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1.3 Die ReadyMadeOper Mea Culpa

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Die Topologie der bekenntnishaften Selbstdarstellung und die mit der szenischen Confessio verbundene Suggestion von Unmittelbarkeit bildeten auch noch den analytischen Rahmen für die im März des Jahres 2009 am Wiener Burgtheater uraufgeführte ReadyMadeOper Mea Culpa. Nach Der Zwischenstand der Dinge fand der Regisseur dabei wieder zur großen synkretistischen Form zurück. Schlingensief tauschte das liturgische Setting durch den intermedialen Referenzrahmen des hinter ihm liegenden Œuvres aus und betrachtete sich selbst nunmehr zur Gänze durch die Brille seiner künstlerischen Vergangenheit hindurch. Darüber hinaus war die Perspektive des bekennenden Ichs bereits auf die Zukunft hin gerichtet. Im Rahmen von Mea Culpa stellte Schlingensief seine Vision eines afrikanischen Operndorfs vor, verstanden als Zusammenführung von Wagners Bayreuth-Utopie mit dem erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys.

Das dem Abend programmatisch zugrunde liegende katholische Schuldbekenntnis zeigte zum einen die religiöse Verbindungslinie vom Duisburger Fluxus-Oratorium zur Wiener ReadyMadeOper auf und verwies zum anderen auf den Versuch Schlingensiefs, einem erodierten integralen Subjekt die behauptete Souveränität eines autonomen Ichs entgegenzuhalten. Im Allgemeinen Schuldbekenntnis, nach christlicher Vorstellung die Antwort auf die Schuldübernahme Jesu Christi, der durch seinen Tod „die Schulden der Welt hinweggenommen hat“, gesteht der Mensch, „Gutes unterlassen und Böses getan zu haben“. Im klimatischen Ruf „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“ liegt die Fabel von Schlingensiefs Inszenierung eingeschlossen. Der Regisseur hatte sich bereits in seinem Tagebuch auf eine krankheitsgenetische Spurensuche begeben, die ihn auf seine eigene Schuld zurückgeführt hatte. Den Grund für seine Krebserkrankung glaubte er schließlich in seiner intensiven Beschäftigung mit Wagners Parsifal im Zuge der Bayreuther Festspiele im Jahr 2004 ermittelt zu haben, wo er sich von Wagners Spiel mit der Todessehnsucht „auf den Trip schicken habe lassen“1. Getreu dem im Parsifal wirksamen Prinzip, „die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“2, sollte die erneute Auseinandersetzung mit Wagners „Todesmusik“3 in Mea Culpa zu einer Bejahung des Lebens führen. „‚Ich will noch nicht‘ ist die Quintessenz des Abends“4, so dessen Dramaturg Carl Hegemann. Die titelgebende Bündelung der Schuld im Ich, die als Zeichen einer egozentrierten Haltung einen selbsttherapeutischen Zweck erfüllte, war das Resultat einer intensiven Forschung nach der eigenen Vergangenheit im Medium des Theaters. Dafür implantierte Schlingensief die Diegesis des Parsifal in eine höchst eigenwillige metadiegetische Rahmenhandlung: In einer ayurvedischen Heilanstalt, die ihrerseits assoziativ an das hermetisch abgeschlossene Sanatorium aus Thomas Manns Der Zauberberg (1924) gemahnt, arbeiten die Patienten an einer Parsifal-Inszenierung. Die in Wagners Bühnenweihfestspiel thematisierte Wunde soll den Patienten den Weg zur Heilung weisen.

Für Michael Laages zeigte sich in Wien in erster Linie ein „Abend der Innenansichten, ein Panoptikum der Reflexion über einen unauflösbar schrecklichen Prozess: das Leben eben“5, der durch ein unerhörtes Maß an Ehrlichkeit berührte. Ulrich Weinzierl, der den Abend für Die Welt besprach, sah in Mea Culpa den „Abschluss einer autobiografischen Trilogie im Zeichen der Krankheit“6, mit dem der kranke Regisseur „sein theatralisches Pfingsten [und somit] das vorläufige Ende einer Passionsgeschichte“7 feierte. Sein Kollege von der Frankfurter Rundschau, Peter Michalzik, fühlte sich, wie bereits nach der Aufführung in Duisburg, ergriffen von einer Produktion, die in erster Linie „eine neue Art von Psychodrama“8 präsentierte und dem Versuch geschuldet war, dem Publikum den großen dunklen Anderen, den Tod, näherzubringen. Als Zuschauer musste man lediglich eine grundsätzliche Entscheidung treffen: „Entweder leiden wir an diesem Abend mit, oder wir erleben nichts.“9 Der Regisseur habe dem Zuschauer die Entscheidung durch die Drastik der Darstellung allerdings nicht besonders schwer gemacht.

Christine Dössel sah im titelgebenden Schuldbekenntnis Schlingensiefs die „eindrucksvolle (Selbst-)Inszenierung eines Künstlers, der viele Leidens- und Erkenntnisstufen durchschritten hat und nunmehr den Lebenswillen feiert in Anbetracht des Todes“10. Sie griff dabei die bereits in den Kritiken zu Eine Kirche der Angst weit verbreitete Ansicht auf, dass es sich bei der Krankheitsinszenierung um die logische Konsequenz aus Schlingensiefs Kunstverständnis handelte, „der als Künstler schon immer seine Haut zu Markte getragen“11 habe. Ähnlich erging es Almuth Spiegler, die fasziniert auf Schlingensiefs einzigartige „Durchdringung der Genres und die Auflösung der Grenzen zwischen Spiel und Realität“12 blickte. Die Transgression von Kunst und Leben wurde wie in den beiden vorhergehenden Inszenierungen zum Anlass genommen, um grundlegend darüber nachzudenken, inwieweit die theatrale Komplementarität des Zeigens und Zuschauens überhaupt noch als wirksamer Referenzrahmen für die Analyse des Theaterabends dienen konnte.

Der Großteil der Kritiker operierte dementsprechend nicht mit dem Begriff des Theaters, sondern mit dem Terminus des Rituals, der zur Erfassung der von Schlingensiefs Mitteilung erzeugten gemeinschaftsbildenden Struktur einer kunstreligiösen communitas besser geeignet zu sein schien. In den Augen Ulrich Weinzierls bezog Mea Culpa seine eigentümliche Kraft gerade aus dem „Vergessenmachen“13 über den theatralen Rahmen, sodass der Zuschauer zum „Zeuge[n] der allmählichen Gemeindewerdung“14 wurde. Dössel betonte, dass man sich „gegen die Teilhabe, die Schlingensief […] gewährt“15, regelrecht sperre, wenn man den Protagonisten dieses existentiellen Abends lediglich als Narzissten abtue. Es gebe „nicht viele Theaterabende, die so ganzheitlich, so überzeugend authentisch – und dazu auch noch so multimedial ausgefeilt – an die wirklich letzten Dinge rühren.“16 Auf Eva Behrendt schließlich wirkte Mea Culpa hinsichtlich Schlingensiefs Auseinandersetzung mit seinem Leben zwar distanzierter als Eine Kirche der Angst, doch die Forderung der Teilhabe, die von der Inszenierung an das Publikum ergangen war, schien in ihren Augen ungebrochen.17

Darüber hinaus gab es auch Kritikerstimmen, die explizit die voyeuristische Perspektive des Publikums, provoziert durch Schlingensiefs Selbstentblößung, reflektierten. So wollte die Bühne des Burgtheaters laut Ronald Pohl, dem Rezensenten des österreichischen Der Standard, „unter verschwenderischer Aufbietung ihrer Kunstmittel mit der ganzen ‚Wahrheit‘ über uns Menschen herausrücken“18. Rüdiger Schaper setzte ebenso an der mit Schlingensiefs theatraler Simulation von Wahrheit und Unmittelbarkeit verbundenen Rezep­tionsmechanik des Voyeurismus an: „Wann hat sich ein Künstler derart nackt und angreifbar gemacht wie Schlingensief? Sein Werk, sein Leben, seine Krankheit zu einem unerhörten Ganzen so verschmolzen? Die Logik ist fürchterlich, ein voyeuristischer Abgrund.“19 Demnach spielte der vom Regisseur exhibitionistisch in Gang gebrachte Versuch der „Heilung der Wunde ‚Sterblichkeit‘ aus der Idee des Gesamtkunstwerks“20 mit dem Erregungsmoment des Beobachtens. Aufgrund „der vielen verallgemeinerbaren Wahrheitsgehaltzipfel“21, die dabei zu erspähen waren, wurden die Kritiker dieses Abends – freiwillig oder unfreiwillig – letztlich zu Verfassern einer Hagiographie.22

Sterben lernen:  Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes

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