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Der Fall „Manuel“: Aus magisch wird tragisch

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Angefangen hat alles ganz harmlos. Der ausgebildete Altenpfleger und Hobbymusiker hatte es sich mit seiner Lebensgefährtin gemütlich eingerichtet. Double income, no kids. Manuel und Manuela trafen sich gerne mit Freunden und pflegten vitale soziale Kontakte. Von übertriebenem Luxus hielten die beiden nicht viel. „Mut zum einfachen Leben“, lautete ihr Wahlspruch. Mit Klebeband am Küchenschrank befestigt signalisierte man damit jedem Besucher ein erlösendes „Sei wie du bist“. Gemeinsames verbindet. Auch Manuela liebte die Arbeit mit Menschen. Der Job als Krankenpflegerin war da genau das Richtige. Sogar Nachtdienste störten die Enddreißigerin kaum, immerhin konnten sie somit beträchtliche finanzielle Rücklagen bilden. Ein Häuschen sollte es einmal werden, irgendwo draußen in der Natur. Die Stadtwohnung war gut gelegen, doch kein Vergleich zur Ruhe am Land, die Manuel der urbanen Hektik vorzog.

Verbindend war nicht nur die Namensgleichheit. Das Paar tat seit gut zehn Jahren jeden Schritt gemeinsam. Konzerte, Reisen, Vereine, Freundeskreis, alles wurde miteinander geteilt. Für Natur pur sorgte der örtliche Reformladen. Kuren, Heilfasten und regelmäßiges Entgiften – stets im Duett – waren treue Begleiter auf dem gemeinsamen Weg. Yogakurse und regelmäßige Meditations-Retreats trugen das Ihre zu einem harmonischeren Miteinander bei. Mit Horoskopen und anderen astrologischen Höhenflügen hingegen war das so eine Sache. Derart explizit Esoterischem gegenüber pflegten die beiden eine eher ambivalente Haltung.

Doch eines Tages traten gewisse Veränderungen in Manuels Verhalten unübersehbar zutage. Gereiztheit, Nervosität und innere Unruhe waren die Folge von Personalabbau und damit verbundener Überbelastung. Im Altenheim trieb der Rotstift sein Unwesen. Auch Manuels Beziehung erfuhr daraufhin eine gehörige Belastungsprobe. Den Job wechseln? Das kam nicht infrage. Und in den alten Beruf als Lohnbuchhalter wollte er keinesfalls zurück. Das seelische Gleichgewicht war zweifelsohne verloren gegangen. Und so erhöhte man kurzerhand das meditative Pensum. Nach der Arbeit verschwand Manuel nun regelmäßig im abgedunkelten Wohnzimmer. Yogamatte3, Kerzenschein und CDs mit kraftspendenden Affirmationen etablierten sich zum täglichen Ritual. Antworten waren es, die Manuel da suchte. Struktur und Halt schätzte Manuel seit jeher hoch. Und je mehr diese im Alltag verloren gingen, desto hoffnungsvoller suchte er sie im Außeralltäglichen. Und er wurde fündig, vorerst jedenfalls.

Mantren singen, meditieren und in unendlicher Liebe baden. Diese lichtvollen Erlebnisse und Zustände erhabener Glückseligkeit waren es, welche Manuel auf seinem Weg weiter bestärkten. Arbeitsplatzsituation, finanzielle Probleme, die Spannungen in der Beziehung, alles relativierte sich. Manuel entwickelte Sendungsbewusstsein. Ja, er strahlte geradezu. Auch Manuela konnte sich diesem Glanz nicht verweigern. Anfangs skeptisch, begrüßte sie nun diese neu gefundene Ruhe in Manuels Leben. Der innere Friede wurde zelebriert, jetzt auch von Manuela: „Schaden kann’s ja nicht.“

„Auraspray Engelmeditation“ –

„Affirmation: Ich lasse mich auf die Engelwelt ein.“[48]

Das Innerweltliche erblühte zum neuen verbindenden Element. Die beiden schwammen gemeinsam im Ozean des Lichtes. Die Fragen des Alltags wurden an höhere Ebenen delegiert. Channeling und Pendel gediehen zum Werkzeug der Entscheidungsfindung. Die Innenwelt begann mehr und mehr die Außenwelt zu überlagern. Manuel fühlte Anschluss. Alles bekam Bedeutung. Das Universum kommunizierte mit ihm. Der ehemalige Fan Bach’scher Kantaten lauschte nun den Gesängen „aufgestiegener Meister“. Dem CD-Regal widerfuhr energetische Säuberung, die wertvolle Klassiksammlung wurde verschenkt. Hochfrequente Lichtmusik fand nun neben Aurasprays und Engelstinkturen ein würdiges Plätzchen. Als flankierende Maßnahmen dienten, über die gesamte Wohnung verteilt, allerhand Räucherstäbchen und Glöckchen.

„Auraspray Engel Sonael“ –

„Ich bin vor äußeren Einflüssen geschützt.“

Unbedarfte Besucher waren oft überrascht, warum denn nun das eigene Foto inmitten von Chamuel, Michael und Uriel, ihres Zeichens Erzengel, herauslachte. „Das ist dein Schutzkreis, den haben wir für dich gelegt“, bedeutete Manuela mit einem wohlmeinenden Lächeln. Das bunte Kartenset bestätigte den begründeten Verdacht: Die beiden sahen sich nun als spirituelle Leuchttürme, Berufene in einer heiligen Mission.

Und so war es ein Ding der Unmöglichkeit, ihre Wohnung ohne den feinstofflichen Segen Marke Raphael zu verlassen. Ob man nun wollte oder nicht, das Pumpfläschchen mit dem vieldeutigen Symbol stand stets bereit. Jeder Gast sollte diese „Energien der neuen Zeit“ in die Welt hinaustragen. Besonders gute Freunde kamen in den Genuss exquisiter Gastgeschenke: Meister-Elixiere, Engelstropfen und Transformations-Öle, Manuel verschenkte das „Neue Zeitalter“ literweise. Denn „es kommt alles zurück“, wähnte er sich zuversichtlich. Dass es im Universum gerecht zugeht, wussten sie ja schon lange vor der Lektüre von Kryon und Konsorten.

Esoterisches „Who is Who“: Kryon vom magnetischen Dienst

Wer ist Kryon? „Kryon ist ein Nuni, ein magnetisches Licht, aus dem Universum Quadril 5. Er wurde von Adamis und Adamea erschaffen. Um in unserem Universum wirken zu können, musste Kryon zunächst mit einer Engelgruppe verschmelzen (Kryon und das Gefolge). Die Aufgabe von Kryon ist die Ausrichtung des Magnetgitternetzes der Erde.“ (Quelle: www.kryonschule.de)

Aus Sicht der Alltagsrealität ist „Kryon“ ein vom amerikanischen Esoterikautor Lee Carroll erfundenes Lichtwesen. Dieses soll in der Lage sein, zu ausgewählten Personen Kontakt aufzunehmen. Die als „Channeling“ bezeichneten Durchsagen gelten in esoterischen Kreisen als Mitteilungen aus einer höheren Dimension und helfen der Menschheit beim Übergang in die sogenannte „Neue Zeit“.

Kryon, dessen Name nicht nur an die aus Gletschern austretenden Fließgewässer (Kryale) erinnert, sondern ebenso sehr als eine Anlehnung an das Christliche „Kýrie eléison“ (griechisch „Herr, erbarme Dich“) interpretiert werden kann, wird von verschiedensten Medien empfangen.

Bekannte „Kryon-Kanäle“ im deutschsprachigen Raum:

 Lee Carroll selbst

 die esoterische Buchautorin und Kongressveranstalterin Barbara Bessen

 die „Lichtarbeiterin“ und Begründerin der Kryonschule Sabine „Sangitar“ Wenig.

In seinen Durchsagen gibt sich Kryon durchaus kryptisch – ein Stilmittel, das so ziemlich alle höheren Wesenheiten einsetzen. Umso deutlicher jedoch die gechannelten Stellungnahmen zu Umweltkatastrophen und menschlichen Tragödien. Als Beispiel hier die Channeling-Botschaft zu Erdbeben, Tsunami und Super-GAU in Japan, März 2011: „Diejenigen in diesem sanften Land [Japan], die diese Katastrophe abbekamen, sind keine Zielscheibe Gottes. (…) Ebenso wie bei ihren Gegenstücken in Südamerika haben sie sich diesen Ort zum Leben ausgesucht.“

Hier schlagen Kryon und diverse andere aufgestiegene Meister stets in dieselbe Kerbe: Jeder bekommt genau das, was für ihn bestimmt ist. Jede Erfahrung hat Sinn. Der Mensch erschafft seine Realität selbst. Ob arm, reich oder im Elend: Jeder hat sich seine Lebensumstände selbst ausgesucht. Mitleid wird somit überflüssig.

Quellen: [49] [50]

Seit Manuels intensivem Studium wegweisender Lichtarbeiter-Literatur reifte in ihm die stille Gewissheit: „Ich stehe unter besonderem Schutz.“ Damit meinte er eine eigens für ihn reservierte Form von Obhut aus der Welt jenseits des Schleiers. „Engel in meinem Haar“4 – gleichlautend dem Buchtitel des Bestsellers [51] kommunizierte Manuel fortan mit allerlei Himmelsboten. Jeder Windhauch, jedes Kribbeln am Scheitelchakra gereichte zum Zeichen ihrer Fürsorge. Ja sogar die allwinterlich wiederkehrende Sinusitis verwandelte sich von einer bloßen Nasennebenhöhlenentzündung zu einem Symptom spiritueller Transformation. Eines wurde ab diesem Punkt klar: Manuel war nun ein Werkzeug von denen da oben.

Die Engel hatten die Regie übernommen.

„Auraspray Schutzengel“ –

„Ich vertraue mich bedingungslos der Führung

meiner Schutzengel an.“

Vertrauen und Selbsthingabe prägten das neue Ideal, bedingungslose Liebe war das alles durchdringende Grundgefühl. Aber trotz aller Reife, Manuel zweifelte immer wieder. Doch das war stets nur der Verstand, der da nicht mitwollte. „Die geistige Ebene prüft mich“ oder „Ich stehe kurz vor meiner Meisterschaft“, bekamen Interessierte zu hören. Argwohn hin oder her – das Denken konnte Manuel nicht mehr gefährlich werden. Das listige Ego hatte er längst schon durchschaut.

„Erzengel Metatron“ –

„Mit deiner Hilfe erfülle ich meinen Lebensplan.“

So tat Manuel alles, um seiner neuen Rolle als Lichtbotschafter auf Erden gerecht zu werden. Engelsseminare, Heilsingen-Wochenenden, Channeling-Kurse: Kein Weg war ihm zu weit, um seine Tuchfühlung ins Feinstoffliche beständig neu aufzufrischen. Finanzielles spielte in der Welt des Transzendenten keine Rolle, denn nun war alles Energie. Der Arztkoffer mit Lichtessenzen durfte dabei niemals fehlen. Es wurde gereinigt, entstört und energetisch versiegelt, was das Zeug hält. Für Manuel war jede Begegnung von Bedeutung, jeder Mitmensch ein Auftrag. „Es kann doch kein Zufall sein, dass wir das notwendige Geld dafür schon am Sparbuch haben“, beteuerte er dabei immer wieder. Der spirituelle Webshop5 erschien plötzlich als Startseite. Seinen Job hatte er längst an den Nagel gehängt, ein weiterer Beweis seiner Ergebenheit.

„Engel Hariel“ – „Ich vertraue mich dem Leben an.“

Manuela war nun für die finanzielle Grundversorgung zuständig. Zeitweise schwankte sie, doch die zahllosen Workshops halfen auch ihr, dieses wichtige Urvertrauen wieder zu erlangen. Und wenn die Sorgen ihr wieder einmal eine schlaflose Nacht bescherten, dann, ja dann wachte Erzengel Essenz „Jophiel“ verlässlich am Nachttisch. „Lebensfreude – Leichtigkeit – Intuition statt Verstand“: Der Anbieter versprach kaum zu viel. Schließlich wollte auch Manuela ihren Lebensplan in die Tat umsetzen.

„Engelsessenz No. 35“ – „Engel für Tatkraft und Erfolg“ [52]

Und so fanden Licht und Karmaerlösung ihren Weg bis in die Lüftungsanlage des örtlichen Krankenhauses. Per Pumpzerstäuber forcierte Manuela das globale Erwachen. Manuel und Manuela betrachteten sich nämlich als spirituelle Transformatoren. Je mehr Weltliches sie investierten, desto eher konnte das Neue Zeitalter Wirklichkeit werden. Dargebrachtes Geld und, nicht zu vergessen, der geopferte Verstand fungierten als Brennstoff und Beschleuniger in diesem Geschäft. Ballons, aufgebläht mit heißer Luft – je dünner die Atmosphäre, desto heiterer die Stimmung. Und die Engel? Die applaudierten, ja sie feuerten geradezu an. So wurde der globale Aufstieg derweil von den zwei Auserwählten zwischenfinanziert, immerzu aus eigenen Mitteln, dem Kapital für den Hausbau.

„Engelsessenz No. 17“ – „Engel für Wohlstand und Fülle“

Dieser würde sich lediglich ein wenig nach hinten verschieben. Immerhin hätten die „Angies“, wie Manuela sie liebevoll nannte, als Belohnung einen Lottogewinn prophezeit und Manuel würde bald als „Energethiker“ seine Brötchen verdienen. Und übrigens, wer Geldsorgen hat, der braucht nur die „Grüne Tara“ anzurufen. Die lässt keinen Liebesdelegierten im Stich. Mit der Affirmation „Om tara tuttare ture soha … kommt Geld in dein Leben“6. Der Rest erfordert wohl kein Übermaß an Phantasie.

Manuel und Manuela lebten ihr spirituelles Erwachen mit aller Konsequenz. Zeitweise konnten sie sogar Mitstreiter für diese höhere Sache gewinnen, doch gegen die zunehmende Kritik aus dem Umfeld half dennoch kein Mittelchen. Man beschloss abermals, seiner Intuition Folge zu leisten und übersiedelte ins schöne Kärnten. Schließlich ist der Prophet im eigenen Land nichts wert, das weiß doch jeder. Und als ob es die überirdischen Instanzen so gewollt hätten – die neue „Familie“ erwartete die beiden schon mit offenen Armen. Aber der Geldsegen stellte sich nicht ein. Ganz im Gegenteil: Auf ihrem Werbefeldzug für die Engelswelt transformierte sich das Angesparte in reine Energie. Ob das Universum gerecht ist, bleibt hier unbeantwortet. Ein Haus haben die beiden noch keines gebaut, jedenfalls nicht in dieser Dimension. Übrigens: „Esoteriker“ waren Manuel und Manuela nie. Damit hatte man freilich nichts am Hut. Und Sekten? „Das sind sowieso nur allesamt Spinner!“

Ein kurzes Resümee: All ihr Geld wechselten Manuel und Manuela gegen das buchstäbliche Gar Nichts. Andere wiederum verstehen es sehr gut, dieses Nichts äußerst gewinnbringend an ein immer breiter werdendes Publikum zu verkaufen. An welche großflächigen Trends esoterische Unternehmer dabei andocken, beleuchten wir auf den nun folgenden Seiten.

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