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3. Bibelauslegung: mehr als subjektive Meinungsbildung?

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Jeder Christ, der einer Gemeinde angehört, die die Bibel als höchste Autorität und normierende Instanz im Leben der Gläubigen ernst nimmt, kennt sie: die Bibelstunde. Man kommt zusammen, liest biblische Texte miteinander und versucht sie auszulegen, sodass sie für die Teilnehmer im Alltag brauchbar sind. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Hier kommen einige der wichtigsten Prinzipien der Reformation zum Ausdruck: die Autorität und Klarheit der Schrift sowie die Priesterschaft aller Gläubigen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) sind diese Prinzipien auch für viele römisch-katholische Gläubige keine fremden Ideen mehr, auch wenn sie diese unter anderen Begriffen kennen, die einen weniger protestantischen Klang haben.4

Aber was macht man in der durchschnittlichen Bibelstunde, wenn etwas unklar erscheint? Meiner Erfahrung nach werden die verschiedenen Bibelübersetzungen, die die Teilnehmer jeweils vorziehen, miteinander verglichen, und Konsens wird darüber erzielt, welche ihnen am meisten zusagt. Oder der »Kluge«, den es scheinbar in jedem Bibelkreis gibt, denkt sich eine plausible Deutung aus, die die anderen – mal mehr, mal weniger – überzeugt. Ich will solche Meinungsbildungsprozesse gar nicht in Abrede stellen, solange man erkennt, dass dies der Anfang der Auslegung ist, aber nicht deren Ende.

Bibelwissenschaftler machen sich Gedanken über Methoden der Auslegung. Das nennt man »biblische Hermeneutik«. Ich habe seit zwanzig Jahren das Privileg, angehende Theologinnen und Theologen bei einer Vorlesung mit dem unscheinbaren Namen »NT-Seminar« darin einzuführen. Am Ende der Vorlesung müssen sie eine wichtige und gefürchtete Prüfung bestehen: eine schriftliche Arbeit von 20 Seiten, in der sie einen ihnen nach dem Zufallsprinzip erteilten neutestamentlichen Text mit einem Umfang von drei bis fünf Versen auslegen müssen. Dabei geht es nicht darum, dass sie zu bestimmten mit meiner Meinung übereinstimmenden Ergebnissen kommen, sondern darum, dass sie ihren Text transparent und nachvollziehbar nach allgemein anerkannten Prinzipien deuten. Drei Prinzipien sind besonders wichtig (und können auch von durchschnittlichen Bibellesern auf den deutschen Text gewinnbringend angewandt werden). Ich formuliere sie wie folgt:

1. Kontext ist der König. Die Bedeutung einzelner Aussagen der Schrift, wie übrigens auch in der Alltagskommunikation, kann nur dem Zusammenhang, in dem sie sich befinden, entnommen werden. Nehmen wir den einfachen Ausruf »Feuer!« als Beispiel. Wenn Sie im Theater sitzen und plötzlich ein Mann die Tür aufreißt und dieses eine Wort schreit, könnte es Ihr Leben retten. Wenn Sie jedoch an einer Mauer mit verbundenen Augen stehen, einer Zigarette im Mund, und sieben Gewehren auf Sie gerichtet, ist das wohl das letzte Wort, das Sie jemals hören werden! Der Kontext macht den Unterschied aus, ob ein einziges Wort lebensrettend oder todbringend wirkt.

Dieses Prinzip ist bei der Auslegung der Bibel überaus wichtig, wird aber sehr oft vernachlässigt. Ich hatte eine liebe alte Tante, die mir zu jedem Geburtstag und jedem wichtigen Feiertag eine Karte schrieb. Eines Jahres erhielt ich zu Ostern eine Karte von ihr, auf der das Abbild eines leeren Grabes mit den Worten »Die Welt wird sich freuen!« in einem vor Freude strotzenden Schriftzug zu sehen war. Dieser Text entstammt jedoch Johannes 16,20, wo es im Kontext darum geht, dass sich die Welt freuen wird, wenn Jesus endlich aus dem Weg geräumt wird, während seine Jünger in Trauer stürzen werden. Der Vers wurde ganz gegen seine ursprüngliche Absicht eingesetzt. Ich fühlte mich nicht genötigt, meine fürsorgliche Tante darüber aufzuklären, nahm mir aber erneut vor, so nicht mit der Bibel umzugehen.

Eine wichtige Implikation einer kontextgemäßen Auslegung wird gerade in Abhandlungen von biblischen Texten zum Thema Sexualität oft ignoriert. Man darf nämlich nicht spekulative Thesen, die keine Basis im Text bzw. im Kontext haben, heranziehen, um Textaussagen der Bibel zu relativieren. Nun kommt man nicht darum herum, über die ursprüngliche Situation, in der unklare Aussagen entstanden sind, Vermutungen anzustellen. Bibelauslegung lebt davon, auf diese Weise für Textinhalte plausible Erklärungen zu finden. Aber diese müssen einen Anhaltspunkt im Text haben und dürfen nicht einfach der Fantasie des Auslegers entspringen. Nur das gewährleistet einen verantwortlichen Umgang mit biblischen Texten.

Das geschieht z.B. häufig, wie wir sehen werden, in der Auseinandersetzung mit Römer 1,26-27, wo gleichgeschlechtlicher sexueller Verkehr thematisiert wird. Manche Ausleger vermuten, dass dabei der Autor (der Apostel Paulus) eine ganz bestimmte Situation vor Augen hatte – einer populären These zufolge die wilden Orgien unter dem Kaiser Caligula. Wenn das stimmen würde, ließe es die Aussage des Textes in einem anderen Licht erscheinen. Diese These klingt vielleicht zunächst plausibel (wenn auch nur auf den ersten Blick – eine nähere Betrachtung lässt große Zweifel an ihrer historischen Wahrscheinlichkeit aufkommen; siehe dazu Abschnitt VIII.2). Nach den Prinzipien der Bibelhermeneutik ist aber eine solche Vorgehensweise unzulässig. Denn nirgends in Römer 1 und auch nicht sonst im Römerbrief gibt es den leisesten Hinweis darauf, dass Paulus an Caligula denkt. Vertrauenserweckende Auslegung biblischer Texte sieht anders aus.

2. Zeitgenössische Wortbedeutung ist die Dame. Es ist wichtig zu beachten, dass einzig und allein die zum Zeitpunkt des Autors vorherrschende Bedeutung eines Wortes für die Auslegung biblischer Texte von Belang ist. Die Herkunft eines Wortes bzw. sein sprachlicher Werdegang ist dafür unerheblich. Es kommt häufig vor, dass sich die Bedeutung eines Wortes im Laufe der Zeit verändert. Darüber gibt die »Etymologie« Auskunft. Sie bietet oft faszinierende Einsichten, die aber für die korrekte Deutung eines Wortes im zeitgenössischen Gebrauch unwichtig sind. Das Wort »Beute« bezeichnete zum Beispiel früher einen Bienenstock. Wer darauf besteht, dass es heutzutage so verstanden werden muss, wird bald merken, dass keiner ihn versteht (außer unter Imkern, bei denen es als Fachbegriff noch geläufig ist). Sagt er einem Gast: »Dieser Honig kommt direkt aus der Beute«, wird er merken, dass sich jener an den Kopf greift. Im Mittelalter war »Waffe« ein anderes Wort für »Schwert«. Inzwischen bezeichnet es alle möglichen Tötungsinstrumente. Wer pedantisch einfordert, dass das Wort nur nach seiner ursprünglichen Bedeutung eingesetzt und deswegen eine Pistole nicht als Waffe bezeichnet werden darf, wird sich daran gewöhnen müssen, dass alle ihn für einen Spinner halten. Bis heute stört es viele ältere Gemeindemitglieder, dass Jugendliche etwa einen Gottesdienst als »geil« beschreiben. Für sie heißt »geil« nur »sexuell stimulierend« und keineswegs »großartig«. Aber selbst sie würden gegebenenfalls sagen, sie fanden den Gottesdienst »toll«, was wiederum ihre Großeltern, für die das Wort »tollwütig« bedeutete, vermutlich gestört hätte.

Bei der Auslegung biblischer Texte muss man sich insbesondere davor hüten, bei einem dort erwähnten Konzept eine Bedeutung hineinzulesen, die im Laufe der Zeit hinzugekommen ist, aber damals nicht geläufig war. Wenn zum Beispiel der Apostel Johannes behauptet, dass »das Blut Jesu uns von aller Sünde reinigt« (1Joh 1,7), darf man nicht, wie es ein gläubiger Arzt einmal tat, auf die reinigende Funktion der Blutbahnen (in Zusammenarbeit mit Leber und Niere) hinweisen. Er erklärte, wie Jesus uns analog dazu »entgiftet«. Das war eine spannende Predigt mit neuen Einsichten, die an sich nicht falsch waren. Dennoch muss dagegen Einspruch erhoben werden. Denn davon wusste in der Antike kein Mensch. Auch nicht Johannes, der folglich etwas anderes – wohl die reinigende Wirkung von Schlachtopfern im alttestamentlichen Kult – gemeint haben muss.

Solche Fehler geschehen oft bei der Auslegung biblischer Texte, die Kenntnisse der damals vorherrschenden sexualethischen Konventionen voraussetzen. Jeder Deutsche weiß zum Beispiel, was »Ehebruch« heißt: Geschlechtsverkehr zwischen zwei Personen, von denen zumindest eine davon mit jemand anderem verheiratet ist. Wir werden aber sehen, dass dieser Begriff im neutestamentlichen Zeitalter mehr umfasste als nur den Geschlechtsakt. Wer sich dessen nicht bewusst ist, läuft Gefahr, die relevanten biblischen Texte unpräzis zu deuten und daraus falsche Schlüsse zu ziehen.

3. Wortwahl ist der Bube. Warum verwendet ein bestimmter Autor ein bestimmtes Wort in einem bestimmten Zusammenhang? Warum sagte die deutsche Fußballlegende Sepp Herberger »Das Runde muss ins Eckige« statt »Der Ball muss ins Tor«? Hier bedarf es keiner langen Analyse – er wollte einer banalen Wahrheit eine lyrische Note verleihen. Manchmal will man Dinge dezent statt deutlich aussprechen: »Sie ist nicht mehr unter uns« klingt schöner als »Sie ist tot«. Manchmal will man die Wahrheit nicht ganz eingestehen: »Schatz, ich hatte einen kleinen Unfall« oder »Es hat nur ein paar Euro gekostet«. Oft will man die Konnotation eines bestimmten Wortes vermeiden – Vertreter der Energiekonzerne bilden eine »Lobby«, während Greenpeace als »Hilfsorganisation« gilt –, obwohl beide das Gleiche tun: Politiker beeinflussen, damit sie ihre Interessen vertreten. Oder man will, je nach Situation, emotionale Distanz oder Nähe verschaffen: Nach dem Wohlergehen eines »Fötus« würde man eine Schwangere, die sich auf ihr Kind freut, nie fragen; umgekehrt vermeiden es Angehörige und Freunde von einem »Baby« zu sprechen, wenn die Schwangere ihr Kind abtreiben will.

Bei der Auslegung von biblischen Texten ist es von besonderem Interesse, wenn biblische Autoren einen ungewöhnlichen Ausdruck einem Standardbegriff oder einer Standardformulierung vorziehen. Wenn Jesus in Joh 8,58 sagt: »Ehe Abraham war, bin ich«, verletzt er die grammatischen Regeln in Bezug auf den Gebrauch von Vergangenheitsformen (auf Griechisch wie auch auf Deutsch). Hätte er gesagt: »Ehe Abraham war, war ich«, hätte das keiner weiteren Erklärung bedurft. Aber die Präsensform des Verbes »sein« in der zweiten Satzhälfte ist ungewöhnlich. Somit kommt die Aussage einem Anspruch auf den Gottesnamen gleich – »Jahwe« = »Ich bin, der ich bin« –, was man übrigens unschwer der Reaktion der Zuhörer entnehmen kann. In der Diskussion über Sexualität spielt, wie wir sehen werden, die genaue Wortwahl des Autors in manchen Texten eine überaus wichtige Rolle, der in vielen Veröffentlichungen zum Thema nicht genügend Rechnung getragen wird.

Ein Wort über die Anwendung biblischer Texte ist auch an dieser Stelle nötig. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass man in vielen Fällen biblische Texte nicht einfach eins zu eins in unserer Kultur übernehmen kann. Nehmen wir als Beispiel die Aufforderung des Paulus »Grüßt einander mit einem heiligen Kuss« (2Kor 13,12). Paulus lebte in einer kussfreudigen Kultur, und zu ihren Begrüßungsritualen gehörte das mehrfache Küsschengeben auf beiden Wangen. Das ist heute noch so im Orient. Leider verschafft dieser Brauch in nordeuropäischen Ländern kein Gefühl des Willkommenseins, sondern vielleicht sogar Entfremdung – damit wird unter Umständen die Privatsphäre verletzt, erst recht seit der Corona-Krise. Also würde die direkte Übertragung dieses Gebots vielleicht sogar das Gegenteil bewirken von dem, was Paulus damit beabsichtigte.

Man will aber biblischen Geboten folgen, also was tun? In meinem NT-Seminar verwende ich folgendes Diagramm, um den Prozess der Anwendung biblischer Texte zu veranschaulichen:


Abb. 5: Der Weg zur Anwendung biblischer Texte

Dabei geht man wie folgt vor:

1. Man beginnt mit einer Textaussage der Bibel – bleiben wir bei »Grüßt einander mit einem heiligen Kuss.«

2. Man überlegt, welches Prinzip hinter der Aussage steht, und formuliert die Aussage entsprechend um: »Wir sollen einander warmherzig und einladend willkommen heißen.«

3. Man überlegt, wie dieses Prinzip in unserer Kultur am besten zum Ausdruck kommt, und formuliert den Satz entsprechend um: »Wir sollen einander mit einer kulturell angemessenen Geste der Zuneigung und Achtung empfangen.«

Ob dieser Prozess leicht oder schwer von der Hand geht, hängt zum Teil von der Gestalt des jeweiligen Textes ab. Gerade im Bereich der Sexualethik gibt es Aussagen in der Bibel, die an sich schon als allgemeine Prinzipien formuliert werden und deshalb weniger Übertragungsarbeit benötigen. Andere verlangen mehr. Die Ehe wird z.B. in der Schöpfungsgeschichte mit dem Satz begründet: »»Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch« (1Mose 2,24 LÜ). Die Aussage setzt bestimmte kulturell bedingte Lebensumstände voraus, was den Prozess der Lösung von der Ursprungsfamilie angeht, welche nicht überall auf der Welt gleich sind. Dennoch kann man dem Text entnehmen, dass ein geregelter Prozess zur verbindlichen und dauerhaften Gründung neuer Familien von großer Bedeutung ist. Dieser Prozess kann je nach Kultur unterschiedlich aussehen, sollte aber in Gemeinschaften, die die Bibel als Autorität akzeptieren, grundsätzlich beachtet werden.

Was sich Gott dabei gedacht hat

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