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2.1.4 Johann Wolfgang von Goethes Dichtung und Wahrheit

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Mit seinem autobiographischen Werk Dichtung und Wahrheit (1811–1833) komplettiert Goethe das von Dilthey aufgezeigte autobiographische Dreigestirn.1 Im Unterschied zu Rousseau war Goethe nicht die Kompensation seiner Verkennung durch seine Mitmenschen Anlass einer Selbstverschriftlichung, sondern vielmehr der Wunsch, eine künstlerische Bilanz seines Lebens zu ziehen. So ist Dichtung und Wahrheit aus der an die Adressaten gerichteten Hoffnung heraus entstanden, „in der Person des Dichters Mensch und Werk als eine innere Einheit wahrhaft ernst zu nehmen“2. Gleichzeitig sollte Goethes Autobiographie dem Leser Erkenntnisse über die Zeit seines Lebens vermitteln. Sein im Vorwort dargelegtes Ansinnen zielt auf nichts Geringeres als die Abbildung seines Ichs als Spiegel und Ausdruck der Zeit, nämlich

[…] den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter und Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.3

Indes löst das Werk trotz seines Memoiren-Gestus das von Werner Mahrholz formulierte Desiderat einer Autobiographie, die über die sozialgeschichtliche Kontextualisierung des Ichs das „Zeugnis der Lebensstimmung einer Zeit“4 ablegt, nur bedingt ein. Grund dafür ist in erster Linie die auktorial vollzogene subjektive Transformation der historischen Ereignisse. Auch Diltheys Bewunderung für den greisen Goethe, dem im literarischen Rückblick „jeder Moment seiner Existenz in doppeltem Sinne bedeutend [ist]: als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang seines Lebens hineinwirkende Kraft“5, gründet unzureichend auf der Auffassung, der Autor habe Geschichte gegenwärtig anschaulich gemacht und die kontinuierliche Entwicklung seines Lebens dargestellt. Die Perspektive Diltheys, der Dichtung und Wahrheit als Musterbeispiel hermeneutischer Selbstlektüre ausgewiesen hat, unterschlägt das von Goethe selbst angesprochene Dilemma seiner literarischen Unternehmung. Zugleich mit dem Memoiren-Charakter seiner Autobiographie fordert der Autor, wie er selbst erkennt, „Unmögliches“ von sich, nämlich, dass er „sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben“6 ist.

In Konsequenz dieser Einsicht in die Unkenntnis seiner selbst verfasst Goethe seine Autobiographie schlechterdings als Roman, der die Zeitumstände für die Darstellung seiner künstlerischen Ich-Werdung funktionalisiert und sein künstlerisches Schaffen im Gegenzug als Manifest seines Entwicklungsweges entwirft. Dichtung und Wahrheit inszeniert ein Ich als alles überblickenden Beobachter, der durch den Blick auf die historischen Gegebenheiten seiner Zeit zu einer umfassenden Reflexion über sein Leben gelangt. Die beiden Sphären der Dichtung und der Wahrheit sind im Werk insofern wechselseitig aufeinander bezogen, als dass die Dichtung als Abstraktion des Gewesenen die Wahrheit hervorbringt, die Wirklichkeit umgekehrt allerdings – Goethes Selbstverständnis als Schriftsteller entsprechend – lediglich als Dichtung, als „höhere Wahrheit“7 zum Ausdruck gebracht werden kann. Im Unterschied zu Rousseau tritt Goethe mit einem dezidiert poetischen Anspruch an die Gattung der Autobiographie heran. Die dichterische Selbststilisierung des Autors, die das Leben in den Rang des Profanen herabsetzt, um ihm durch den dichterischen Schreibakt erst zu seinem eigentlichen Recht zu verhelfen, regte nicht lediglich eine Reihe an parodistischen Hypertexten an, die etwa von Jean Pauls Selberlebensbeschreibung (1826, posthum) bis hin zu Thomas Manns Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (1954) reichen, sondern stellt überdies den unfreiwilligen Fluchtpunkt der erst im Laufe des 20. Jahrhunderts theoretisch fundierten literarischen Selbstbeschreibungsstrategie der Autofiktion dar. Das poetologische Konzept geht dabei selbstredend entschieden über Goethes romaneske Stilisierung des Ichs hinaus, indem es die fiktionale Konstitution des erschriebenen Subjekts, das keinen Ort außerhalb seiner textuellen Manifestation besetzt, selbstbewusst zur Disposition stellt. Mit Serge Doubrovskys Autofiktion und Alain Robbe-Grillets Programm der Nouvelle Autobiographie gelangt das autobiographietheoretisch problematische Verhältnis von Referenzialität und Fiktionalität in das Zentrum der autothematischen Schreibpraxis. Die Einheit des autobiographischen Ichs wird erzähltechnisch in die Mehrzahl von verschiedenen Sprecherpositionen aufgelöst und findet in Schlingensiefs letzten Inszenierungen schließlich seinen intermedialen Echoraum.

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts deklariert der Schriftsteller Carl Einstein mit Blick auf Goethes Dichtung und Wahrheit die autobiographische Selbstlektüre zur „Halluzinatorik“. Einstein blieb nicht verborgen, dass Goethe, gerade indem er auf seine dichterische Fähigkeit zur Wahrhaftigkeit vertraute, an einem emphatischen Ich-Bekenntnis festgehalten hatte. In seinem Nekrolog 1832–1932 polemisiert er gegen den dichterischen Autobiographen, dem bei allem Bekenntnis zur Fiktion offensichtlich nicht bewusst gewesen ist, „daß das Denken in Wirklichkeit ein Auflösen der Erkenntnis“8 bedeutet und „daß alle Kontinuität aus Angst vor dem Tode fabriziert wird.“9 Besessen von seiner Eigenliebe, so Einstein, trachtete Goethe letztlich danach, seine Person in Dichtung und Wahrheit zu konservieren und hat dabei übersehen,

daß das Ich in der Tätigkeit untertaucht und vergessen wird, daß wir nur soweit handeln, als das Ich zerstört wird. Denn das Ich ist nichts weiter als eine nachträgliche Rückschau; alles Tun ist ekstatisch und kann nur durch Zerstörung des Ichs eintreten.10

Einsteins Verdikt gegen die autobiographische Überheblichkeit Goethes kommen die darstellungstechnischen Zweifel des Autors selbst entgegen, die er in seiner captatio benevolentiae an die Leser zum Ausdruck bringt.

Wie Goethe, der sein Ich (nur) dichterisch zum Leben erweckt, so waren sich auch Rousseau und bereits Augustinus über die Insuffizienz ihrer Mittel zur Darstellung von Wahrhaftigkeit bewusst: Augustinus über die Vergeblichkeit, sich selbst in rückschauender Erinnerung ansichtig zu werden; Rousseau über die mangelhafte Darstellungskraft seiner Sprache, die dem Ich in seiner Widersprüchlichkeit nicht gerecht werden kann. Die prominenten Autobiographen der europäischen Kulturgeschichte bis hin zu Goethe treten, obwohl sie einen transparenten Zugang zum Ich herstellen wollten, somit mehr oder weniger explizit als „Autopseusten“11 (griech. pseustes, Lügner) auf. Friedrich Schlegel kreierte diesen Neologismus für jene aus seiner Sicht merkwürdige Spezies an Schriftstellern, die im Versuch, literarisch Zeugnis über ihr Leben abzulegen und rhetorisch ihre Identität zu befestigen, da sie „sich selbst nicht ohne Erläuterungen aus der Welt gehen lassen können“12, doch nur Konstruktionen ihrer selbst formen.

So erscheint Autobiographie seit ihren Anfängen als „verhüllendes Entschleiern“13 der Diskrepanzen im schreibenden Ich. Der vergebliche und doch existentielle Anspruch der Selbstmodellierer von Augustinus bis Goethe liegt in der Rückbindung des Schreibenden an das Beschriebene, mit der die von Einstein erwähnte, notwendige „Zerstörung des Ichs“ gerade kaschiert wird. Schlingensief prolongierte diesen Diskurs des sprachlichen Aufschubs von Präsenz zugunsten einer Simulation des transparenten Ichs mit seinen literarischen Selbstzeugnissen, dem Intimität suggerierenden Krebstagebuch, der posthum erschienenen Autobiographie Ich weiß, ich war’s, seinen zahlreichen Beiträgen in Blogs und Printmedien, im Zeichen „eines Flehens um Ewigkeit“14. Aus all diesen Texten spricht ein Autor, der sich selbst dort noch emphatisch zu seiner Identität bekennt, wo er seine Einzigartigkeit im Scheitern seiner stabilen Identität verortet und – im Geiste Rousseaus – die öffentliche Verkennung seiner Person beklagt. So unterliegt seine Autobiographie ebenso wie sein zu Lebzeiten avisiertes und nach seinem Tod von seiner Lebensgefährtin weiter vorangetriebenes Projekt zur Erbauung eines „Operndorfes“ in Burkina Faso letztlich dem unbedingten Willen, ein Vermächtnis zu stiften, durch das die Gesellschaft der Post-Mortem-Identität des Künstlers in der noematischen Struktur des „Es-ist-so-gewesen“15 ansichtig werden kann.

Da sie sich nicht an die chronologische Vermittlung von Lebensabschnitten (von der Geburt bis hin zum Tod) hält, sondern die Knotenpunkte des Lebens anhand wiederkehrender Motivstrukturen aufreiht, täuscht Schlingensiefs autobiographische Vermittlung des Lebens auf den ersten Blick darüber hinweg, dass sie von der Inszenierung jenes integralen Ich-Bildes lebt, an dem schon Augustinus, Rousseau und Goethe scheiterten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich durchaus, dass der Autobiograph Schlingensief lediglich ein anderes Ordnungsschema wählt, um das „Beharrende im Wechsel“ seines Lebens schriftlich zu erfassen. Die topologisch orientierte Rückschau auf sein Leben zeichnet Verbindungslinien zwischen zentralen künstlerischen Etappen und der Entwicklung seiner Person nach, konstruiert mithilfe autobiographischer loci communes – von der Genese seiner Künstlerexistenz über die Verkennung durch die Umwelt bis hin zu persönlichen und künstlerischen Defiziten und Bekehrungserlebnissen – ein wechselseitiges mythologisches Verhältnis zwischen Künstler und Person.

Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz zementiert diesen Anspruch auf Selbstlegitimation, um erneut darauf zurück zu kommen, nachträglich in das Vorwort seiner Autobiographie. Sie erklärt darin, Schlingensief „ohne große Eingriffe zu Wort kommen zu lassen, ihn selbst seine Gedanken gewichten zu lassen“16, gibt, in Radikalisierung von Schlingensiefs Grundsatz der Selbsthaftbarkeit, sogar ein kompliziertes Lektüreversprechen, das mit demjenigen Rousseaus vergleichbar ist. So könne der Leser sicher sein, „dass Christoph sich dem Bekenntnis ‚Ich weiß, ich war’s‘ verpflichtet fühlte.“17

Demgegenüber nobilitiert Schlingensief die Sezession des Ichs in unterschiedliche Sprecherpositionen in den theatral-medialen Collagen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa schließlich zum grundlegenden Darstellungsprinzip seiner Autobiotheatralität. Trotz der offensichtlichen darstellungsästhetischen Diskrepanz zwischen Schlingensiefs hermetischer literarischer Ich-Mythologie und der multifokalen theatralen Rekapitulation seines Lebens bleibt auch diese auf die von Augustinus bis Goethe konstitutive konzentrische Kraft der epimeleia heautou bezogen: so ist die Selbstsorge der Motor seines autobiotheatralen Unterfangens. Die große Metaerzählung der Sorge um sich selbst kreuzt sich bereits in der Antike mit dem delphischen Imperativ „Erkenne dich selbst!“ (gnothi seauton), der dem Subjektdenken seit Descartes und seinem literarischen Modellfall der Autobiographie zentrale Impulse liefert. In dem von Michel Foucault ermittelten kleinsten gemeinsamen Nenner dieser antiken Aufforderungen an das Subjekt, die dem Ich entgegen seiner sprachlichen Zuschreibung als Unterworfenes (lat. subiectum, Untergeordnetes) die Funktion einbrennen, „Herrscher über sich selbst zu sein, sich selbst vollkommen in der Gewalt zu haben“18, ist die Widersprüchlichkeit von Schlingensiefs letzten Inszenierungen eingeschlossen. Obwohl sich Schlingensiefs theatral-mediale Selbstbehauptung phänomenal betrachtet ausschließlich als Dekonstruktion des Ichs zu erkennen gibt, bleibt sie der Selbstsorge als dem Fundament seiner Identität in höchstem Maße verpflichtet. „Die Dinge sagen ICH in den Arbeiten von Christoph Schlingensief“, schreibt Georg Seeßlen. Sie tun dies allerdings nicht, wie der Filmkritiker meint, als „Anarchisten in eigener Sache“19, sondern nach dem Willen ihres Schöpfers: durch alle seine medialen Masken hindurch sagt Schlingensief „ich“.

Sterben lernen:  Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes

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