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2.1.3 Jean-Jacques Rousseaus Confessions

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Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau rekurriert mit seinen posthum veröffentlichten Confessions (1782/1789) expressis verbis auf den Hypotext des Augustinus und schreibt den vom spätantiken Autor etablierten autobiographischen Beichttopos zu einer Entblößung des Selbst vor den Augen der Öffentlichkeit um. Um den Enthüllungsgestus seiner Bekenntnisschrift zu untermauern, exponiert Rousseau einen intertextuellen Verweis auf den 2. Brief an die Korinther. Im biblischen Text spricht der Apostel Paulus die Korinther mit der Gewissheit an, dass sie „ein Brief Christi“ seien, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens“ (2. Kor. 3, 3). Ob in Kenntnis oder Unkenntnis der Apostrophe des Paulus an die Menschen als göttliche Herzensschrift war Rousseaus autobiographisches Projekt ebenso dazu angetan, die Inskription seines Herzens offenzulegen. „Ich allein. Ich lese in meinem Herzen“1, lautet Rousseaus Versprechen an den Leser, das mit einem unbedingten Wahrhaftigkeitsanspruch an seine autobiographische Darstellung einhergeht. Der verführerische Topos des entblößten Herzens regte noch die ironisch gebrochenen Offenbarungsgesten Edgar Allan Poes und Charles Baudelaires an, bis sich diese Ende des 20. Jahrhunderts zu massenmedialen Imperativen entwickelt hatten, die Schlingensief schließlich mit widersprüchlichen Implikationen auf die Theaterbühne transferierte.

Mit seiner Versicherung, „das Gute und das Böse mit dem gleichen Freimut erzählt […], nichts Schlimmes verschwiegen, nichts Gutes hinzugefügt“2 zu haben, bietet Rousseau dem Leser an, in seinem unverstellten Ich wie in einem offenen Buch zu lesen. Seine emphatische Reklamation von Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität im Vorwort baut er rhetorisch als Klimax von Handeln und Denken zu einem inklusiven Seinsbegriff auf: „‚Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich!‘“3 Die offensive Geste des Sich-Zeigens setzt er strategisch ein, um den Adressaten seiner Schrift die Möglichkeit einer Interpretation gänzlich zu entziehen. Hierin Augustinus ähnlich, lässt der Autor, dem sich sein Selbst allerdings nicht mehr im Zwiegespräch mit Gott offenbart, keinen Zweifel an der Autorität seines Wortes. Am Ende seiner Bekenntnisse warnt er den apostrophierten Leser im Duktus exekutiver Überwachung gar vor einer Skepsis gegenüber der Wahrhaftigkeit des Beschriebenen: „Ich habe die Wahrheit gesagt. Wenn jemand etwas weiß, was dem eben Erzählten widerspricht, und wäre es tausendmal bewiesen, so weiß er nur Lug und Trug.“4 Trotz seines selbstauferlegten Diktats der Wahrheit, das die persönlichen Verfehlungen und charakterlichen Defizite nachgerade betont, muss Rousseau dem Leser dennoch bekennen, dass er bisweilen mit poetischer Erfindungsgabe die Leerstellen in seiner Erinnerung schließen musste: „wenn es mir manchmal begegnete, daß ich einen bedeutungslosen Zierrat verwandte, so geschah es nur, um eine Lücke zu füllen, die mir mangelnde Erinnerung verursachte.“5

Hinter diesem Eingeständnis verbirgt sich Rousseaus Reflexion der Medialität von Schrift, die das gelebte Leben in einem Akt der Konstruktion rückwirkend entwirft. Im Rahmen seines autobiographischen Großprojektes musste sich der Autor darüber bewusst werden, dass sich das Subjekt seiner eigenen Mediatisierung grundlegend widersetzt, da es dem Ich letztlich versagt bleibt, sich gleichsam von außen und mit Distanz objektiv zu betrachten. Im Bewusstsein über die existierende „Spannung zwischen der Angst vor dem Selbstverlust und der Unerschütterlichkeit der Selbstgewissheit“6 formuliert Rousseau unweigerlich einen Subjektbegriff, der aus der Sicht Peter Bürgers „erstmals das moderne Ich in seiner Widersprüchlichkeit zu Darstellung“7 bringt.

Entgegen des im Vorwort der Confessions artikulierten ehrgeizigen Programms, zwischen seinem subjektiven und einem allgemein anthropologischen Erkenntnisinteresse zu vermitteln, nämlich „das einzige Bild eines Menschen, genau nach der Natur und in seiner ganzen Wahrheit“8 gemalt zu haben, formiert sich im Autor die Gewissheit, dass die mit Nachdruck reklamierte Einzigartigkeit seiner selbst durch das Medium der Schrift nicht einzuholen ist. Martina Wagner-Egelhaaf sieht in diesem fragilen Verhältnis von Wahrhaftigkeit und sprachlicher Repräsentation die eigentliche Problematik des Rousseauschen Unternehmens:

Die repräsentierende Sprache, so virtuos er sie handhabt, ist seinem eigenen Bekunden nach nicht in der Lage, die verwirrende Komplexität seiner Gefühle darzustellen, gleichwohl ist es aber nur diese so unzureichende Sprache, die von der Existenz seiner inneren Gefühlswelt überhaupt Kunde zu geben vermag. So kreist Rousseaus Schrift um jenen immer entzogenen Punkt, an dem Außen- und Innenwahrnehmung, Repräsentation und Repräsentiertes idealiter zusammenfallen könnten.9

An der technischen Unmöglichkeit, das Herz („jenen immer entzogenen Punkt“), als der emphatisch aufgeladene Vorstellungskomplex von Rousseaus Innerlichkeit, über die Sprache nach außen zu transportieren, zeigt sich das grundlegende Dilemma jedes autothematischen Kunstwerks. Weil es auf die Wirklichkeit verweisen soll, muss es sich selbst zwingend in ein referentielles Verhältnis zur ihr setzen. Da es das Leben allerdings naturgemäß sprachlich nicht fassen kann, kommt das autobiographische Werk seiner aus hermeneutischer Sicht essentiellen Bestimmung niemals nach. Rousseau ist der erste Autobiograph der abendländischen Kulturgeschichte, der an der sprachlichen Undarstellbarkeit seiner Identität scheitert. Aufgrund der unüberwindbaren medialen Differenz der Schrift gerät sein Versuch, sich selbst als idealtypisches Unikum darzustellen, zu einem regelrecht quälenden Verpassen seines Selbst. Die verschriftlichte Repräsentation seines Lebens führt ihm die Grenzen der eigenen Sprachfähigkeit und mithin jene Nicht-Identität in der Doppelposition des Betrachters und des Betrachteten vor Augen, die Schlingensiefs Autobiotheatralität schließlich zum Ich-Darstellungsdispositiv nobilitieren wird. „Ich kann mich nicht begreifen“, lautet die Erkenntnis, die Schlingensief im Fluxus-Oratorium vorbringt und damit sein ästhetisches Bekenntnis der geschichteten Selbstkonstruktion existentiell untermauert.

Sterben lernen:  Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes

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