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2.1.2 Augustinus’ Confessiones

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In seinen die europäische Tradition der Autobiographie präformierenden Confessiones (um 400) formuliert der spätantike Philosoph Augustinus den Gedanken, dass jeder Selbstbezug in der Hinwendung zum göttlichen Du zu entwerfen sei. Die Lobpreisung Gottes, die seine Bekenntnisse eröffnet, führt dem Leser deutlich vor Augen, dass der Autor in Gott nicht nur den Adressaten seiner Anrufung gesehen hat, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit allen Seins. Seine interrogative Apostrophe gründet die Konstitution des Ichs auf die göttliche Macht: „der ich nicht wäre, wenn Du nicht wärest in mir?“1 Im Wissen um die göttliche Ubiquität verortet der Kirchenlehrer die Erkenntnis über sein menschliches Sein ausschließlich im Verhältnis zu Gott. Durch seine Entblößung vor Gott glaubt er zugleich, zu seinem eigenen Inneren vordringen zu können. Zahlreiche Passagen der insgesamt dreizehn Bücher umfassenden Bekenntnisse reflektieren diese Wechselbeziehung zwischen göttlicher Vorhersehung und individueller Selbsterkenntnis.

Im achten Buch inszeniert Augustinus eine Kommunikation mit Gott, um sein Ich fortan auf ein gesichertes Fundament stellen zu können. Im Dialog ereignet sich zugleich sein Bekehrungserlebnis, mit dem er ein Schuldbekenntnis über sein vergangenes Leben ablegt. Gottes Aufforderung, die vor ihm liegende Bibel „zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die [er] zuerst träfe“2, wird Augustinus durch eine kindliche Stimme übermittelt, die ihn mit den Worten ruft: „‚Nimm es, lies es, nimm es, lies es!’“3. Der Autor ergreift die Bibel und sein Blick fällt auf eine Passage des Römerbriefs (Röm 13, 13–14), in der Paulus die Abkehr von Unzucht und Fleisch beschwört.4 Nachdem Augustinus die Stelle aufmerksam gelesen hat, löst er sich von seinem bisherigen Leben und beendet die Lektüre mit den Worten:

Weiter wollte ich nicht lesen, und weiter war es auch nicht nötig. Denn kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewißheit als ein Licht ins kummervolle Herz, daß alle Nacht des Zweifelns hin und her verschwand.5

Mit der literarischen Darstellung seiner Bekehrung, die das göttliche Erscheinen als ein ins Dunkel fallendes Licht chiffriert, dokumentiert Augustinus sein existentielles liminales Moment, durch dessen Erfahrung er den irdischen Genüssen vollends entsagt, um das einzige Erotikum fortan in der Hinwendung zu Gott zu suchen.

Ein Prozess des Zweifelns geht der in der Begegnung mit Gott erlangten Gewissheit über das Ich voraus. Noch in seiner Frühschrift De vera religione (390) schreibt der spätere Bischof:

Jeder […], der daran zweifelt, ob es eine Wahrheit gibt, hat in sich selbst etwas Wahres, woran er nicht zweifelt. Da nun alles Wahre nur durch die Wahrheit wahr ist, kann niemand an der Wahrheit zweifeln, der überhaupt zweifeln kann.6

Augustinus’ Absicherung des Ichs im Akt des Zweifelns wird Descartes mehrere hundert Jahre später in den methodischen antiskeptischen Zweifel umwandeln. Zwischen dem Augustinischen si enim fallor, sum („wenn ich auch irre, so bin ich“) und Descartes’ cogito ergo sum erfährt die existentielle Ungewissheit eine entscheidende erkenntnistheoretische Transformation: Während das Zweifeln für Augustinus am Beginn des Wegs zur Selbsterkenntnis durch Gott steht, vollzieht das Ich bei Descartes nicht mehr den Akt der Unterwerfung, sondern fasst sein Denken an sich als den unerschütterlichen Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis auf.

Augustinus’ Bekenntniswerk kündet noch von der Bindung des Ichs zum göttlichen Du. So lässt der Autor sein Leben im autobiographischen Rückblick klimatisch auf seine Bekehrung durch Gott zulaufen. In den der Schilderung der Konversion als Zielpunkt des erzählten Lebens vorangehenden Büchern sucht das Ich jenen sicheren Grund, den ihm das Verhältnis zu Gott schließlich liefern wird. Den Weg des Zweifelns stellt der Autor mithilfe mnemotechnischer loci communes dar, die spätestens in Rousseaus Bekenntnisschrift zu Topoi auto­biographischen Erzählens gefrieren sollten. Die „lektoriale Selbsterinnerung“7 an den von Rückschlägen gezeichneten Bildungsweg fokussiert die als Schwellensituationen gefassten Momente der Geburt, der Erziehung, der Tugenden und Laster. Der auf diese Weise strukturierte Lebenslauf bereitet das Bekehrungserlebnis mit geradezu kausaler Notwendigkeit vor. Erst mit dieser Wandlung des Augustinus hat sich diejenige Persönlichkeit, die nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung Rechenschaft über ihr vergangenes Leben ablegt, vollends entfaltet.

Im Anschluss an den im achten Buch auf der Grundlage zahlreicher biblischer Intertexte zu Ende gegangenen Weg der Bekehrung, mit dem der Bischof von Hippo die christlich-katholische Beichtpraxis in eine autobiographische Praxis verwandelte, schlägt sein Werk in den Lobpreis Gottes (neuntes Buch) und schließlich in eine Reflexion über Gedächtnis, Erinnerung und Zeit um. Der Endpunkt der persönlichen Entwicklungsgeschichte bewirkt eine Zäsur in der Erzählhaltung. So tritt der narrative Gestus der Erzählung ab dem zehnten Buch hinter den der philosophischen Meditation zurück. Als Ausdruck eines dramaturgisch ausgefeilten Konstruktionsprinzips enthält die Schrift im Anschluss an das Bekehrungserlebnis nur mehr Metareflexionen zum Problem der Zeit, über die Beziehung zu Gott sowie zum Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung.

Obwohl sich Augustinus als Autobiograph des topographischen Gedächtnismodells der rhetorischen Memoria-Lehre bedient und glaubt, die „weiten Hallen des Gedächtnisses“8 in der schreibenden Erinnerung durchschreiten, um sich auf diese Weise selbst begegnen zu können, so gelangt er dennoch zu der Auffassung, dass das Gedächtnis letztlich grenzenlos und unfassbar sei. Dem vom Vergangenheitsforscher Augustinus ausgerufenen „gleichwohl fasse ich selber nicht ganz, was ich bin“9 ist die Gewissheit über die Unzugänglichkeit der eigenen Geschichte bereits eingeschrieben. Seine metareflexiven Kommentare in den Confessiones zeugen von einem tieferen Bewusstsein dafür, dass das Gedächtnis lediglich Abbilder, nicht aber Erinnerungen selbst zu speichern vermag. Mit seiner Überzeugung, dass die zeitliche Lücke zwischen dem in der Vergangenheit Erinnerten und dem gegenwärtigen Akt des Erinnerns nicht zu schließen sei, bringt Augustinus avant la lettre die Idee der „Erinnerungsspur“ ins Spiel, die zum konstitutiven Bestandteil von Freuds Architektur des menschlichen Bewusstseins werden sollte: Erinnerung erfasse letztlich, so Augustinus, „nur Worte, geschöpft aus Bildern, die im Geiste, als sie durch unsere Sinne hindurchzogen, gleichsam Spuren eingedrückt haben.“10

Der raumgreifenden Behandlung der Erinnerung im zehnten Buch der Confessiones stehen folglich Reflexionen über das Vergessen gegenüber. Memoria und oblivia gehen darin in eine unauflösbar wechselseitige Struktur, eine Möbiusschleife (bei der Innen und Außen zusammenfallen) ein, die für Schlingensiefs Ästhetik der Übermalung geradezu grundlegend ist. Wie Schlingensief, so begreift bereits Augustinus das Vergessen eines Erlebnisses als Voraussetzung dafür, dass dieses in der Erinnerung als Bild wiederkehren kann:

So ist es [das Vergessen] da, daß wir es nicht vergessen; indem es da ist, vergessen wir. Oder läßt sich hieraus erkennen, daß es nicht selber, wenn wir seiner uns erinnern, im Gedächtnis ist, sondern nur sein Bild? Denn wäre es an sich selbst dort gegenwärtig, so wäre doch die Folge, daß wir vergäßen, nicht daß wir uns erinnerten.11

Dementsprechend erfasst schon der Autobiograph Augustinus, der durch sein Vergessen die Bilder der Erinnerung produziert, nicht „das Beharrende im Wechsel“12, wie der Hermeneutiker Georg Misch glaubte, sondern ist vielmehr der Konstrukteur einer Lebensgeschichte, die „Gegebenes und Hinzugedachtes in eine Beziehung“13 bringt. So klingt die Kategorie des Imaginären, die in Wolfang Isers Konzept der Leerstellen zwischen der dualen Trennung von Fiktion und Wirklichkeit das tertium comparationis besetzt, bereits in den Augustinischen Imagines der Vergangenheit an.

Sterben lernen:  Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes

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