher Mensch wollte schon, dass sein Eigentum nicht greifbar war, wenn es ihm danach verlangte? Den Teil mit den sexuellen Gefälligkeiten übersprang er geflissentlich. Der Mensch würde sich sowieso nehmen, was er wollte. Was die Gewalt gegen Wesen betraf, wunderte sich Kiyoshi etwas. Wesen kämpften nicht mit ihresgleichen, außer sie wurden dazu gezwungen. Als Sklaven fristeten sie alle dasselbe beschissene Leben, da mussten sie es sich nicht auch noch gegenseitig schwer machen.

Die elfte Regel ergab für ihn gar keinen Sinn. Ein Sklave hatte kein Eigentum. Nein, er war das Eigentum seines Herrn. Die nächste Zeile ließ ihn schwer schlucken. Das konnte nur ein böser Scherz sein. Sein Meister würde ihm niemals die Freiheit schenken. Nein, das war absolut unmöglich. Doch obwohl er es nicht wollte, keimte Hoffnung in ihm auf. Wie ein kleines schwaches Flämmchen kurz vor dem Erlöschen.

»Diese Regeln sind kein Scherz. Es wird keine Strafe geben, wenn du dich daranhältst«, rezitierte er die letzte Zeile auf dem Blatt. Er wusste einfach nicht, was er davon halten sollte. Doch die Flamme der Hoffnung nährte sich von diesen Worten und wurde größer. Wer oder was war dieser Mensch? Ein Samariter oder ein Dämon, so recht konnte er sich jedenfalls keinen Reim auf das alles machen.

Gedankenverloren strich Kiyoshi über sein Fell und ertastete eine verklebte Stelle. Erschrocken kehrte er ins Hier und Jetzt zurück und sah an sich herab. Auf seiner Brust und seinem Bauch waren die Spuren seines Techtelmechtels zurückgeblieben. Tief in Gedanken beschloss er sich zu reinigen. Es war sowieso seine Pflicht als Sklave, sich immer sauber zu halten. Mit zuckenden Maulwinkeln erinnerte er sich an den Ausdruck, den der Schlächter dafür verwendete: Benutzerfreundlich. Und schon wieder drehten sich seine Gedanken um sein erbärmliches Dasein.

Automatisch setze Kiyoshi sich in Bewegung und verweilte lange in der gläsernen Dusche. Mit einer Pfote an die Wand gestützt hieß er das warme Wasser willkommen und ging nochmals die neuen Regeln durch. Zudem dachte er über seinen Herrn und seine momentane Situation nach und kam schlussendlich zu zwei Erkenntnissen: Erstens, sein Meister war wirklich nicht wie die anderen. Und zweitens, er traute ihm dennoch nicht über den Weg. Das wiederum erklärte nicht, wie er sich seinem Herrn gegenüber verhalten sollte. Auch wenn seine innere Stimme tobte, auf keinen Fall der Verlockung dieser Regeln nachzugeben, so kam er nicht umhin, sich vorzustellen, welch gutes Leben er hier führen könnte.

Sein Herz schlug schneller bei diesem Gedanken und das nährte seine Hoffnung auf Glück und Freiheit noch. Sollte der Mensch ihn verarschen wollen, so konnte er ihn immer noch beseitigen und dann endlich frei sein. Er ließ sich einfach treiben. Es war so verlockend, auf diese Zeilen einzugehen, einfach so verlockend.

Leise flüsterte er sich selbst zu: »Er will mir die Freiheit geben. Das ist alles was ich mir wünsche, alles was ich je ersehnte, meine Freiheit.«

Urplötzlich begann er zu schluchzen. Es war zu viel für ihn. Eingefangen, versklavt, verkauft, abgelehnt. Er war erstaunt über das Zimmer, hatte freiwillig mit dem Meister geschlafen und dann diese Regeln. Seine Gefühle, die er so lange unterdrückt hatte, bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche und zerschmetterten sämtliche Barrieren. Von der Flamme der Hoffnung gestärkt, konnte er sie nicht länger zurückhalten.

Unter haltlosen Tränen brach er in der Dusche zusammen. Alles, was er seit Jahren unterdrückte, bahnte sich einen Weg aus der hintersten Ecke seines Unterbewusstseins und er wusste selbst nicht, ob er traurig, wütend, aufgelöst, ängstlich oder sogar glücklich war. Sein Herr war gut zu ihm gewesen und an diese Hoffnung klammerte er sich, wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz.

Er brauchte lange, um sich auch nur einigermaßen zu beruhigen. Als er wieder stehen konnte, beendete er seine Fellpflege und trocknete sich ab. Das benutzte Handtuch flog im Vorbeigehen in den Wäschekorb und er setzte sich auf eine der Fensterbänke. Mit angezogenen Beinen saß er einfach nur da und starrte ins Dunkel der Nacht. Selbst seine Katzenaugen konnten diese vollkommene Dunkelheit nicht durchdringen. Die Welt jenseits der Scheibe schien ihm wie ein unendliches schwarzes Loch.

Erneut begannen Emotionen in ihm hoch zu kochen, aber er kämpfte sie einfach nieder. Er war nicht so töricht einem Menschen zu vertrauen, egal wie gut er ihn bisher behandelt hatte.

Plötzlich erschien am Horizont ein Lichtschimmer. Die Strahlen der aufgehenden Sonne fochten einen Kampf mit der Dunkelheit aus und gewannen allmählich die Oberhand. Kiyoshi beobachtete, wie das Licht sich über das Gelände ergoss und auch sein Herz erwärmte. Vielleicht sollte er einfach abwarten, ob sein Meister ihm wohlgesonnen war. Der Tiger genoss einen Augenblick die Wärme des neuen Tages, bevor er sich das Gelände genauer ansah.

Ein breiter Weg verlief vor der Eingangstür rund um einen großen Wasserspeier. Links verlor sich der Weg in einer Gruppe von Bäumen. Hinter dem Brunnen war eine riesige Wiese mit vereinzelten Büschen in Gestalt von Fabelwesen. Erstaunlich war, dass er keinen Begrenzungszaun sehen konnte. Das Grundstück musste gewaltige Ausmaße haben.

Sein Magen gab ein dumpfes Knurren von sich und er wandte sich vom Garten ab. Wann hatte er das letzte Mal etwas zu Fressen bekommen? Hungrig sah er sich im Zimmer um und sein Blick blieb am Kleiderschrank hängen. Vorsichtig näherte er sich diesem, öffnete die Schranktüren und hielt den Atem an.

Fein säuberlich eingeordnet lagen dort einige Kleidungsstücke. Auch das Netzhemd und die Lederhose, die der Meister einen Tag zuvor gekauft hatte, waren da. Sollte er oder sollte er besser nicht? Sein Herr hatte ihm noch nicht gesagt, was er zu tragen hatte. Andererseits, wenn es nach den Hausregeln ging, konnte er machen, was er wollte. Diese Ungewissheit nagte an ihm und er beschloss auf Risiko zu gehen und aufzuklären, ob der Mensch es ernst meinte oder eben doch nicht.

Kiyoshi stöberte ein wenig herum und entschied sich für eine schlichte leichte Hose aus feinem Stoff in einem eleganten schwarzen Farbton. Dazu nahm er noch ein rotes T-Shirt mit einer schwarzen Bärentatze drauf. Die Kleidung war ein wenig zu groß für ihn, aber das störte ihn nicht weiter. Immerhin war fast alles besser als der Lumpen, den er bisher tragen musste.

Nachdem er sein Erscheinungsbild im Spiegel überprüft hatte, verließ er sein Zimmer. Vor dem Raum knurrte sein Magen erneut. Da aber sein Herr ihm nichts zu Fressen gegeben hatte, musste er sich wohl oder übel beschäftigen, bis er etwas bekam.

Deshalb entschied Kiyoshi, sich ein wenig abzulenken und das Haus zu erkunden. Er wollte nicht mit den gehirnamputierten Ottern reden, also ignorierte er deren Tür und sah sich die anderen Räume im Gang an.

Alle Zimmer waren identisch eingerichtet. Ein großes Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und eine gläserne Dusche. Nur die Farbgestaltung war unterschiedlich und in keinem der anderen Räume war ein Baumstumpf zu sehen.

Nachdem er diesen Korridor inspiziert hatte, wandte er sich der Eingangshalle zu. Außer den beiden Treppen und den vielen verschiedenen Wappen gab es hier nichts Außergewöhnliches zu sehen. Vom Vorraum gingen mehrere Türen ab. Im ersten Stock führte ein Rundbogen zu einer zweiten Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Aber auch hier waren nur Schlafzimmer zu finden.

Im Erdgeschoß gab es zusätzlich zu den Türen in den rechten und linken Flügel noch eine Tür gegenüber dem Haupteingang. Sie führte nach draußen hinter das Haus. Das Gelände um das Gebäude wollte er sich für später aufheben und er wählte als nächstes den linken Flügel im Erdgeschoss.

Hier gab es zwei große Wohnzimmer mit gewaltigen Flachbildschirmen und gemütlich aussehenden Sitzgelegenheiten. Ein anderer Raum beinhaltete eine gut ausgestattete Bibliothek, mit gemütlich aussehenden Sesseln zum Lesen. Auch ein Zimmer mit Schränken und Tischen gab es. Ein Fitnessraum mit mehreren verschiedenen Gerätschaften wartete hinter der nächsten Tür auf Benutzung. Hinter einer anderen Tür befand sich ein luxuriöses Badezimmer. Eine Gästetoilette. Der letzte Raum allerdings war irgendwie eigenartig.

In der Mitte war ein mit Steinen umrandeter Sandkasten. Die Tapete an den Wänden ließ einen glauben, auf einer Waldlichtung zu stehen. Im Zentrum des Sandkastens befand sich eine große steinerne Fläche. Auf dem Sand waren Linien gezogen und ein Rechen lag am Rand auf dem Boden. Kiyoshi konnte sich nicht erklären, welchen Nutzen dieser Raum haben sollte.

Nachdem er wieder in die Eingangshalle getreten war, suchte er nach der schwarzen Tür. Unter der linken Treppe fand er sie. Die ist tabu, sagte er sich im Gedanken und erkundete anschließend den rechten Flügel. Dieser Bereich war anscheinend für offizielle Anlässe reserviert. Es gab ein Arbeitszimmer; ein Wohnzimmer mit Kamin und gläsernen Vitrinen an den Wänden; ein Badezimmer mit beachtlicher Ausstattung und zwei Speiseräume von unterschiedlicher Größe und Farbgestaltung. Zudem hatten diese beiden Räume je einen Durchgang, der zu einer imposanten Küche führte.

Dort fand der Sklave den Hausherrn. Mit dem Rücken zur Tür, durch die der Tiger gekommen war, stand der Junge an der Arbeitsplatte und werkelte an irgendetwas herum. Heute trug der junge Herr eine rote Robe, die mit einer goldenen Schnur um die Taille zusammengehalten wurde. Zusätzlich hatte er sich für bequem aussehende Sandalen entschieden.

Wie einfach wäre es, diesen Mann nun von hinten zu attackieren, ging dem Tiger durch den Kopf.

»Guten Morgen, Kiyoshi«, sprach der Junge freundlich und erschreckte den Sklaven.

»Guten Morgen, Meister«, erwiderte er und verbeugte sich tief. Der Mensch hatte ihn bemerkt? Wie?

Mit einem Blick über die Schulter erklärte der Junge geduldig: »Du musst dich nicht vor mir verbeugen. Hast du meine Regeln gelesen?«

»Ja, Meister, das habe ich«, sprach der Sklave immer noch in gebeugter Haltung.

»Gut. Hast du irgendwelche Fragen?«

Kiyoshi biss sich auf die Unterlippe und sprach sich innerlich selbst Mut zu. Er musste einfach herausfinden, was es mit diesen Hausregeln auf sich hatte. Mit zitternder Stimme fragte er kleinlaut: »Sind diese Regeln wirklich Euer Ernst, Meister?«

»Ja«, war alles was sein Herr dazu sagte.

Verdutzt öffnete er seine Augen, die er panisch zusammengekniffen hatte, sah auf und redete schneller, als er denken konnte: »Wann werdet Ihr mir die Freiheit schenken?«

Während des Gesprächs hatte der Meister mit einem Messer verschiedene Dinge zerkleinert, nun hielt er inne und seufzte. Erneut begann der Tiger ängstlich zu zittern. Was hatte er sich nur dabei gedacht, so eine Frage zu stellen? Innerlich bereitete er sich auf eine Bestrafung vor. Er presste die Augen zusammen und erwartete das Schlimmste, als sein Herr seufzend die Stimme erhob: »Das kann ich dir leider nicht genau sagen. Es genügt nicht, dich einfach gehen zu lassen. Sollte man dich erwischen, wäre das dein Todesurteil. Und das möchte ich nicht. Ich kann dich erst gehen lassen, wenn die Zeit reif ist.«

Er konnte es kaum glauben. Sein Herr hatte ihn nicht nur verschont, nein, er hatte ihm sogar eine, wenn auch rätselhafte, Antwort gegeben. Angestachelt von seinem bisherigen Erfolg, wagte er es, offen zu dem Menschen zu sehen. Dieser hatte sich derweil umgedreht und musterte ihn eindringlich. Die blauen Kristalle zogen ihn erneut in ihren Bann und er fühlte sich weit mutiger als zuvor.

»Und wann genau ist die Zeit reif?«, wollte Kiyoshi unbedingt in Erfahrung bringen.

Der Knabe seufzte erneut und erklärte traurig: »Nicht jetzt, nicht morgen. Vielleicht wird die Zeit nie reif sein. Ich kann es dir nicht sagen. Wenn du gehen willst, werde ich dich weder aufhalten noch die Behörden informieren. Nein, dann wünsche ich dir alles Gute und viel Glück. Nur bedenke, sobald du mein Grundstück verlässt, kann ich nichts mehr für dich tun. Dann bist du auf dich allein gestellt.«

Erneut wollte Kiyoshi das Wort erheben, doch der Junge hob die Hand und gebot ihm zu schweigen. »Hier, auf meinem Grund, sollst du frei sein. Du kannst tun und lassen, was du willst. Ich fordere nur, dass du dich an die Hausregeln hältst, nicht mehr, nicht weniger.«

Mit einem aufmunterndem Lächeln auf den Lippen erklärte der Mensch weiter: »Du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben. Ich werde dich nicht bestrafen.« Dann wandte er sich ab und erneut seiner Arbeit zu. Nach einer Weile des Schweigens, in der Kiyoshi seinen Gedanken nachhing, stellte der Meister die Schalen, in die er bis eben noch geschnittene Stücke hineingelegt hatte, auf den Servierwagen neben sich und fragte mit fester Stimme: »Willst du mit mir frühstücken?«

Kiyoshi richtete sich auf. Ganz in seinem Sklavendasein gefangen, war er einfach in demütiger Haltung vorübergebeugt stehen geblieben. Mit scheuem Blicken besah er sich den Inhalt der vielen Schalen. Er hatte zwar Hunger, aber es widerstrebte ihm, mit dem Hausherrn zu speisen, also sagte er kleinlaut: »Ich habe keinen Hunger, Meister.«

»Sicher? Dein Magen behauptet aber was anderes«, gluckste der Knabe und sah belustigt zu ihm. Ein dumpfes Magenknurren erklang. Zum Glück konnte der Tiger nicht erröten. Ein verräterisches schiefes Grinsen stahl sich in sein Gesicht.

Schnell sammelte er sich und knurrte: »Ich will nicht mit Euch zusammen essen.« Der Sklave wusste, dass es ihm nicht zustand, so etwas zu sagen, aber er wollte einfach wissen, woran er war und ob sein Herr seine Worte ernst meinte.

Der Junge zuckte zusammen und senkte traurig den Blick. Anschließend räusperte er sich und offenbarte: »Dann werde ich in meinem Büro speisen. Ich möchte dir meine Gegenwart nicht aufdrängen.« Ohne ein weiteres Wort schnappte sich der Mensch eine der Schalen und rauschte in Richtung Gang ab.

Verwundert sah Kiyoshi seinem Herrn hinterher. Dieses Gespräch war ebenso seltsam, wie sein Meister es war. Aber eines wusste er jetzt: Die Hausregeln waren kein absurder Witz. Ausgehungert näherte er sich den übrigen Schalen. Mit großen Augen besah er sich den Inhalt. Es gab verschiede Sorten von Fleisch, teils gekocht, teils roh, gebratenen Fisch, Rührei, Obst und noch vieles mehr. Alles war mundgerecht kleingeschnitten und wartete nur darauf, verschlungen zu werden. Ihm lief das Wasser im Maul zusammen und er zog mit zitternden Pfoten die Schale mit dem Fisch zu sich.

Kein Abfall, keine Essensreste, das war der Himmel auf Erden. Er konnte einfach nicht widerstehen und verschlang den gesamten Inhalt der Fischschale. Mit bloßen Pfoten stopfte er sich das Fressen ins Maul und verdrückte die eine oder andere Träne bei diesem herrlichen Geschmack. Seit Jahren hatte er nichts Vergleichbares zwischen die Zähne bekommen. Nachdem die erste Schale geleert war, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Als nächstes machte er sich über das rohe Fleisch her und anschließend über das gebratene. Er bediente sich sogar an der Obstschale.

Nach nur wenigen Minuten waren die meisten Schalen bis auf das letzte Krümelchen geleert und er leckte sich die Finger sauber. Erst jetzt bemerkte er das bereitgelegte Besteck auf dem Servierwagen. Wollte der Mensch etwa, dass er vornehm mit Messer und Gabel aß? Von gleich zu gleich? Vor seinem inneren Auge sah er sich neben dem Menschen am Tisch sitzen, bewaffnet mit Besteck. Bei diesem Bild lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Nein, das war einfach undenkbar. Andererseits konnte man bei diesem Meister nie wissen, was diesem im Kopf herumging.

Um sich von diesem Bild abzulenken, inspizierte er den Raum. Sein Blick blieb an der dreckigen Schneidefläche hängen, die sein Herr zurückgelassen hatte. Einen Moment lang kämpfte er mit sich selbst, bevor er zu einem Entschluss kam. Genervt murmelte er: »Als Dank für das gute Essen mache ich hier sauber. Aber nicht, dass das zur Gewohnheit wird. Immerhin darf ich tun, was ich will und sauber machen zählt wohl kaum zu den Dingen, die ich unbedingt machen will.«

Gesagt getan, schon begann er die Sauerei zu beseitigen. Nach kurzer Zeit fand er sich in der Küche zurecht. Alle Schränke waren einem akribischen Ordnungssystem untergliedert, wodurch er es leicht hatte, alles zu finden. Zudem waren die Schränke beschriftet und so stellte selbst die schiere Größe dieses Raumes kein Hindernis dar. Nach gerade mal zehn Minuten glänzte die Arbeitsplatte, die leeren Schalen, Messer und Schneidebrett waren gesäubert und weggeräumt. Die restlichen Lebensmittel deckte er mit einer durchsichtigen Folie ab, die er in einer der Schubladen gefunden hatte. Zufrieden mit seinem Werk nickte er und schlenderte Richtung Gang.

Als er nach der Klinke greifen wollte, schwang die Tür auf und der Meister trat ein. In einer Hand einige Zettel, in der anderen eine leere Schale. Vor sich hin murmelnd dieser: »… allen Menschen werden Grundrechte zugesichert. Ausgenommen hiervon sind die Magier, die dem Reigen des Magus unterliegen. Hm, da steht nichts über Mischformen oder Tiermenschen.«

Völlig in Gedanken stellte der Meister die Schale auf die Arbeitsplatte, sortierte seine Blätter neu und begann erneut zu sprechen: »Urteil durch den Großmagnat: Der Meister gegen den Sklaven. Begründung des Urteils: Tiermenschen und Mischwesen besitzen keinerlei Rechte. Urteil: Tod durch den Strick. Hm, kein Bezug auf die Grundrechte im Urteilsspruch. Ich brauche wesentlich mehr Informationen…«

Gedanklich bei seinen Zetteln wandte sich der Junge um und ging geradewegs durch die Tür zum Korridor. Mit einer Pfote die Tür aufhaltend starrte der Sklave seinem Meister hinterher.

Hat mein Herr mich überhaupt bemerkt, fragte er sich erstaunt über das seltsame Verhalten. Immer noch vor sich hin grübelnd ging der nun in sein Büro und war verschwunden.

Kiyoshi schüttelte den Kopf und kümmerte sich um die leere Schale. Dieser Junge war nicht wie andere Meister, ging es ihm durch den Kopf. Er wusste nicht einmal, warum sein Herr solche Dinge las. Na ja, das sollte nicht sein Problem sein. Und so streifte er durch den Gang und die Eingangshalle auf dem Weg zur Gartentür.

Den Rest des Tages wanderte er über das Grundstück und fand dabei allerlei interessante Dinge. Direkt hinter dem Haus war ein Gartenbereich mit Pool. Zudem gab es mehrere Liegen sowie Stühle, Bänke, Sonnenschirme und auch einen Grillplatz. Dieser Bereich wurde durch eine niedrige Hecke abgetrennt. Hinter der Begrenzung erstreckte sich ein weitläufiges Gelände, mit Wiesen, Bäumen und Blumen. Auf einer Waldlichtung nordwestlich vom Herrenhaus lag der Eingang zu einer Gruft. Da die Tür sich nicht öffnen ließ, schenkte er diesem Bauwerk keine weitere Bedeutung. Östlich vom Pool entdeckte er einen weiteren, kleineren Pool, versteckt hinter einer hohen Hecke.

Als die Sonne langsam unterging, machte er sich auf den Rückweg. Der Hunger trieb ihn in die Küche. Dort fand er einen abgedeckten Teller auf der Anrichte. Vor dem Teller stand ein kleines Schild mit seinem Namen in einer verschnörkelten Handschrift. Mit großen Augen sah Kiyoshi unter die Abdeckung. Zum Vorschein kamen ein großes Steak, Kartoffelbrei und ein wenig grünes Gemüse. Neben dem Teller lag eine gefaltete Serviette, mit eingestecktem Besteck. Keine zwanzig Minuten später war der Teller vom Essen befreit und lag sauber im Schrank bei den anderen. Diesmal hatte er sogar versucht, mit Messer und Gabel zu essen, war aber schnell davon abgewichen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Auch diesmal wollte er sich um den Abwasch kümmern, jedoch konnte er, außer den von ihm selbst benutzen Dingen, keine weiteren finden. Der Meister hatte wohl schon aufgeräumt.

Gesättigt ging er langsam zum Verbindungskorridor zurück. Auf halbem Weg durch den Gang fand er die Bürotür einen Spalt geöffnet. Durch diesen lugte der neugierige Tiger in den Raum und fand den Meister auf dem Sofa schlafend vor. Um den Menschen herum und zum Teil auch auf diesem, lag ein Sammelsurium von Papieren und Ordnern.

So leise er konnte, schlich er sich ins Zimmer. Sein Herr lag friedlich und vollkommen wehrlos da und schnarchte ganz leise. Das wäre der perfekte Zeitpunkt, den Menschen zu beseitigen. Aber insgeheim musste er sich eingestehen, dass er diesen Knaben irgendwie gernhatte.

Mit einem stummen Seufzen auf den Lippen sammelte er die Akten rund um seinen Meister ein und legte sie fein säuberlich auf den Schreibtisch. Dann stand er vor dem Jungen, unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Jetzt, wo er darüber nachdachte, konnte er sich nicht erinnern das Schlafzimmer des Menschen gefunden zu haben. Also konnte er ihn auch nicht ins Bett bringen, wenn er das denn überhaupt getan hätte. Er sah sich um und fand eine Decke auf einem Stuhl in der Nähe. Diese breitete der Tiger über ihm aus, sorgsam darauf bedacht, den Meister nicht zu wecken.

Zufrieden mit seinem Werk ging Kiyoshi in sein Zimmer und versuchte ebenfalls zu schlafen. Jedoch konnte er einfach keine Ruhe finden. Es herrschte absolute Stille im Raum, genau das war sein Problem. Seit über zehn Jahren musste er seine Unterkunft mit anderen Sklaven teilen. Jetzt ohne die anderen, fühlte er sich allein und schutzlos.

Wehmütig dachte er an das Gefühl der Geborgenheit, das sein Meister ihm vor nicht mal 24 Stunden gegeben hatte. Er hatte sich geschworen, sich vor seinem Herrn keine Blöße zu geben. Dennoch musste Kiyoshi gegen den Drang ankämpfen, in das Büro zu schleichen und sich dort auf dem Boden zusammenzurollen. Unruhig warf er sich hin und her. Mit einem gefrusteten Seufzen stand er schließlich auf und verließ sein Zimmer. Da er keinen Schlaf finden konnte, wollte er eine Runde spazieren gehen.

Das Haus des Meisters

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