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II.
ОглавлениеEin Witzbold sagte einmal, meine Schüler seien weiter nichts, als die schiefgewickelten Jünger eines schiefmäuligen Propheten. Das war ein billiger Spott. Aber was war die Ur- sache meiner Schiefmäuligkeit ? Lombroso nimmt an, dass ich damit zur Welt gekommen sei und knüpft an diese willkürliche Annahme die Folgerung, dass mein „anarchistisch-verbrecherischer Charakter" mir schon angeboren worden sei, wie man aus meiner Physiognomie ersehen könne. Andere faselten von einem erhaltenen buchstäblichen „Eselsfusstritt" und noch Andere führen mein entstelltes Gesicht auf die Folge eines
Experimentes mit Explosivstoffen zurück. Die Wahrheit ist —hoffentlich fällt darob keine Temperenz-Schwester irgend welchen Geschlechtes in Ohnmacht ! — , dass ich die Bescheerung dem lieben Suff zu verdanken habe.
In der Sylvesternacht von 1853 auf '54 hatte sich im elterlichen Hause eine kreuzfidele Gesellschaft eingefunden. Unter Anderem wurde auch Punsch getrunken. Ich bekam eben- falls ein Gläschen voll davon ab. Das schmeckte entschieden nach mehr. Und weil ich so nichts mehr haben sollte, griff ich zur Selbsthülfe. Ich versteckte mich unter dem Tisch und stibitzte ein Gläschen nebst Inhalt nach dem andern von der Tafel bis ich einduselte. Als man mich entdeckte, brachte man mich in die Schlafstube, wo ich mir — es herrschte in jener Nacht ein bitterer Frost — eine böse sogenannte Erkältung zuzog. Morgens war meine linke Wange ganz furchtbar angeschwollen. Das war der Beginn einer fünfjährigen Krankheit, während deren Verlauf ungefähr zwanzig Heilkünstler aller Sorten, vom Obermedicinalrath bis zum ordinärsten Quacksalber, mich als Versuchs-Kaninchen zu allerhand verunglückten Experimenten verwendeten. Kalte und heisse Umschläge, Leberthran, Kräuterthee, süsse und bittere Medicinen, Pillen, Pulver, Salben etc. etc. wurden verordnet; diverse Zähne wurden gezogen; jeden Augenblick wurde eine andere, aber niemals eine zutreffende Diagnose gestellt; schliesslich rieth man auf „Krebs" ,und erklärte das Uebel für unheilbar.
An drei verschiedenen Stellen bildeten sich von innen heraus garstige Geschwürwunden, welche Jahr ein, Jahr aus ganz entsetzlich eiterten. Obgleich ich beträchtliche Schmerzen auszustehen hatte, war ich nie viel bettlägerig, musste aber häufig, namentlich bei rauher Witterung, das Haus hüten. In Folge dessen wurde ich vom regelmässigen Schulbesuch abgehalten, was mir jedoch schwerlich etwas schadete, indem mir mein Vater die Elementarien ohne Zweifel besser beibrachte, als die schon gekennzeichneten Schulmeister zu thun vermocht hätten.
Während meiner Krankheit brachen aber noch anderweite Unglücksfälle über mein elterliches Haus herein. Im Jahre 1856 wüthete eine Cholera-Epidemie, welcher meine gute Mutter erliegen musste. Auch beide Grosseltern und eine meiner Schwestern wurden von derselben dahingerafft. Mich hingegen, der ich doch in jener Schreckenszeit so gut wie gar keine Pflege genossundden nothwendigsten Bandagenwechsel
selber besorgen musste, verschonte merkwürdiger Weise die Seuche. Wer denkt da nicht an das sprichwörtliche „Unkraut" welches nicht „verdirbt" ? ! —
Etwa nach Verlauf eines Jahres hat mein Vater sein Glück in der Ehe ein zweites Mal versucht und dabei eine ganz scheussliche Niete gezogen. Diese, ein ganz stockkatholisches Rabenaas und sonstiges dummes Luder, biss mir und meiner
Schwester gegenüber die Stiefmutter heraus, dass ich fortan nicht nur körperlich, sondern auch psychisch ganz fürchterlich zu leiden hatte.
Endlich nahte sich hinsichtlich meiner Krankheit ein Erlöser und zwar in der Person eines geschickten und kühnen Operateurs Namens Dr. Agatz. Derselbe erkannte auf den
ersten Blick, dass ich den Knochenfrass an der linken Hälfte des Unterkiefers hatte; auch erklärte er, dass dieses Uebel lediglich von jenen Doktoren verschuldet worden sei, welche mich sammt und sonders total eselhaft behandelt hatten.
Gleichzeitig eröffnete er meinem Vater, dass nur eine Operation auf Leben und Tod allenfalls Rettung bringen könne, während, wenn ein solcher Versuch nicht gemacht würde, ich höchstens noch drei Monate lang am Leben bleiben könne.
Die Operation wurde am 18. März 1859 — ich war inzwischen 13 Jahre alt geworden — unternommen. Dieselbe nahm eine fünf viertelstündige Dauer in Anspruch und erheischte ein fünfmaliges Chloroformiren. Von der linken Schläfe bis in
den Mundwinkel wurde eine Blosslegung des Kiefers bewerkstelligt, ein drei Zoll langes (total zerfressenes) Stück davon heraus genommen, dann der Kieferrest von rechts nach links dermassen verschoben, dass später eine Verknorpelung statt- finden konnte; endlich nähte der Operateur die zerschnittenen Fleischtheüe wieder zusammen. Vier Wochen später lief ich, allerdings mit einem von rechts nach links zerschobenem Ge-
sichte und „schiefmäulig", im Uebrigen aber ganz gesund, umher. Seitdem hat noch nie ein Doktor oder Apotheker von mir irgend einen Hülferuf vernommen.