Читать книгу Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes - Johanna Zorn - Страница 11
1.4 Individuelle Mythologie als Paradoxie im Ich
ОглавлениеDurch die Einflechtung ästhetischen, mythisch-religiösen und philosophischen Materials in den Bezugsrahmen des Persönlichen arbeitete Schlingensief mit geradezu plakativer Deutlichkeit an einer „individuellen Mythologie“1. Der programmatische Begriff, mit dem Harald Szeemann im Zuge der 1972 unter dem Titel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ firmierenden documenta 5 eine im Dienste der Kreativität stehende Überhöhung des Egozentrismus und damit eine Abkehr von kollektiv verbindlichen Mythenkomplexen thematisierte, ist für Schlingensiefs künstlerische Thematisierung seines Ichs fruchtbar zu machen. Mit seinen dichten motivischen Formationen eigener und fremder Stoffe, dem ironisch gebrochenen Spiel mit religiösen Ritualen und Bildformeln, der Inszenierung symbolischer Transformationsvorgänge und nicht zuletzt seiner selbstreferentiellen Inkorporation traditionellen ästhetischen Inventars lässt sich der Regisseur in eine Reihe mit Künstlern von Paul Thek über die Wiener Aktionisten bis hin zu Joseph Beuys einordnen, die sich „mit ihren Bildwelten aus den Konventionen des kollektiven Wirklichkeitsverständnisses ausklinken und Entwürfe eines Kosmos liefern, der nur den eigenen kontrollierten Gesetzmäßigkeiten gehorcht.“2 Die Verquickung des traditionellen Begriffs von Mythos als einem überindividuellen, verbindlichen Symbolsystem mit der Erfahrungswelt des Einzelnen lebt sowohl bei den historischen Referenzfiguren als auch bei Schlingensief von der funktionalen Paradoxie, zwei kontradiktorische Erfahrungsebenen in eine widersprüchliche künstlerische Formel zusammenzuschließen. Mit dieser Formel erhebt „die Egozentrik den Anspruch […], eine allgemeingültige Sprache zu sprechen“3.
Von einem derartigen Standpunkt existentieller Selbsterfahrung, der sich nicht in privatistischer Autoreflexion erschöpft, sondern die eigenen enigmatischen Handlungsräume gegen die unhinterfragte Ordnung der Dinge in Anschlag bringen will, zeugt Schlingensiefs Schaffen selbstverständlich bereits vor dem Einbruch seiner Krankheit. Schon mit seinem ersten Langfilm Tunguska – Die Kisten sind da (1984) lanciert der Regisseur, den am Medium Film nach eigenen Aussagen vor allen Dingen seine materiale Zerstörbarkeit faszinierte,4 die autoreflexive Geste eines jungen Filmregisseurs, der gegen das Gebot des filmischen Realismus aufbegehrt und das Ende des Neuen Deutschen Films heraufbeschwört. Anhand hysterisch überspannter Familienkonstellationen wiederum zeigt die „Deutschland-Trilogie“, bestehend aus 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1988), Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) und Terror 2000. Intensivstation Deutschland (1991/1992), ernüchternde Gegenwartsdiagnosen und die Erforschung deutscher Geschichte. Seine Theaterarbeiten führen die Impulse aktueller politischer und gesellschaftlicher Diskurse im intermedialen Assoziationsfeld weiter und zeichnen sich durch die Dichte an Bezügen zu vorangegangenen Arbeiten aus. So widmen sich etwa die sowohl im thematischen Umfeld der Church of Fear als auch Schlingensiefs Bayreuther Parsifal (2004–2007) entstandenen Inszenierungen Atta Atta – Die Kunst ist ausgebrochen (Volksbühne Berlin, 2003), Bambiland (Burgtheater Wien, 2003) und Attabambi Pornoland (Schauspielhaus Zürich, 2004) ebenso den Anschlägen des 11. Septembers wie der medialen Inszenierung des Irakkriegs und zeigen motivische wie inszenatorische Versatzstücke der Parsifal-Inszenierung. Inmitten dieser apokalyptischen Settings stellt Schlingensief wahlweise Beuys’ Aktion Coyote nach, versucht sich als Aktionskünstler im Geiste Hermann Nitschs, dirigiert von einem Turm aus Wagners Tannhäuser-Ouvertüre und spielt nebenbei ein Kind, das gegen die Eltern rebelliert. In den letzten Inszenierungen Schlingensiefs führt eine solche Fundierung des ästhetischen Schaffensaktes im persönlichen Erfahrungshorizont des Künstlers allerdings zu einem ernsten, existentiellen Spiel um die Offenbarung und Chiffrierung des autobiotheatralen Ichs. Die augenscheinliche Mythologisierung des Ichs, die als implizites Leitmotiv zahlreicher Rezensionen fungiert, zeigt überdies den Versuch einer Aktualisierung kunstphilosophischer Konzepte der Frühromantik an.
Dies wird offensichtlich mit Blick auf Friedrich Schlegels Konzept der Universalpoesie. In seinem fiktiven Gespräch über die Poesie weist der Philosoph die Poesie als schöpferischen Urquell aus, der zwischen dem Einzelnen und der allumfassenden Idee des Kosmos vermittelt. In einem für das romantische Denken konstitutiven Modus „kosmischer Projektion“ bindet Schlegel seine Überzeugung, wonach „jeder [Mensch] seine eigne Poesie in sich“5 trage, an ein übergeordnetes, unbestimmbares Prinzip schöpferischer Kraft zurück. Diese höhere Poesie, die „von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit“6 hervorgeht, fungiert ihrerseits als Statthalterin des Numinosen. Aus dem alles einschließenden, selbstschöpfenden Vorstellungskomplex der Poesie erwächst letztlich Schlegels Forderung nach einer Neuen Mythologie. An sein poetisches Konzept knüpft er nichts weniger als die Hoffnung auf eine verbindliche, gemeinschaftliche Weltanschauung, die zwischen den Dualismen einer zerrissenen modernen Welt vermittelt. Die Neue Mythologie ist mithin dazu angetan, die religiöse Lücke einer entgötterten Welt in der Romantik zu schließen. Die Voraussetzungen für einen derartigen wirkungsästhetischen Zusammenschluss von Kunst und Religion liegen dabei freilich in deren vorangegangener Trennung im Zuge der Aufklärung und im nunmehrigen Fehlen eines verbindlichen religiösen Sinngebungssystems.
Hinter Schlegels Entwurf einer alles verbindenden poetischen Kreativität kommt der Begriff der Kunstreligion zum Vorschein. Friedrich Schleiermacher bringt ihn im Jahr 1799 in seinen Reden Über die Religion erstmals ins Spiel. Der Begriff drückt die Sehnsucht nach Ganzheitserfahrungen – bei Schleiermacher die Suche nach der „Harmonie des Universums“7 – aus. Obwohl Schleiermacher zunächst keinen Zweifel daran lässt, dass die Kunst der Religion gegenüber eine dienende Funktion übernimmt, so gesteht er ihr im Laufe seiner Argumentation doch die Möglichkeit zu, aus eigener Kraft das Unendliche erfahrbar zu machen. Mit der Beobachtung, dass „der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion“8, weist er ebenso entschieden über Goethes verhaltene Bemerkung hinaus, wonach die Kunst „auf einer Art religiösem Sinn, auf einem tiefen unerschütterlichen Ernst“9 beruhe, wie über Klopstocks Ansicht, dass die „heilige Poesie“ sich nachahmend die Wirkungsmechanismen des Religiösen zu eigen mache.10 Die Wirkungsqualität erhabener Kunstwerke ermöglicht für Schleiermacher eine gleichsam religiöse Erfahrung des Absoluten.11 An seiner begrifflichen Verbindung der Sphären von Kunst und Religion äußert sich seine Hoffnung auf eine neue Art der religiösen Erfahrung, die das Endliche transzendiert und einen Zugang zum Universum ermöglicht.12
Der Versuch, eine mythische Welt zu restituieren, in der die Oppositionen von Endlichem und Unendlichem, Einheit und Vielfalt, Individuum und Gemeinschaft, Absolutem und Relativem, Subjekt und Objekt aufgehoben sind, führt bei Schlegel über die ästhetisch liminale Sphäre einer anderen Realität, eines „verdoppelte[n] Leben[s]“13, in dem Einbildungskraft und Denken verschränkt sind. Dieses Leben muss, wie der Philosoph in seiner dem Gespräch über die Poesie eingelagerten „Rede über die Mythologie“ betont, „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen“14. Mit seinem Entwurf der „progressiven Universalpoesie“15 löst Schlegel das ästhetische Desiderat einer Kunst als Gefäß des Absoluten schließlich ein. Die programmatische Forderung nach einer Poesie, deren metaphysisches Einheitsstreben gerade auf der Sprengkraft von unterschiedlichen Sphären der Erkenntnis und Wahrnehmung beruht, wie es Schlegels Chiffren der „Symphilosophie und Sympoesie“16 nahelegen, zielt nicht lediglich auf ein inklusives, zwischen den verschiedenen Gattungen und Erkenntnisebenen vermittelndes Konzept. Vor allen Dingen ist damit die dynamische Komponente einer Kunst angesprochen, in der Sein als beständiges Werden erscheint, das im Prozess fortwährender Umcodierung von Sinn niemals an sein Ende gelangen kann.
Als Quintessenz romantischer Kunstphilosophie für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts extrahiert Karlheinz Bohrer die Vorstellung einer ästhetisch-metaphysischen „Vagheit“, eines „enigmatische[n] Surplus des ästhetischen Eindrucks, das sich nicht mit einem Signifikat identifizieren lässt.“17 In der Tat erhält das Begriffsinventar quasireligiöser Erfahrung im kunstphilosophischen Diskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter gewandelten Vorzeichen eine Wiederbelebung. So überführt Adorno die kunstreligiöse Prämisse der Vereinigung von Gegensätzen im Zeichen der Erfahrung von Totalität in sein Konzept ästhetischer Negativität. Kunst erhält demnach in ihrer negativen Form als Antidot gegen die Wirklichkeit ihre Berechtigung. Mit Lyotard wiederum wird die Erfahrung des Erhabenen als unmittelbare Erfahrung des Undarstellbaren ausgewiesen, die unter der Erscheinungsqualität des Instantanen die „Botschaft […] von nichts, das heißt von der Präsenz“18 selbst übermittelt. Der Lyotardsche Begriff des Erhabenen stiftet mithin eine spezifische „Aufmerksamkeit für das Inkommensurable und Flüchtige, das Ereignishafte, Nicht-Bestimmbare, das sprachlich nicht Verallgemeinerbare und darin tief Verstörende in allen unseren Erfahrungsvollzügen“19.
Im ästhetischen Kosmos Schlingensiefs zeigen sich die romantischen Prämissen des Unbestimmten und Prozessualen ebenso wie deren Aktualisierung unter den Bedingungen der Negativität und des Erhabenen als elementare performative Grundprinzipien, die im Knotenpunkt individueller Mythologie zusammenlaufen. Die dynamische Qualität künstlerischen Sinns spitzt er zum Darstellungsideal eines fortwährenden Sinnüberschusses zu, das die Grundsätze der Logik wie auch das Darstellungsparadigma der geschlossenen Repräsentation im Geiste avantgardistischen Avancements abstreift und stattdessen von der formsprengenden Kreativität des Künstler-Ichs ausgeht. Sein eigenes künstlerisches Gesetz hat der Regisseur dabei ganz offensichtlich in der ästhetischen Funktionalisierung von Widersprüchlichkeiten aufgespürt. Die Kategorie des Negativen, die Schlingensief in seinen künstlerischen Akten als Widerstand gegen jegliche Form von Eindeutigkeit aufbietet, fungiert dabei also nichtsdestoweniger als Absolutum. Darin durchaus Adorno folgend, erschuf er auf diese Weise eine Kunst, die „die Elemente der empirischen Realität ebenso in sich enthält wie versetzt“20.
Mit Beharrlichkeit arbeitete Schlingensief gegen die Widersinnigkeit der Realität an, indem er die Paradoxien, die das Leben bereithält, in seine Kunst inkorporierte. Von der provokativen Wiederholung politischer Parolen, wie „Ausländer raus“ und „Nazis rein“21, über die rhetorische Umkehrung pädagogischer Lebensweisheiten in kontrafaktische Formulierungen, wie „Scheitern als Chance“, „Jage zwei Tiger!“ und „Können des Nichtkönnens“22, bis hin zu Oxymora, die in den Wendungen „Kirche der Angst“, „Erinnern heißt Vergessen“ und „Unsterblichkeit kann töten“ einen tieferen philosophischen Gehalt entbergen sollen, setzte der Künstler wiederholt einander unvereinbare Vorstellungskomplexe in eins. Die zahlreichen Auftritte des Regisseurs in seinen eigenen Inszenierungen wiederum gehorchten dem Prinzip des Selbstwiderspruchs. Sein Spiel mit der Überlagerung kontradiktorischer Modi der Erfahrung von Wirklichkeit zeigt sich vor allem daran, dass er als Akteur stets jene künstlerischen, philosophischen und politischen Äußerungen ironisch kommentierte, konterkarierte oder provokativ zurücknahm, die er in seiner Funktion als Regisseur etabliert hatte. Ein ähnlich ausgeprägtes Prozessdenken liegt auch der künstlerischen Entwicklungslogik zugrunde, nach der seine unterschiedlichen Theaterarbeiten miteinander verbunden sind: So spinnen seine Inszenierungen stets Elemente aus seinen vorangegangenen Arbeiten weiter – auch um den Preis, dass sie sich bisweilen in einen innerästhetischen Kommentierungs- und Verweisungszusammenhang verstricken und dem uninformierten Rezipienten auf diese Weise verwehren.
Mit diesen performativen und rhetorischen Widersprüchen offenbarte der Regisseur das kreative und epistemologische Potential von existentiellen Antagonismen. Die Entbergung tieferer Wahrheiten, so scheint es, war für ihn ausschließlich über den Zusammenprall einander ausschließender Grundsätze zu erhalten. Seine nahezu unerschütterliche Gewissheit, dass die Wahrheit zugleich das Eine und das Andere sei, führte Schlingensief auf ein persönliches Mythologem zurück. So erklärte er seinen Hang zum Widersprüchlichen wiederholt zur conditio seiner Existenz. Bereits als Kind habe er auf die Frage seiner Mutter, ob ihm das Essen geschmeckt habe, stets mit den Worten „‚Kann sein, kann aber auch nicht sein‘“23 geantwortet. Mit dem Selbstbild eines geradezu zwanghaften Wahrheitssagers, das der Dramaturg Carl Hegemann gar als physisches Unvermögen zur Lüge stilisiert hat,24 untermauerte der Regisseur die Genese seines polyperspektivischen, ebenso autobiographischen wie ästhetischen Narrativs. Eine äquivalente biographische Anekdote aus der Kindheit legte er seiner filmischen Schichtungstechnik zugrunde: Ein technischer Lapsus seines Vaters, der einen Filmstreifen doppelt belichtete, bescherte ihm die prägende Erfahrung zweier Filmbilder in einem.25 So erwächst aus der diskrepanten Überlagerung von Sinneinheiten und Bildern Schlingensiefs hermetisch holistische Kunst der „Sympoesie“, die das Paradoxe, d.h. das Negativ des Sinns, vor dem persönlichen Erfahrungshorizont zum Absoluten stilisiert.
In seinen autobiotheatralen Inszenierungen nun versetzte er sein in der Vergangenheit gelebtes und in der Gegenwart erlebtes Ich in dieses Spannungsfeld von Selbstdifferenz und synthetisierender Totalität, das Reibungen zwischen Religion und Kunst sowie Avantgarde und Kitsch zuließ. Schlingensiefs in diesem Sinne paradoxal gefasste existentielle Spurensuche in Eine Kirche der Angst (inklusive des Satellitenwerks Der Zwischenstand der Dinge) und Mea Culpa, mit der sich seine Rückschau auf sein Leben und seine Kunst mit seinen Reflexionen über den bevorstehenden Tod vermischten, führte auch das deutschsprachige Feuilleton aufgrund des Zusammenfalls von Faktualität und Fiktionalität offensichtlich an die Grenzen seiner Sprach- und Beurteilungsmöglichkeiten. Der Regisseur, der sein Leben zum Sujet seiner Inszenierungen machte, spaltete die Kritiker grosso modo in zwei Lager: aus der Sicht der Einen provozierten die Arbeiten Anteilnahme und sogar rituelles Gemeinschaftsgefühl, aus der Sicht der Anderen geriet die Selbstdarstellung zu einer hypertrophen Selbstentäußerung typisch Schlingensiefschen Zuschnitts. So liegt einer Vielzahl an Rezensionen das Lavieren zwischen ebenjenen Gegensätzen zugrunde, die Schlingensief mit seinen Inszenierungen zum Stilprinzip erhob. Der widersprüchlichen Verquickung von Authentizitätseffekten und synkretistischer Ich-Übermalung, von Entblößung und Maskierung, von egomanischer Selbstinszenierung und der Konstruktion eines rituellen Wir-Gefühls sowie, nicht zuletzt, von Religion und Kunst kamen die Rezensenten verständlicherweise nur durch eine rhetorische Wiederholung Schlingensiefscher Paradoxien bei.
In der feuilletonistischen Betrachtung der „Krebs-Trilogie“ schob sich aufgrund der Zurschaustellung der Krankheit insgesamt allerdings tendenziell die Haltung der Pietät vor diejenige einer schonungslos kritischen Hinterfragung der Projekte. Die von Georg Seeßlen bereits in den 1990er Jahren angesprochene „mögliche Unübersetzbarkeit des Schlingensiefschen Arrangements in die klassische Form des Textes“26 hatte sich im Moment des bedrohlichen existentiellen Zustands des Regisseurs und Protagonisten bewahrheitet. Der Art und Weise, wie Schlingensief sein persönliches Leid und seine Angst vor dem Tod auf die Theaterbühne brachte, schien mit konventionellen normativen Bewertungskriterien jedenfalls nicht mehr beizukommen zu sein.
Über die Motive der Egozentrierung, Ritualisierung und Entblößung des Ichs und die Topoi des Bekenntnisses und der Beichte stellen die Rezensionen zu Eine Kirche der Angst, Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa einen engen Konnex zu Ausdrucksgesten der Autobiographie her. Der den Arbeiten in den Augen vieler Rezensenten zugrunde liegende autobiographische Inszenierungsgestus, der im theaterwissenschaftlichen Jargon gemeinhin mit dem Begriff der Selbstinszenierung enggeführt wird, zeigt sich, fasst man die Argumente der Journalisten zusammen, im Versuch Schlingensiefs, die Zuschauer in der rückschauenden Betrachtung seines Lebens seiner Person ansichtig werden zu lassen. Das Kernmotiv der Autobiographie seit ihren Anfängen, der Versuch einer Konstruktion von Identität, d.h. der Unteilbarkeit (lat. idem, derselbe) des Ichs, wird in Eine Kirche der Angst und Mea Culpa allerdings gleichermaßen inszeniert und torpediert: So verweist Schlingensief zwar in jedem Moment der Inszenierungen auf sein Selbst; gleichzeitig tut er dies jedoch mit den Mitteln einer bruchstückhaften Kunstsprache, die die Schichten seines Ichs in einem unentwegten Maskenspiel freilegt, um sie im nächsten Moment wieder zu verhüllen. Der Regisseur als Sujet seiner Inszenierungen entzieht sich dabei konsequent der Fixierung auf einen einzigen subjektiven Standpunkt und setzt durch die personale Multiplikation seines Ichs in zahlreiche Bühnenfiguren, durch mediale Verfremdungseffekte sowie den theatral inszenierten fremden Blick auf das eigene Schaffen, ein intrikates Wechselspiel zwischen seinen unterschiedlichen Ich-Positionen in Gang. In zahlreichen Variationen von theatraler und medialer Rede und Gegenrede lässt er diese miteinander kommunizieren, grundiert oder übermalt sie mit eigenem und fremdem künstlerischem Material und wird dadurch zur verkleideten Kunstfigur. Der dem poststrukturalistischen Denken zugrunde liegende Vorgang der Zerlegung, Umcodierung und Neukontextualisierung, den der philosophische Terminus der Dekonstruktion umschreibt, ist für Schlingensiefs montagiertes Gesamtkunstwerk seines Ichs ebenso konstitutiv wie der Wille, seine, wenn auch gebrochene, Identität in einem Zustand der Ekstase nach außen zu transportieren. Aufgrund dieses antinomischen Zusammenfalls von Konstruktion und Dekonstruktion des Ichs stellt die Gesamtheit seiner thanatographischen Inszenierungen zweifelsohne einen intermedialen Hypertext zur hybriden Textsorte der Autobiographie mit ihren im literaturwissenschaftlichen Diskurs problematisierten Techniken der ästhetisierten Selbstdarstellung dar. Schlingensiefs autobiotheatrale Hervorbringungen setzen sich dabei keineswegs nur die Maske der Autobiographie auf, um diese zu parodieren, sondern folgen im Spiel der Selbstinszenierung bewusst den Wandlungen eines mit sich selbst nicht identischen Ichs.