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A. DAS PROBLEM DES ANFANGS
Оглавление1. Allgemeine Hinweise
Neue Einsichten, vor allem neue Erfahrungen, bahnen sich nur schwer einen Weg, besonders dann, wenn sich, wie im Falle Rudolf Steiners, mit dem Namen des Autors die gängige, aber unbrauchbare Vorstellung von einer «mystischen» Esoterik verbindet, die sich ohnehin, wie man meint, der intersubjektiven, also wissenschaftlichen Nachprüfung entzieht. Obwohl dies keinesfalls zutrifft, braucht uns diese Auffassung nicht zu beschäftigen, da die Philosophie Rudolf Steiners reine Philosophie ist - und nichts darüber hinaus. Sie steht im Zeichen eines geläuterten und antimetaphysischen Empirismus. Schon die natur- und ingenieurwissenschaftliche Ausbildung des Autors und seine professionelle Kenntnis der Philosophie und ihrer Geschichte legen die Vermutung nahe, dass es ihm um greifbare, wenn auch subtile Erfahrungen und nicht um abstrakte Prinzipien geht. Seine philosophischen Schriften (und seine Vorträge) beruhen auf intimen Erlebnissen des Denkens, die mit gebotener Sorgfalt untersucht, miteinander verbunden und interpretiert werden. Hier gerät mancher moderne Leser in Schwierigkeiten, wenn er gewohnt ist, rein logische Konstruktionen als die ultima ratio aller Philosophie zu betrachten. Erlauben Sie mir, einige zeitgenössische Tendenzen der Philosophie mit einem orientalischen Basar zu vergleichen, der sich dadurch auszeichnet, dass Käufer und Verkäufer scheinbar endlos um den Preis einer Ware feilschen - mit Argumenten, die Wesen und Funktion des Kaufobjekts gar nicht oder nur am Rande berühren. Ein zuweilen vergleichbares Bild bieten so manche zeitgenössische Schriften, wenn sie das logische Pro und Contra zu irgendeiner Sache zu entscheiden versuchen: sie entfalten eine geistreiche Begriffsdialektik, die oft bewundernswert ist, aber sobald sie ihr „Urteil“ gefällt haben, kümmert sie das Phänomen selbst so gut wie nicht mehr. Eins der vielen Musterbeispiele ist das umstrittene Phänomen der sog. „Evidenz“. Hat man einmal festgestellt oder glaubt man „bewiesen“ zu haben, dass es so etwas wie Evidenz gibt, dann belässt man es bei diesem Ergebnis, ohne sich viel darum zu kümmern, welche innere Struktur dieses Phänomen besitzt, welche Rolle es im Denken des Menschen, in Evolution und Geschichte spielt - und wie es gehandhabt werden kann. Man hat etwas entdeckt, aber man will es nicht anwenden. Unversehens und mit leichter Hand werden viele solcher Erkenntnisse in die sog. „Realwissenschaften“ abgeschoben, weil sie, wie man glaubt, nicht in die Philosophie gehören.
Wir möchten einen sachgemäßeren Weg beschreiten, wie er dem Zeitalter der Naturwissenschaft angemessen ist, und wollen Rudolf Steiners Motto zu seiner „Philosophie der Freiheit“ im Auge behalten, das da lautet: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“. Dabei werden wir die Kluft zwischen Logik und Psychologie vorsichtig zu überbrücken versuchen, ohne in den überholten „Psychologismus“ zurückzufallen, aber auch ohne in die Nähe einer puristischen „Wissenschaftslogik“ zu geraten. Wir wenden uns gegen jede künstliche Verabsolutierung beider Bereiche, die sowohl der Realität wie einer wohlverstandenen Philosophie widerspricht.
Und noch etwas sei gleich miterwähnt. Wir bauen, wie gesagt, auf Erfahrungen auf, müssen aber zunächst feststellen, dass sie im Alltag des Lebens nur selten erfahren werden, weil sie zumeist im tiefen Unbewussten verlaufen. Ich werde sie in dieser Schrift langsam aufzudecken versuchen. Das geht aber nur, wenn Sie bereit sind, innere Aktivität aufzubringen, um solche Erfahrungen auch machen zu können. Es liegt deshalb ganz in Ihrer Freiheit, wie lange Sie mitgehen wollen. Sie werden durch keinen Zwang, auch nicht durch den Zwang einer sog. „stringenten“ Logik, wie man heute gerne sagt, zu unfreiwilligen Entscheidungen gedrängt. Die Zeit der philosophischen Systeme ist endgültig vorüber. Ich erschließe Ihnen, so gut ich das kann, neue Wege in der Erfahrung des Denkens, die Rudolf Steiner als erster gegangen ist. Er selber äußert sich zu diesen Fragen einmal folgendermaßen:
„Keiner von uns möchte einer wissenschaftlichen Schrift einen Titel geben, wie einst Fichte: «Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen.» Heute soll niemand zum Verstehen gezwungen werden. Wen nicht ein besonderes, individuelles Bedürfnis zu einer Anschauung treibt, von dem fordern wir keine Anerkennung, noch Zustimmung.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 268)
Er kennzeichnet dann noch einmal seine „Philosophie der Freiheit“ mit den Worten:
„Sie soll nicht «den einzig möglichen» Weg zur Wahrheit führen, aber sie soll von demjenigen erzählen, den einer eingeschlagen hat, dem es um die Wahrheit zu tun ist!“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 269)
Hiermit rühren wir bereits an einen Grundnerv seines Denkens und Schaffens, der existentielle und philosophische Bedeutung hat, und ich möchte schon hier einen weiterführenden Kernsatz seines Weltbildes zitieren, weil wir ihn immer wieder, zum Teil auf sehr verschlungenen Pfaden, werden heranziehen müssen:
„Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 271)
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass dieser Satz mehr denn je unsere Zeit beleuchtet, in der sich die Fanatismen in erschreckender Weise ausgebreitet haben und weiter auszubreiten werden.
Und noch eins: erwarten Sie keinen Aufschluss über die sog. „letzten Dinge“. Niemand kann Ihnen die Welt „erklären“. Wir werden genug getan haben, wenn wir unsere nachfolgenden Erklärungen erklären können.
2. Das Ende vom „Anfang“
Eine über zweitausendjährige Geschichte dessen, was man mit dem unklaren Ausdruck „Philosophie“ bezeichnet, liegt hinter uns, eine Zeit der Mühe und Arbeit, der großen Gedankensysteme, an denen die europäische Menschheit herangereift ist, erst in Griechenland, dann im übrigen Europa. Eine stolze Reihe hervorragender Intelligenzen hat leidenschaftlich um Wahrheit gerungen - und nicht selten mit dem Einsatz des Lebens. Aber seltsamer Weise haben wir bei aller Ergriffenheit das Gefühl, als seien sie einem Trugbild nachgelaufen. Diese Vergangenheit ist uns merkwürdig fremd geworden. Und es fehlt nicht an klugen Zeitgenossen, die bereits ihren Spott über die gesamte philosophische Entwicklung des Abendlandes ausgießen und von „Illusionen“, von „magischem Denken“ und sogar von „Aberglauben“ sprechen, oder bestenfalls von Kindheitsstufen des menschlichen Denkens, denen wir entwachsen sind.
Was geschieht hier? War eine über zweitausendjährige Denkarbeit tatsächlich ein Irrweg, eine Unmündigkeitserklärung oder eine Herrschaftsideologie - also die Unwahrheit? Es wäre töricht, dieses weltweite Phänomen schlichtweg negativ zu beurteilen, ohnmächtig dem Vergangenen nachzutrauern und über verlorene „Werte“ zu klagen. Soviel steht fest: es muss etwas zerbrochen sein, was einmal gültig gewesen war und letzte Sicherheit gegeben hatte, aus welchen Ursachen auch immer. Vielleicht ist die gesamte psychische und intellektuelle Konfiguration vor allem der europäischen und angelsächsischen Menschheit in einem bisher noch ungeklärten Wandel begriffen, den unsere Ideologien nur kaschieren. Wir sollten tiefer hinterfragen, als wir bisher getan haben, auch etwas gründlicher nachdenken und die Formen des historischen Bewusstseinswandels zu Rate ziehen. Vielleicht ist es wahr, was manche glauben, dass es sich um einen Jahrtausendwandel handelt, der selbst die sog. „neuen“ Philosophien und jungen Wissenschaften wie die „analytische Sprachphilosophie“ und die „Logik“ zu bloßen Rückzugs- und Nachhutgefechten der traditionellen Philosophie stempelt. Auch diese modernsten Untersuchungen, so berechtigt sie sind, haben sich bereits in philosophische Sackgassen verlaufen. Oder erleben wir lediglich den Übergang der mythischen Epoche in das Zeitalter der exakten Wissenschaft? Wir wollen hier noch keine endgültige Entscheidung treffen, aber einige Ursachen bloßlegen, deren Bedeutung vielleicht noch nicht genügend erkannt wird.
Alle Attacken gegen die traditionelle Philosophie richten sich in erster Linie gegen die Setzung eines absoluten „Anfangs“, gegen evidente „Urprinzipien“, die als Letztbegründungen sich selbst und die Welt erklären sollen. Jede Philosophie braucht nun einmal einen Ausgangspunkt, einen Anfang, der sicher ist, einen Grundstein, dessen Tragfähigkeit über allen Zweifel erhaben bleibt. Diese letzte Urwahrheit, oder was man dafür hielt, war einmal so etwas wir der mythische „Goldgrund“ in logischer Form, ein ursprünglich göttliches Prinzip, das sich mit der Zeit in das Gewand logischer Begriffe zu kleiden versuchte. Diese Entwicklung wurde keineswegs als störend empfunden. In irgendeiner Weise hingen die Götter- und Engelantlitze, die in diesem vergeistigten „Goldgrund“ sichtbar wurden, mit dem Erlebnis der Vernünftigkeit zusammen, wahrscheinlich schon deshalb, weil wir die Vernunft nur im Vorstellungsbereich des menschlichen Antlitzes sozusagen „sichtbar“ erfahren. Es gibt kein anderes Naturobjekt, das dafür zu gebrauchen wäre. Dieser ganz natürliche Zusammenhang war die geistige Urheimat aller Metaphysik zu allen Zeiten, ohne dass man ihn jemals problematisiert hätte. Das lässt sich sehr schön im Denken des Thales demonstrieren, dem es selbstverständlich war, an seine Götter zu glauben, der eben nur wissen wollte, mit welchen Mitteln und Methoden eben diese vernünftigen Götter die sichtbare Welt erschufen. Als Bürger von Milet, wo große Handelsniederlassungen, ein liberales Denken und hochentwickelte Schiffswerften technologische Interessen inspirieren mussten, überlegte er sich wohl die entscheidende Frage: „Die Götter haben die Welt zwar erschaffen - aber wie sind sie dabei vorgegangen? Welches Material haben sie angewendet?“ Das WER? stand außer Zweifel, aber die Frage nach dem WIE? drängte sich unabweisbar dem menschlichen Bewusstsein auf. Daraus entstand, um es vereinfacht zu sagen, die abendländische Wissenschaft und in ihrem Gefolge die Philosophie. Aus einer Summe von Weltantlitzen entstand die menschliche Weltvernunft, vielleicht mit der uneingestandenen Hoffnung, die angestrebte Imitatio deorum in ein „Eritis sicut Deus“ zu verwandeln, also ein gottähnliches Wesen zu werden. Jedenfalls klammerte er sich an seine „Vernunftwahrheiten“, um die eigene Person zu erhöhen. Und trotz aller späteren Wege in die Abstraktion bleibt der personalistische Ursprung erhalten. In zahlreichen Variationen, vom „Unbewegten Beweger“ über das „lumen gloriae“ und die „causa sui“, vom „Weltgeist“ Hegels bis zum etwas modifizierten „transzendentalen Ego“ eines Husserl - überall wird die Person in einer schwer durchschaubaren Weise als Wahrheitselement begriffen und philosophisch verarbeitet. Es sind, wie man sagt, mythische Begriffe, prinzipiell unvorstellbar, sog. „Anthropomorphismen“ im Sinne Feuerbachs, Projektionen des menschlichen Geistes in ein konstruiertes Jenseits. Gott als „Nus“, als „Wahrheit“ und „Substanz“, das sind heute Verdinglichungen des Wahrheitsbegriffs, die wir nicht mehr akzeptieren können. „Wahrheit“ ist uns heute ein logisch-erkenntnistheoretisches Problem, eine begriffliche Relation, eine geistige (intellektuelle) Beziehung zwischen den Dingen, aber selbst kein Ding, auch nicht in Gestalt einer Person. Sie mögen sich, wenn Sie religiöse Interessen haben, noch soviel Mühe geben, Person und Wahrheit als dasselbe zu identifizieren, Sie werden logischen Schiffbruch erleiden, weil Sie in unserer heutigen Bewusstseinsform so gänzlich verschiedene Dinge nicht sachgemäß miteinander verbinden können. Hier sind viele Täuschungen möglich. Selbst der streng postulierte rationalistische Weg entwickelt Grundbegriffe, sog. „Kategorien“, „Evidenzen“, „Axiome“ oder „ewige Wahrheiten“, die noch entfernt an gewisse personalistisch-autonome Strukturen der alten Götter erinnern. Aber was dann, wenn diese „Ideen“, diese Waisenkinder Gottes, keiner logischen Prüfung standhalten? Und es stellt sich immer mehr heraus, dass wir tatsächlich umdenken müssen: unsere ratio gleicht keiner Bank, auf der wir ein unauflösbares Dauerkonto besitzen, von dem wir zehren können, ohne Verluste hinnehmen zu müssen. Wir werden einzahlen müssen, wenn wir Zinsen haben wollen. Oder wir schaffen die Bank als überflüssig und schädlich ab. Sie wird den philosophischen Bildersturm, der im Gange ist, ohnehin kaum überleben können. Die metaphysischen Privilegien der Metaphysik sind bereits annulliert, viele Begriffe verloren ihr Adelsprädikat, eine Demokratisierung der Ideenwelt hat stattgefunden, und selbst der Begriff der „Wahrheit“ geht einer positivistischen Vulgarisierung entgegen und läuft Gefahr, sich vollständig aufzulösen. Carnaps „Scheinprobleme“ sind Mode geworden. Mit einem Wort: wir können das mit soviel Ehrfurcht gesuchte „Absolutum“ nirgends finden. Wo wir es auch greifen wollen, es erweist es sich als unselbstständig und problematisierbar. Ein solider philosophischer Zeitgenosse, ein Mathematiker und Logiker, hat nachzuweisen versucht, dass es keine absolute Wahrheit und Sicherheit mehr geben kann, auch nicht in der Mathematik, die doch einmal das Musterbeispiel für absolute Sicherheit gewesen war. Sie können gedruckt nachlesen, schwarz auf weiß, dass wir deshalb nicht gerade „Selbstmord“ begehen müssen, sondern immer noch hoffen dürfen, in der Erkenntnis auf rein menschliche Weise weiterzukommen. Dieser Autor fordert einen beruhigenden „methodischen Zweifel“ und hält trotz aller prinzipiellen Skepsis ein gewisses weiteres Vertrauen auf unser menschliches Denken für gerechtfertigt. Das Wie? und Warum? bleibt sein Geheimnis. Aber er hat den Mut, den wenige haben, die existentielle Frage aufzuwerfen, ob der Mensch überhaupt in der Lage ist, ohne Absolutum leben zu können. (Anm. des Hrsg.: Johannes Schell bezieht sich hier auf das Werk des Mathematikers und Logikers Alexander Wittenberg: Vom Denken in Begriffen. Zürich 1957)
Diese unabweisbare Fragestellung wird heute mit einem unglaublich naiven philosophischen Optimismus umgangen, den man nicht ohne tiefste Betroffenheit zur Kenntnis nehmen kann. Man tut so, als könne man denken, was man wolle, gerade so, als sei unser eigenes Denken ein neutrales Etwas, das uns nichts angeht - ein geistreiches Hobby, mit dem wir spielen können, weil unser Leben davon kaum berührt wird.
Aber nicht nur die „ewigen Urprinzipien“ lösen sich langsam auf. Auch der feste Grund, auf dem wir so sicher zu stehen glauben, gerät ins Wanken. Die Naturwissenschaft ist dabei, den Substanzbegriff aufzuheben, das Phänomen dessen, was wir frommgläubig „Materie“ genannt haben, in anderer Weise zu betrachten und in mathematische Formeln aufzulösen. Also auch hier kein Absolutum mehr. Und selbst diese Formeln und Naturgesetze haben nichts an sich, was sie als zeitlose Strukturen ausweisen könnte. Sie können je nach den Randbedingungen zufällig und vorübergehend sein. Gegen diese Überlegungen gibt es keinen stichhaltigen Einwand.
Und nun zuletzt unser allgeliebtes „Ich“, mit dessen Hilfe wir unsere Gedanken hervorzubringen scheinen: auch von ihm wissen wir nichts Genaues; es könnte das Produkt einer Selbsttäuschung sein, ein trostloser Sammelbegriff für sehr verschiedene psychische Strukturen, die wir handhaben können, und deshalb des Glaubens werden, dass wir ein konkretes Etwas, ein „Ding“, besitzen, das alle Zeiten überdauert. Dabei sind wir nur das Opfer einer sprachlichen Fiktion geworden. Es scheint uns also nichts anderes übrigzubleiben, als mit unserer problematischen Erkenntniskraft das Nichts und den Zufall zu verwalten.
3. Die philosophische Eliminierung des Menschen
Ich habe Ihnen ein tristes Bild des Zeitgeistes entwickelt, zwar nur im Abriss, aber trotzdem herausfordernd und, wie es scheint, unwiderlegbar pessimistisch - es sei denn, Sie ergeben sich dem religiösen Glauben, um eine absolute Wahrheit anzuerkennen. Dem steht nichts im Wege, aber das begründende Wissen haben Sie damit geopfert. Es gibt noch zwei andere Wege, die gangbar sind, auch wenn Sie das Verlorene nicht wieder einbringen: der absolute Erkenntnisverzicht, das „Aussteigen“, die freie lustbezogene Setzung von Wunschbildern oder gar das biologistisch begründete „Sich Ausleben“ der Naturtriebe; und zweitens die wissenschaftliche Selbstbescheidung, die den Ballast unlösbarer Scheinprobleme abschüttelt und sich utilitaristisch, wenn Sie so wollen, den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten widmet, ohne die „Wahrheit“ entdecken zu wollen. Welchen Weg wir auch gehen, wir werden das Denken auch weiterhin brauchen, aber wir wissen, dass es keinen Standpunkt außerhalb des Denkens gibt. Und sollten wir dennoch in Versuchung geraten, das Denken mit Hilfe des Denkens erklären zu wollen, dann verbietet uns schon die bekannte „Zirkularität“ dieses Vorgangs sofort, über reine erkenntniskritische Bemerkungen hinauszugehen. Dabei beugen wir uns der Tatsache, dass wir auf keinem Wege aus dem Denken herauskommen können: wie wir uns auch verhalten, wir verhalten uns denkend: wir besitzen je nach unserer philosophischen Einstellung immer so etwas wie ein praktisches „Apriori“, durch Erziehung erworben oder strukturell vorgegeben, das bereits mit so bekannten Begriffen wie „Vorinterpretation“, „Seinsvorverständnis“ oder „background knowledge“ bezeichnet wird und klarmachen will, dass wir uns immer in Gedanken- und Problemzusammenhängen bewegen, auch dann, wenn wir glauben, die physische Natur nur physisch wahrzunehmen. Nur die orthodoxen Positivisten leugnen das noch auf verschiedene, aber wenig überzeugende Weise. Selbst Popper, der bedeutende Erkenntnislogiker, der gewiss außer Verdacht steht, Hegel zu folgen, erkennt die Unausweichlichkeit des Denkens an, allerdings ohne weiterführende Konsequenzen daraus ziehen zu wollen. Und die Neudialektiker linker Provenienz (Anm. des Hrsg.: Anspielung auf Horkheimer, Adorno und Habermas) bewegen sich sogar genüsslich in reinen Denkvermittlungen, als seien es tibetanische Gebetsmühlen, und ziehen die letztmögliche Konsequenz, dass auch der Begriff der „Vermittlung“ nicht verabsolutiert werden darf. Ein Bleibendes scheint es nirgends zu geben, wenn man sich die Mühe macht, philosophisch zu denken. Und dennoch muss die Frage aufgeworfen werden, ob das Denken etwas offenbart, was mit dem Absolutum der Wahrheit zu tun hat, und zwar ohne jede Bezugnahme auf „Urprinzipien“ oder logisch-axiomatische „Setzungen“, aber auch ohne Heranziehung der bekannten widersprüchlichen Auffassungen, die darauf hinauslaufen, unser Denken in subjektive Vexierbilder zu verwandeln oder zu evolutionistischen Kunstgriffen der Natur zu entwerten. Am besten, so darf man folgern, ist es, wenn man die innere Struktur des Denkens, d.h. die Vollzugsformen der „Logik“ untersucht und damit im eigenen Hause Ordnung schafft, bevor man an außerbegriffliche „Realien“ herantritt. So kam es, dass immer mehr die reine „Logik“ in den Mittelpunkt der Forschung geriet und den Ausschließlichkeitsanspruch erhob, die einzig mögliche Philosophie zu sein. Und ein Zweites war gewonnen: die kunstvollen mathematischen Formalisierungen logischer Probleme hatten nachweisbar wissenschaftlichen Charakter, waren ernst zu nehmende „Philosophie“, konnten nicht mehr wie das traditionelle Philosophieren von der Naturwissenschaft belächelt werden und gaben endlich den „Philosophen“ dieser neuen Richtung das wissenschaftliche Selbstvertrauen zurück. Das verworrene Jagen auf „freier Wildbahn“ war der exakten Forschung gewichen. Und kein Geringerer als Karl Popper hat diese Richtung im Rahmen seiner Wissenschaftslogik unter dem Stichwort „Ausschaltung des Psychologismus“ deutlich gemacht. Er schreibt:
„Wir haben die Tätigkeit des wissenschaftlichen Forschers eingangs dahin charakterisiert, dass er Theorien aufstellt und überprüft. - Die erste Hälfte dieser Tätigkeit, das Aufstellen der Theorien, scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: An der Frage, wie es vor sich geht, dass jemandem etwas Neues einfällt - sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Konflikt oder eine wissenschaftliche Theorie -, hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik. Diese interessiert sich nicht für Tatsachenfragen (Kant: „quid facti“), sondern nur für Geltungsfragen („quid juris“) - das heißt für Fragen von der Art: ob und wie ein Satz begründet werden kann; ob er nachprüfbar ist; ob er von gewissen anderen Sätzen logisch abhängt oder mit ihnen in Widerspruch steht usw. Damit aber ein Satz in diesem Sinn erkenntnislogisch untersucht werden kann, muss er bereits vorliegen; jemand muss ihn formuliert, der logischen Diskussion unterbreitet haben.“ (Karl Popper: Logik der Forschung. Tübingen 1976, S. 6)
Hiermit wissen wir, woran wir sind. Die fein säuberliche Trennung von Logik und Psychologie schaltet in erkenntnistheoretischer Hinsicht den phänomenologischen Zwitter, der die bisherige Philosophie mit seinen Misswüchsen erheblich belastet hat, endgültig aus, d.h. die Analyse des menschlichen Geistes gehört in die empirische Psychologie, also in eine Realwissenschaft. Popper hat seine Methode glänzend durchgeführt und ihre partielle Berechtigung nachgewiesen. Es ist schwer, ihn auf dem Standpunkt seiner „Erkenntnislogik“ anzugreifen, aber naheliegend, ihm eine philosophisch unbrauchbare Einengung der Problemstellung, eine Art von „Epoché“ vorzuwerfen, die auseinanderreißt, was in der Realität zusammengehört. Poppers Methode ist nötig und anwendbar, aber nur als sog. „Erkenntnislogik“ und keineswegs als Philosophie. Der Grund ist einfach. Alle Philosophie verlöre ihren Sinn, wenn „Ideales“ und „Reales“, also „Geltungsfragen“ und „Tatsachenfragen“, künstlich und unvermittelt polarisiert würden, und das nur einer bequemen Methode zuliebe, deren Ziel lediglich die logische Korrektheit sein kann. Auch viele Sprachphilosophen gehen ähnliche und zuweilen sehr radikale Wege, die aber nicht weiterführen. Wir werden darüber zu sprechen haben. Soviel können wir vorwegnehmen: die Wahrheit ist , wie sich zeigen wird, weder ein erkenntnislogisches noch ein psychologisches und schon gar kein sprachphilosophisches Problem, so sehr diese Auffassung auch heute verketzert werden wird. Aber das ist nicht einmal das Wichtigste. Was Sie alle befremden, wenn nicht sogar schockieren dürfte, ist die kaum begreifbare Tatsache, dass man immer mehr gesonnen ist, den Menschen aus der Philosophie hinauszuwerfen und den „Realwissenschaften“ zu überantworten - ganz so, als ob diese äußerst problematischen Spezialdisziplinen ohne Erkenntnisgrundlage auskommen könnten. Diese Naivität dürfte schlimme gesellschaftliche Folgen haben.
Rudolf Steiner geht einen vernünftigeren und sachgemäßeren Weg. Er entwickelt eine „Philosophie des Denkens“, wie ich sie nenne, d.h. einen methodischen Weg, der sowohl den Bedürfnissen der Logik wie der Psychologie gerecht wird, sowohl trennend wie auch verbindend, ohne theoretische Gewalt anzuwenden oder mit methodologisch kaschierten Dogmen zu arbeiten. Es geht dabei, um es jetzt schon andeutungsweise zu sagen, um eine Art von Junktim, um ein erfahrbares autochthones Drittes zwischen den künstlich isolierten Polen der Logik und Psychologie, um ein beobachtbares Faktum, um eine vorfindbare Erfahrungsquelle, die wir anzapfen können, ohne in Spekulationen zu verfallen und ohne Metaphysik betreiben zu müssen. Vielleicht können wir wohlbegründete Aussagen und einige brauchbare Vorschläge machen, allerdings ohne alle damit verbundenen Probleme lösen zu wollen.
4. Ablehnung der Metaphysik und „Philosophie der Denkakte“.
Lassen wir zunächst, um Vorurteile zu beheben, einige gekürzte Stellungnahmen Rudolf Steiners zur Metaphysik folgen, die tief in seiner Philosophie des Denkens begründet sind. Was gewiss niemand erwartet, der sein Weltbild nur vom Hörensagen kennt, ist die Tatsache, dass dieser Mann keine einzige metaphysische Zeile geschrieben hat, obwohl gerade sein Name mit Mystik, Metaphysik und Offenbarungsglauben verbunden wird. Stellt man einmal kategorisch das Gegenteil fest, dann fühlen sich unsere Zeitgenossen verunsichert und verärgert, weil sie nicht wahrhaben wollen, wie sehr sie einer böswilligen Legende aufgesessen sind. Aber die Wahrheit wird sich durchsetzen.
Rudolf Steiner entwickelt eine empirisch begründete und methodologisch durchsichtige immanente Technik des menschlichen Geistes auf zahlreichen Gebieten. Hören wir ihm etwas zu, zunächst über Plato:
„Und man kann sagen, die Philosophie Platos ist eines der erhabensten Gedankengebäude, die je aus dem Geiste der Menschheit entsprungen sind. Platonismus ist die Überzeugung, dass das Ziel alles Erkenntnisstrebens die Aneignung der die Welt tragenden und deren Grund bildenden Ideen sein müsse. Wer diese Überzeugung in sich nicht erwecken kann, der versteht die platonische Weltanschauung nicht. - Insofern aber der Platonismus in die abendländische Gedankenentwicklung eingegriffen hat, zeigt er noch eine andere Seite. Plato ist nicht dabei stehen geblieben, die Erkenntnis zu betonen, dass im menschlichen Anschauen die Sinneswelt zu einem Schein wird, wenn das Licht der Ideenwelt nicht auf sie geworfen wird, sondern er hat durch seine Darstellung dieser Tatsache der Meinung Vorschub geleistet, als ob die Sinneswelt für sich, abgesehen von dem Menschen, eine Scheinwelt sei und nur in den Ideen wahre Wirklichkeit zu finden sei. Aus dieser Meinung heraus entsteht die Frage: Wie kommen Idee und Sinneswelt (Natur) außerhalb des Menschen zueinander? Wer außerhalb des Menschen keine ideenlose Sinneswelt anerkennen kann, für den ist die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Sinneswelt eine solche, die innerhalb der menschlichen Wesenheit gelöst werden muss.“ (Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung. Dornach 1963, S. 28f.)
Soweit zu Plato. Hier wird das einseitige hypostasierende essentialistische Prinzip dieses Denkers zurückgewiesen und das Erkenntnisproblem mit der menschlichen Organisation in Verbindung gebracht, allerdings ohne diese Organisation, wie wir sehen werden, zur absoluten Grundlage zu erheben. Hören wir eine andere Stelle:
„Jede Art des Seins, das außerhalb des Gebietes von Wahrnehmung und Begriff angenommen wird, ist in die Sphäre der unberechtigten Hypothesen zu verweisen. In diese Kategorie gehört auch das «Ding an sich». Es ist nur ganz natürlich, dass der dualistische Denker den Zusammenhang des hypothetisch angenommenen Weltprinzips und des erfahrungsmäßig Gegebenen nicht finden kann. Für das hypothetische Weltprinzip lässt sich nur ein Inhalt gewinnen, wenn man ihn aus der Erfahrungswelt entlehnt und sich über diese Tatsache hinwegtäuscht. Sonst bleibt es ein inhaltloser Begriff, ein Unbegriff, der nur die Form des Begriffes hat“. (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 113)
Auch die folgenden Sätze weisen auf dasselbe Problem:
„Es gab eine Zeit, in der man aus Begriffen glaubte etwas herauswickeln zu können, was nicht mehr Begriff ist. Man glaubte aus den Begriffen die metaphysischen Realwesen, deren der metaphysische Realismus einmal bedarf, erkennen zu können. Diese Art des Philosophierens gehört heute zu den überwundenen Dingen.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 127f.)
Solche Hinweise, die beliebig vermehrt werden könnten, sind natürlich universell gemeint, betreffen also auch jene materiologischen Lehren, die von der „Materie“, von „Substanz“ und „Kraft“ als von realen wahrnehmbaren Dingen reden. Es gibt auch eine szientifische Metaphysik, die noch keinesfalls überwunden ist. -
Um Ihnen vorerst eine schwache Ahnung von dem genannten „Junktim“ und dem entwicklungsgeschichtlichen Denken Rudolf Steiners zu geben, lassen Sie mich eine leicht missverständliche Stelle zitieren, die ich für eine große Formulierung halte, weil sie die Wahrheit als immanenten Stufengang des menschlichen Bewusstseins begreift, ohne sie relativieren zu wollen, wie wir später im Einzelnen nachweisen werden:
„Mit Fichte ist eine Weltanschauung heraufgezogen, die ganz darin aufgeht, ein inneres Seelenleben zu finden, das sich zum Gedankenleben der Griechen verhält wie dieses Gedankenleben zum Bildervorstellen der Vorzeit. In Fichtes Weltanschauung wird der Gedanke zum Ich-Erlebnis, wie in den griechischen Denkern das Bild zum Gedanken wurde. Mit Fichte will die Weltanschauung das Selbstbewusstsein erleben; mit Plato und Aristoteles wollte sie das Seelenbewusstsein denken.“ (Rudolf Steiner: Rätsel der Philosophie. Dornach 8. Aufl. 1968, S. 188)
In diesen scheinbar nur entwicklungspsychologischen Sätzen steckt mehr, als sie vorerst verraten können. Sie involvieren die im Wachsen begriffene Selbsttätigkeit des menschlichen Geistes in durchschaubaren Stufen, die eine immanente Wahrheitsstruktur besitzen, die wir uns nach und nach bewusst machen wollen. Vernunft und Seele scheinen aus- und miteinander zu wirken. So allein ist auch der folgende Satz gemeint, der nicht nur empirisch-psychologisch verstanden werden darf, sondern ebenso erkenntnistheoretisch, auch wenn das noch so schwer fällt:
„Denn wesentlicher als die philosophischen Ergebnisse selbst sind die Kräfte der Seele, welche sich in der philosophischen Arbeit erringen lassen“. (Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie. Dornach 1968, S. 625f.)
Damit sind aber nicht etwa nur irgendwelche moralische Tugenden gemeint, wie Fleiß, Ausdauer, Erziehung zum klaren Denken und ähnliches, sondern sich als Wahrheit entfaltende Bewusstseinsprozesse, die stufenweise in die Lage kommen, immer weiterführende philosophische Probleme und Sachverhalte überhaupt erst zu entdecken, die früheren Bewusstseinsformen verschlossen bleiben mussten. Heute glaubt man - es ist ein reiner Glaube -, dass die „Logik“ zu allen Zeiten dieselben Probleme ausfindig macht, wenn sie nur will. Dieser rationalistische Irrtum ist leicht zu widerlegen: die Logik bestimmt überhaupt nichts, sie beschäftigt sich nur mit den Erfahrungen, die wir machen können, und diese Erfahrungen hängen vom Entwicklungsgrad des Menschen ab. Ein Ende der realen Möglichkeiten der Entfaltung des menschlichen Geistes, d.h. unserer gesamten Ich-Organisation, ist nicht vorherzubestimmen. Wir würden mehr als eine Absurdität begehen, wenn wir unsere derzeitige Bewusstseinsstruktur in die Vergangenheit oder in die Ferne der Zukunft projizieren wollten, wie es heute leider eine selbstverständliche Mode ist. Solche Praktiken widersprechen unmittelbar dem Zeitgeist, auf den man ja so schnell nichts kommen lässt. Aber gerade dieser vielberufene Zeitgeist ist es, der darauf angelegt ist, sich selbst in die Hand zu nehmen und seine Entwicklung mit bewusster Erkenntnis weiterzuführen. Die Zeiten des instinkthaften Werdens sind endgültig vorüber. Dafür haben Naturwissenschaft und Technologie gründlich gesorgt. Uns stellt sich die unabwendbare Aufgabe, die menschlichen und gesellschaftlichen Werdeprozesse konkret zu erfassen, mit klaren Begriffen zu durchdringen und praktisch handhaben zu lernen, m.a.W. wir müssen willens sein, neue mentale Techniken zu finden und anzuwenden, in denen die Wahrheitsstruktur des Menschen und der menschlichen Gesellschaft sichtbar wird. Es geht also nicht um irgendwelche brauchbare utilitaristische Pragmatik, sondern um Wahrheitspraxis, die in wissenschaftlich gesicherten geistigen Akten vollzugsfähig ist. Nun zeigt der Begriff des Aktes so viele philosophische Facetten, dass er nicht mehr viel hergibt. Ich kann Ihnen erst im Verlaufe weiterer ausführlicher Darlegungen klarmachen, wie wir ihn auffassen wollen. Der Grund liegt darin, dass sie erst vorgeführt werden müssen, bevor sie beschrieben werden können. Mit theoretischen Definitionen, die selten etwas taugen, wäre uns nicht geholfen. Lassen Sie mich dennoch eine, wenn auch sehr allgemeine Charakteristik angeben, die wenigstens in die Richtung weist, die wir einschlagen wollen - wobei ich damit rechne, dass Sie zunächst einmal befremdet reagieren dürften. Und doch ist dieses Unterfangen ganz natürlich. Was gewollt ist, lässt sich sehr einfach sagen und sollte jetzt schon ein gewisses Vorverständnis finden. Wir setzen an die Stelle einer rein interpretativen, sich in kontroversen abstraktiven Begriffen bewegenden und theoretisch alles und jedes logifizierenden Philosophie eine ergänzende Möglichkeit, die dazu angetan ist, die realen Impulse unseres Zeitalters in den Griff zu bekommen: nämlich ein philosophisch-psychologisches Experimentieren, dessen Exaktheit gewährleistet ist. Trotz der noch bestehenden Unklarheit des Aktbegriffes können wir diesen Weg die aktologische Methode nennen, oder kurz „Die Philosophie der Denkakte“. Damit ist natürlich nicht die sog. „praktische Philosophie“ gemeint, die von Moralpredigern verkündigt wird, sondern die Aufhellung erkenntnistheoretischer Zusammenhänge als handhabbare konkrete Prozesse des Denkens und Wollens, die sich aus sich selbst begründen und tragen. Eine neue „Aktivierung des Denkens“, von der Rudolf Steiner so häufig gesprochen hat, ist das Ziel. Seine Philosophie ist die erste, die diesen Weg mit Erfolg beschreitet - und ich muss sagen, dass ich persönlich ziemlich lange gebraucht habe, bis ich die Andersartigkeit dieses Denkens verstehen und die beiden gefährlichsten Klippen, die Szilla der Logifizierung und die Charybdis des willkürhaften Existentialismus, hinter mich bringen konnte.
Sprechen wir dasselbe noch einmal anders aus: wie sich die Naturwissenschaft mit logischer Konsequenz zur experimentellen Technologie fortentwickelt hat, so muss sich die heutige Philosophie zu einer experimentierenden „Philosophie der Denkakte“, zu einer geistigen Technik erweitern, parallel zur Naturwissenschaft, die aus ihrem theoretischen Stadium rein spekulativer Naturinterpretationen auch nur schwer herausgefunden hat und erst nach und nach zu sich selbst gekommen ist. Denselben Schritt muss heute die Philosophie nachvollziehen. Was die „Geisteswissenschaften“ bisher so steril erscheinen lässt, ist die simple, aber entscheidende Tatsache, dass sie im bloß argumentativen und logifizierenden Element der verbalistischen Interpretation ihrer Untersuchungsgegenstände hängengeblieben sind - mit gewissen Ausnahmen in der Psychologie - und einem modernisierten, aber dennoch scholastischen Aristotelismus huldigen, so sehr sie das auch bestreiten mögen. Um es knapp zu sagen: neben das naturwissenschaftliche Experiment muss nun endlich das notwendige Gegenstück treten, nämlich das geistige Experiment oder, wie wir es nennen wollen: der aktologische Versuch. Wir sollten uns klarmachen, dass die wachsende Feindschaft gegen die Technik nicht nur auf den Gefahren beruht, mit denen sie zweifellos verbunden ist, sondern zum weitaus größeren Teil auf dem Umstand, dass wir es versäumt haben, beizeiten ein reales geistiges Gegengewicht zu schaffen, das in der Lage gewesen wäre, in die konkrete Wirklichkeit einzugreifen und die Entwicklung zu korrigieren. Ich glaube nicht, dass uns logische Theoreme, bei aller Subtilität, weiterhelfen können. Die „Philosophie des Denkens“, die wir hier vorlegen wollen, soll ein bescheidener Versuch sein, diesen neuen Weg ausfindig zu machen, mehr nicht. Meine pauschalen Andeutungen werden sich hoffentlich mit Leben füllen.
Aber Missverständnisse dürften nicht ausbleiben. Es liegt auf der Hand, dass sog. „Selbsterfahrungen“ im Zentrum unseres Denkens stehen, und damit etwas heute schon vielerorts Verpöntes. Ich meine die häufig gelästerte „Introspektion“, die Innenbeobachtung, die egologische Nabelschau, also die psychologisch-philosophischen Versuche der sog. „Bewusstseinsphilosophie“ (Mach, Avenarius u. v. a.), die Schiffbruch erlitten hat, weil sie sich in den unterirdischen, nebelhaften Gängen der Subjektivität verlaufen hatte. Jedenfalls ist das einer der Gründe, warum sich Logiker und positivistische Sprachanalytiker von der „Introspektion“ abwenden und einigermaßen objektive Grundlagen suchen, auf denen sich, sogar mit mathematischer Hilfe, feste Bausteine einer neuen Philosophie herstellen lassen. Damit scheint die Gefahr des solipsistischen Sich-Verlaufens endgültig gebannt zu sein. Und doch ist das ein unverzeihlicher Irrtum. Die so feinsinnigen logischen, mathematischen und sprachanalytischen Untersuchungen sind eine nahezu vollkommene, wenn auch variierte Form der Introspektion - allerdings in unrechtmäßig verkürzter und kaschierter Weise, d.h. in ausschließlicher Anerkennung der Endresultate vorauslaufender psychischer Prozesse, also in der fragwürdigen Gestalt verabsolutierter Endergebnisse, die den Schein des Objektiven haben und so etwas wie ein Erstgeburtsrecht vortäuschen und als solide Basis einer neuen Philosophie gelten sollen - seien es nun Formeln, Figuren oder Sprachgebilde. Nach diesen dogmatisierten Prämissen gehört die Entstehung dieser objektiven Bausteine in die empirische Psychologie. Wir möchten uns aber nicht mit dieser Auffassung zufrieden geben. Es wird sich das Folgende herausstellen: es gibt keine Philosophie ohne methodische Introspektion, und keine Introspektion ohne epistemologische Strukturen. Mit diesem Hinweis wollen wir klarstellen, dass wir andere Wege als die überholte Bewusstseinsphilosophie der Jahrhundertwende gehen werden, obwohl Rudolf Steiner von „Seelischen Beobachtungsresultaten“ (Rudolf Steiner: Aus dem Untertitel zu seiner „Philosophie der Freiheit“: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“) und von der „Verständigung des Bewusstseins mit sich selbst“ (Rudolf Steiner: Mein Lebensgang. Dornach 1982, S. 153) spricht. Unsere psychologischen Erfahrungen werden sich als epistemologische Prozesse erweisen, die wir „aktologisch“ handhaben können. Vergessen Sie also die Tradition und die Vorurteile, die Ihnen nur im Wege stehen können.