Читать книгу Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes - Johanna Zorn - Страница 12
2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 2.1.1 Die hermeneutische Perspektive
ОглавлениеMit seinem, den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa ausschnittweise zugrunde liegenden Krebstagebuch schreibt Schlingensief zunächst die Tradition des journal intime fort. Die Ende des 18. Jahrhunderts als Zeichen erwachender Innerlichkeit aufkommende diaristische Schreibpraxis stellt der synthetisierenden rückschauenden Betrachtung des Lebens im Genre der Autobiographie komplementär ein punktuelles Sezieren der Jetzt-Zeit des Ichs gegenüber.1 Der Hermeneutiker Georg Misch grenzt das Tagebuch als Analyse, mit der der Schreibende seine Gedanken täglich aufs Neue festhält, von der Autobiographie als Synthese ab, die das räsonierende Ich erst in der Rückschau auf sein Leben leistet. Im Sinne einer analytischen Durchdringung der verschiedenen Etappen des Krankheitsweges sprach Schlingensief seine alltäglichen Erlebnisse während seines Krankenhausaufenthaltes zum Zweck der minutiösen Dokumentation seines Leidensweges auf Diktiergerät und trieb das Gebot der Diaristen, unmittelbares Zeugnis des gegenwärtigen Ich-Zustands zu geben, mit veränderten medialen Mitteln ins Extrem. Im Modus der radikalen Unmittelbarkeit des Sich-Selbst-Sprechen-Hörens, vermittelt durch die atopische Stimme, versicherte Schlingensief sich dabei seiner Selbstpräsenz.2 Diese Beteuerung des Selbst wurde erst nachträglich durch Transkription des Tonbanddokuments unter dem Titel So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein (2008) zu Papier gebracht.
Im Erkenntnishorizont der poststrukturalistischen Rede von der Dezentrierung des Subjekts können freilich weder das Tagebuch noch die im Deutschen begrifflich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Autobiographie als jene faktisch verbürgte Ich-Dokumentation erscheinen, wie es ein im Bereich der populären Selbstbeschreibung geläufiges „ungebrochenes Ich-Bewusstsein“3 nach wie vor suggeriert. Paradigmatisch verdichtet in Titeln wie Ich. Wie es wirklich war (Franz Beckenbauer) oder Nichts als die Wahrheit (Dieter Bohlen) vermitteln die Urheber von Autobiographien, die sich ironischerweise lediglich als Auftraggeber von „anekdotischen oder hagiographischen Trivialprojektionen“4 entpuppen, den Anschein, als würde darin ein unmittelbarer und unverstellter Zugang zur dahinterliegenden Person eröffnet. Als sich seiner selbst vergewissernder Diarist wie als literarischer Autobiograph bediente sich Schlingensief der bekenntnishaften Rhetorik der Wahrhaftigkeit und befindet sich mithin auf einer Linie mit diesen selbstbeschreibenden Zeitgenossen bzw. deren Ghostwritern. Wie der Titel seiner 2012 erschienenen Autobiographie Ich weiß, ich war’s bereits suggeriert, untermauert sein literarisches Bekenntniswerk weitestgehend jenes integrale Ich-Verständnis, das seine Witwe Aino Laberenz im Vorwort mit Nachdruck artikuliert. Christoph Schlingensief schrieb ein Buch, „das sich auf sein Leben richtet. Das sich auch an sein Leben richtet, wie es gewesen ist, wie er gewesen ist.“5
Die Begriffe Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die der Autor Schlingensief in seinem unerschütterlichen Ich-Verständnis hypostasiert („Ich weiß, ich war’s“), verweisen ihrerseits zurück auf das Paradigma der hermeneutischen Autobiographieforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So lautet die schlichte Definition von Autobiographie durch Georg Misch, es handle sich um eine „Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“6. In seinem Werk Der autobiographische Pakt (1973) liefert Philip Lejeune noch in den 1970er Jahren eine dazu kongruente Gattungsbestimmung: „Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“7 Diese Festlegung des französischen Rezeptionsästhetikers war dem Bemühen geschuldet, die literarische Selbstbeschreibung systematisch von ihren Nachbargattungen, der Biographie, den Memoiren, dem Ich-Roman und dem Tagebuch, abzugrenzen und beruht auf vier notwendigen Kriterien: 1. einer retrospektiven Erzählposition, 2. der sprachlichen Form der Prosa, 3. der Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur und 4. der Behandlung der individuellen Lebensgeschichte. Das taxonomische Modell Lejeunes knüpft insofern an einen hermeneutischen Schriftbegriff an, als dass es auf der Überzeugung beruht, Leben und Selbst seien bereits gegeben und müssten im Akt des Schreibens lediglich aus der Erinnerung wieder hervorgeholt werden.
Bereits Wilhelm Dilthey malt auf der Basis des hermeneutischen Denkansatzes als geisteswissenschaftlicher Methode des Verstehens die rückschauende Betrachtung auf das eigene Leben als modellhafte Verkörperung der geschichtlichen Erkenntnis aus. Im Umkreis der Lebensphilosophie um 1900 stellt Dilthey die Erkenntnisqualität subjektiven Erlebens der reinen Vernunfterkenntnis entgegen und erhebt mithin das individuelle Leben zum Ausgangspunkt geisteswissenschaftlichen Verstehens. Um die strukturelle Distanz zwischen verstehendem Subjekt und zu verstehendem Objekt zu verkürzen, etabliert die hermeneutische Methode ein Dispositiv, das den Vorgang des Verstehens in eine zirkuläre Struktur einbettet: Das Subjekt nähert sich dem Objekt, das sich ihm als Fremdes und Anderes zeigt, sukzessive an, indem es die Entwürfe und Vermutungen, die es über das Objekt anstellt, bei genauerer Betrachtung erweitert und korrigiert, um schließlich zu einem tieferen Verständnis des Gegenstandes zu gelangen. Obgleich mit dem hermeneutischen Paradigma des Sinnverstehens selbstredend kein Schlüssel zur Ermittlung letzter Gewissheiten bereitgestellt ist, so zeigt sich in ihm doch deutlich der Glaube an einen fortwährenden Prozess von subjektiver Sinnstiftung.
An der von ihm so bezeichneten „Selbstbiographie“8 sieht Dilthey einen derart idealen Vorgang des Verstehens, der im Bild des hermeneutischen Zirkels das Einzelne über das Ganze und das Ganze wiederum über das Einzelne ansichtig machen soll, exemplarisch abgebildet. Die Autobiographie als schriftlich komponierte Synthese von Etappen persönlichen Lebens und Erlebens stellt den Zusammenhang zwischen dem Ich und seinem Leben erst her und erscheint insofern als „die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt“9. Gerade der ab den 1960er Jahren im Zuge poststrukturalistischer Theoriebildung problematisierte Zusammenfall von Subjekt und Objekt in der Darstellung des eigenen Lebens gilt Dilthey noch als Garant von Wahrhaftigkeit. Derjenige, der seinen Lebenslauf verfasst – und das bedeutet hier, in umfassendem Sinne versteht – ist schließlich „identisch […] mit dem, der ihn hervorgebracht hat.“10 Die proklamierte Wesenseinheit zwischen dem im Schreibakt gegenwärtigen Darstellenden und dem in der Vergangenheit zurückliegenden Dargestellten begründete ein Forschungsparadigma, das sowohl von der erkenntnistheoretischen Selbsttransparenz des Ichs ausgeht als auch von der Möglichkeit, dieses sprachlich unmittelbar zu transportieren. Das Leben des Ichs, das in den großen, von Jean Paul ironisch titulierten „Selberlebensbeschreibungen“11 von Augustinus über Rousseau bis hin zu Goethe zur Darstellung gelangt, folgt demnach nicht nur einer kontinuierlichen, teleologischen Entwicklungslogik, sondern lässt sich im Medium der Schrift als chronologische Entwicklung narrativ vermitteln.
Die Bedingungen für Diltheys Auffassung von der Autobiographie als literarischer Mimesis an das gelebte Leben liegen freilich im unbedingten Vertrauen in die Intentionalität des Bewusstseins und in einer Vorstellung von Sprache als einem durchlässigen Medium. Das Subjekt wird sich selbst demnach in der erinnernden Tätigkeit ansichtig und kann sich durch Sprache unmittelbar abbilden. Seinem essentialistischen Denkansatz von der Vorgängigkeit des Seins verpflichtet, stiftet das selektive menschliche Bewusstsein für Dilthey im Laufe eines Lebens schlichtweg ebenjenen Zusammenhang, der in der retrospektiven Betrachtung beschrieben wird. Schließlich habe der Autobiograph
[…] in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er als bedeutsam erfuhr, herausgehoben und akzentuiert und die anderen in Vergessenheit sinken lassen. Die Täuschungen des Momentes über dessen Bedeutung hat dann die Zukunft ihm berichtigt. So sind die nächsten Aufgaben für die Auffassung und Darstellung geschichtlichen Zusammenhangs hier schon durch das Leben selber halb gelöst. Die Einheiten sind in den Konzeptionen von Erlebnissen gebildet, in denen Gegenwärtiges und Vergangenes durch eine gemeinsame Bedeutung zusammengehalten ist. Unter diesen Erlebnissen sind diejenigen, die für sich und den Zusammenhang des Lebens eine besondere Dignität haben, in der Erinnerung bewahrt und aus dem endlosen Fluß des Geschehenen und Vergessenen herausgehoben; und ein Zusammenhang ist im Leben selber gebildet worden, von verschiedenen Standorten desselben aus, in beständigen Verschiebungen.12
Mit seiner Formulierung legt der Hermeneutiker nahe, dass die im Gedächtnis des Autors verbliebenen Erfahrungen seines Lebens, gerade weil sie im Gedächtnis blieben, für deren Bedeutsamkeit bürgen. Zugleich benennt der Philosoph selbst nolens volens das erkenntnistheoretische wie darstellungsästhetische Paradox der sinnverstehenden Selbstbeobachtung. Das Begreifen des Zusammenhangs des vergangenen Lebens ist zugleich ein Akt des gestaltenden Eingreifens („Täuschungen des Momentes“). In den Augen der Literaturwissenschaftlerin Martina Wagner-Egelhaaf liegt der hermeneutische Widerspruch folglich darin, „dass der reflektierende Blick auf das vergangene Leben dessen ursprünglichen Fluss, der erst dem Rückblick wahrnehmbar wird, in der gleichen Bewegung immer schon unterbricht.“13 Damit ist ebenso auf den Konstruktionscharakter von Erinnerung hingewiesen wie auf deren sprachliche Simulation, die seit den 1970er Jahren zunehmend in den Fokus autobiographischer Theorien gelangt.
Georg Misch übernimmt das verklärende „hermeneutische“ Vertrauen seines Lehrers Dilthey in die Syntheseleistung der Sprache und mithin in die authentische (griech. authéntēs, derjenige, der selbst eine Tat vollbringt) Narration des Ichs, das die wesentlichen Einzelteile eines Lebens zu einer konsistenten Darstellung zusammenzufügen vermag. Ungeachtet der bereits zur Zeit Mischs aufkommenden Ansätze im Feld der Sprachkritik und Psychoanalyse, die der Intentionalität des Ichs die unkontrollierbare, dunkle Kraft des Unbewussten entgegenhalten, setzt er der Autobiographie als Modellfall hermeneutischen Verstehens ein wissenschaftliches Denkmal. In seinem, hinsichtlich der äußeren Dimensionen wie des enzyklopädischen Impetus als monumental zu bezeichnenden, auf vier Bände hin angelegten Standardwerk über die Geschichte der Autobiographie (1907–69) räumt der Autor zwar ein, dass „Erinnerung nicht als mechanische Reproduktion vonstatten“14 gehe, hält allerdings mit seiner Funktionsbestimmung der Autobiographie, „das Beharrende im Wechsel zu erfassen“15, an der Vorstellung einer Einheit von darstellender und dargestellter Person fest. Zudem transferiert sein organologisches Verständnis von Identität Goethes idealistisch-esoterische Überlegungen zur „Urpflanze“ ins Feld der Autobiographieforschung. In der Urpflanze glaubte Goethe das Gesetz der mannigfaltigen Gestalten der Pflanzenwelt erkannt zu haben.16 Mischs idealtypischer Autobiograph will in diesem Sinne das Identische im Nicht-Identischen aufspüren und begibt sich somit auf die Suche nach seinem Charaktergesetz.
Für den Dilthey-Schüler ist es der Autobiographie als „elementare, allgemein menschliche Form der Aussprache der Lebenserfahrung“17 vorbehalten, ein wahrhaftiges Bild des Selbst schriftlich zu entwerfen. Als Exegese des Unbewussten könne die literarische Selbstbeschreibung sogar noch dort, wo das Leben schweige, dasjenige, „was in dunklen Tiefen uns bewegt, zur Klarheit des Bewusstseins erheben.“18 Die autobiographische Tätigkeit entspricht mit Misch also dem Erkenntnisakt der Bewusstwerdung des Selbst:
Als eine Äußerung des Wissens des Menschen von sich selbst hat die Autobiographie ihre Grundlage in dem ebenso fundamentalen wie rätselhaften psychologischen Phänomen, das wir Selbst-Bewußtsein nennen. Unser Leben verläuft nicht bloß in der Welt als ein naturhafter Vorgang, ein Ablauf von Handlungen, Gefühlen und Reaktionen („vita motus perpetuus“), sondern wir führen unser Leben mit Bewußtsein, wobei Selbstbewußtsein und Weltbewußtsein gleich ursprünglich sind. Die Geschichte der Autobiographie ist in einem gewissen Sinne eine Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins.19
Nach Goethes Dichtung und Wahrheit als einer der letzten idealistischen Autobiographien setzt Mischs Geschichte der Autobiographie als Entwicklungsgang des menschlichen Selbstbewusstseins eine Zäsur. Den Praktiken der Selbstbeschreibung des 19. Jahrhunderts widmet er lediglich einen kursorischen Überblick, den Zeitraum des 20. Jahrhunderts spart er zur Gänze aus. Obgleich seine Theorie der Autobiographie für den selbstbeschreibenden Akt nach 1850 aufgrund der fundamentalen Erosion der idealistischen Subjektkonzeption ganz offensichtlich keine geeignete Analysefolie mehr aufzubieten vermochte, erfasst sie bei genauerer Betrachtung schon die drei großen autobiographischen Fluchtpunkte der hermeneutischen Perspektive lediglich intentional-reduktiv. Jenseits eines emphatischen Ich-Verständnisses zeigen bereits Augustinus, Rousseau und Goethe in ihren Bekenntnisschriften auf die Leerstellen im Prozess der Erinnerung sowie auf den unhintergehbaren Synthesecharakter in der Vermittlung durch die Schrift und benennen so Motive, die für die Analyse von Schlingensiefs disparater Selbstthematisierung virulent bleiben.