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E. DAS PROBLEM DER WAHRHEIT

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14. Der unendliche Regress

Mit dem Begriff der Wahrheit verbinden wir gewöhnlich, wenn wir über den nötigen Lebensernst verfügen, sehr hohe Gefühle, wir spüren einen moralischen Impuls, einen Hauch von Ewigkeit und nicht selten die „Nähe Gottes“, wie viele meinen. Das hat einen tiefen Grund. Wenn Sie das Wahrheitsgefühl, das Verlangen nach Wahrheit und damit die Wahrheitssuche aus dem Leben der Menschheit herausnehmen, dann bleibt nichts mehr übrig als ein sinnentleertes pragmatisches Handeln zur Befriedigung animalischer Bedürfnisse. Wer aus anderen Gründen, etwa zur künstlerischen, aber wahrheitsunabhängigen Erhöhung des menschlichen Daseins auf Wahrheit verzichten will (wie Nietzsche), gerät bald in eine ähnliche Misere, nämlich in den psychischen Solipsismus, der alle kommunikativen Elemente der Wahrheit aufhebt und sich ihrer dennoch bedient, um seine eigene Wahrheit zu verkünden. Der naheliegende Grund für diesen Widerspruch liegt in der Tatsache, dass wir von den „letzten Dingen“ nichts wissen können und diesen Freiraum mit willkürlichen Inhalten glauben besetzen zu dürfen.

Aber es kommt noch schlimmer. Mit der Frage „Warum?“ beginnt jede Erkenntnissuche des Menschen, im kleinen wie im großen. Es gibt tatsächlich kein Problem, keinen Tatbestand und keinen Begriff, d.h. es gibt überhaupt nichts, das nicht die Frage nach dem Warum provoziert. Schon die kleinen Kinder gehen in der Fragephase den Eltern mit dem ständigen Warum auf die Nerven, und die Wissenschaftler und Philosophen leiden unter demselben Erkenntnisdrang, können aber nicht mehr die Eltern ausfragen, sondern müssen sich der Natur- und Menschenwelt zuwenden, um Fragen zu stellen und Antworten auszumachen. Einige Wahrheitssucher wenden sich unmittelbar an „Gott“, der es aber vorzieht, beharrlich zu schweigen. Es gibt also niemals ein Ende des Fragens, vor allem nicht auf der jetzigen Stufe der menschlichen Evolution. Und wenn wir brauchbare Antworten finden, dann sind sie immer spezifischer Natur und werfen sofort neue spezifische Probleme auf, die weiter befragt werden müssen. Wenn Sie wissen wollen, wie die Natur beschaffen ist, dann bietet Ihnen die Naturwissenschaft glänzende Antworten an, die aber wieder hinterfragt werden können; wenn Sie aber die radikale Frage stellen, wie die Naturwissenschaft als Wissenschaft naturwissenschaftlich erklärt werden kann, dann stoßen Sie in ein Wespennest ungelöster und zumeist falsch gestellter Fragen, dass Sie an Frage und Antwort zu verzweifeln beginnen und dann den Zweifel begründen wollen. Das führt uns zu den theologischen „Wahrheiten“: wie verhält es sich mit der Existenz und Gestalt Gottes, mit der Strukturform des „höchsten Wesens“, mit seiner Personenhaftigkeit, seiner Seele, seinem Willen und seiner Allmacht, und schließlich mit seiner unendlichen Güte und Barmherzigkeit, die wir in dieser lieblosen Welt so schwer nachweisen können? Die Antworten, die wir erhalten, befremden uns aber, weil sie mit Beharrlichkeit immer das voraussetzen, was zu beweisen ist. Unser bohrendes Fragen findet auch dann kein Ende, wenn wir großzügig auf Gott als den „ganz anderen“ oder auf seinen „ewigen Ratschluss“ verwiesen werden. Auch diese Negativa sind Produkte des Denkens und müssen geprüft werden. Wir besitzen von Natur aus ein legitimes Erkenntnisrecht, wir sind wahrheitssuchende Menschenwesen, die ohne das Element der Wahrheit nicht leben können. Niemand darf dieses Recht begrenzen wollen, sonst gerät er in den Verdacht, seine subjektiven Grenzen zum objektiven Maßstab zu machen - ein Fehler, an dem wir alle leiden. Wir können also unentwegt weiterfragen, selbst im Hinblick auf die absolute Wahrheit, wenn wir sie in Gestalt eines Kogitates begreifen würden: z.B. warum gibt es überhaupt so etwas wie die Wahrheit? Warum gibt es einen Gott, der existiert, aber sich nicht ausweisen will? Schließlich dürfen wir die Frage stellen: warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? Wir mögen endlos so weitersuchen, die Frage nach dem Warum wird niemals aufhören. Und genau an diesem problematischen Punkt müssen wir uns aus unseren Überlegungen zurücknehmen und sie als Ganzes betrachten. Nun, Sie werden das schon getan und dabei bemerkt haben, dass hier etwas nicht stimmen kann. Wir stießen etappenweise ins Leere und verloren uns in einem undefinierbaren Nichts. Man nennt diese fruchtlose Denkweise in der Fachsprache den „regressus ad infinitum“, den Weg ins Endlose, d.h. einen Leerlauf, der nichts Vernünftiges einbringt. Wir ahnen zumeist gar nicht, wie oft wir diesem endlosen Regress im täglichen Leben verfallen, weil wir zu bequem sind, unsere Gedanken konsequent zu Ende zu denken. Da hatten es die Alten leichter als wir: sie füllten den Freiraum des Absoluten mit den vergeistigten Antlitzen ihrer Engel und Götter, mit überhöhten Menschenantlitzen, die eine überirdische Kraft zu offenbaren schienen, eine Selbsttragekraft, die ihnen die gewünschte Geborgenheit, Erkenntnisbefriedigung, Gewissheit und Ruhe gab. Aber damit können wir die Bewusstseinsform des modernen Menschen kaum noch erreichen, wenigstens nicht mit den Prämissen, über die wir jetzt verfügen. Unser Absolutes ist ein Leer- und Freiraum, den wir nicht mit einem Antlitz besetzen können, um unsere Robinsonade zu überwinden, und sei es das Gottesantlitz selbst - und was genau so schockierend ist: wir finden nicht einmal einen reinen Begriff, der diesem problematischen „Nichts“ einen fassbaren Inhalt gibt. Und wenn so viele leidtragende, verzweifelte Menschen nach dem „Sinn“ ihres Lebens und Leidens fragen, dann muss ein ehrlicher Philosoph die Antwort verweigern, denn ein solcher „Sinn“ wäre ja nur als spezifisches Kogitat formulierbar und somit eine abstrakte Verdinglichung. Und wer gar ein radikales Erkenntnisbedürfnis besitzt, den können auch die zahlreichen religiösen Antworten nicht voll befriedigen, aus dem einfachen Grunde, weil auch die erhabenste Vorstellung eines höheren Wesens keine Begründung enthält. Das Warum bleibt offen. Und wer sich auf die berühmten Dinge beruft, die „höher sind als alle Vernunft“, der mag im Glauben recht haben, aber im Denken irrt er insofern, als er nicht einsehen kann, dass auch seine kategorischen Aussagen nur Kogitate der Vernunft sind, Produkte des Erkennens. Vielleicht gibt es noch ein sinnvolleres Verhältnis zu den Glaubensinhalten, aber wohl keineswegs außerhalb der Vernunft. Missverstehen Sie mich bitte nicht, ich rede hier nicht gegen den Glauben, ich zeige nur die Schwierigkeiten auf, in die wir geraten, wenn wir die Erkenntnis bemühen wollen. Die Wahrheit enthüllt sich als rätselhaftes Noli me tangere, das wir weder mit religiösen Vorstellungen, noch mit inhaltsvollen Begriffen und schon gar nicht mit abstrakten Formalisierungen in den Griff bekommen.

15. Vom Wesen und vom „Ansich“ der Wahrheit

Erlauben Sie mir, den Begriff „Wesen“ zu gebrauchen, auch wenn er seit Carnap irrtümlicherweise ins Gerede gekommen ist. Ich werde ihn später zu erklären versuchen. Was ich jetzt zu sagen habe, wird auch ohne eine solche Definition verständlich sein. Wir haben bisher den Begriff der „Wahrheit“ mehr nebenbei und umgangssprachlich benutzt, ohne allzu viel herausholen zu können - außer dem Bezug auf die „Kategorien“ des Denkens, besonders auf das entscheidende Phänomen der Selbsttragekraft des Denkens. Wir haben aber die Möglichkeit, noch einen wichtigen Schritt weiterzugehen und eine Feststellung zu treffen, die tiefer in unser Problem hineinführen wird.

Die Warum-Frage ist das unverzichtbare tägliche Brot aller Wissenschaft und Philosophie, auch wenn sich die bloß formalistische Anwendung dieser Frage bis zum unendlichen Regress als unsinnig erweist. Ohne Warum keine Wahrheit, und ohne Wahrheit kein Warum. Und was wir über alle Einzelantworten hinaus erreichen wollen, das Ziel aller Ziele, ist die endgültige Begründung, der absolute ideelle Zusammenhang, der in sich selber rundherum stimmig ist, ohne irgendeine Stütze von außen. Wenn das gelingen könnte, dann stünden wir mitten in der Wahrheit. Aber dieses „Letzte“ existiert stets nur als Wahrheitserlebnis, das uns (in sehr komplizierter Weise) immer nur das Ende jeder Warum-Frage ankündigt. Ohne dieses Grunderlebnis hätten alle logischen Operationen keinen einheitlichen Sinn: ihre Wahrheitsstruktur ergibt sich aus der Selbsttragekraft (Stimmigkeit bis Evidenz) des ideellen Komplexes, den wir gerade produziert haben. Das wird am Phänomen der Evidenz unmittelbar deutlich. Zuerst taucht es als Erlebnis, als gegenüberstehende Wahrnehmung in uns auf, und erst dann bilden wir den dazugehörigen Begriff der Stimmigkeit oder Evidenz. Es geht nicht anders: logische Relationen werden erst logisch durch das überlogische (nicht un- oder alogische) Element der Selbsttragekraft des Denkens als solche erkannt und widerspruchslos aufgenommen, und zwar in jedem einzelnen Fall des reflexiven Schließens, den Irrtum eingeschlossen. Man hat bisher dieses undefinierbare Etwas nicht deutlich identifiziert, nicht genügend beobachtet und nicht sorgfältig als eigenständige Realität aus dem Denkprozess herausgelöst, um es näher kennenzulernen. Man tat das Falsche, man schob es wegen des scheinbar subjektiven Charakters solcher Wörter wie „Einsicht“ und „Einleuchten“ schnell in die empirische Psychologie ab, um es damit als epistemologische Realität zu desavouieren. Das war und ist ein unverzeihlicher Fehler, der durch die Jahrhunderte geht und in der neueren Zeit in der „Erkenntnislehre“ des Positivisten Schlick einen energischen Vertreter fand - im Gegensatz zu dem bewundernswerten Husserl, der einer der wenigen Philosophen ist, die noch von der „Wahrheitswelt“ etwas verstanden haben. Natürlich finden sich in der Wahrnehmung der Selbsttragekraft des Denken auch rein psychische Elemente, aber gewiss nicht im Sinne des veralteten „Psychologismus“. Wir werden sie bald auszumachen versuchen. Wir können nichts gewahr werden, ohne dass die Seele beteiligt ist, aber das besondere Erlebnis, dass die Wahrheit ihrer Natur nach auf sich selbst beruht, geht über das Empirisch-Psychische, wie wir es heute kennen, hinaus - und genauso über das reflexive Schlussfolgern in den abstrakt-logischen Denkprozessen. Evidenz lässt sich nicht erschließen, sie ist keine Konklusion, sie tritt plötzlich auf, ohne Begründung und auch unbegründbar. Wir können diese neue Qualität nur charakterisierend zu beschreiben versuchen. Ein Erlebnis steht vor uns, das zur Erkenntnis führt, indem es zugleich die Erkenntnis erst möglich macht. Dieser Sachverhalt entzieht sich jeder logischen Begründung, obwohl er zur Logik gehört. Die Evidenz ist unableitbar, weil sie alle unsere Ableitungen erst in sinnvolle Relationen verwandelt, sie ist der ruhende Pol in den flüchtigen Erscheinungen der spezifischen Kogitate, die wir denken. Damit berühren wir den Kern des Problems, den Rudolf Steiner einmal so ausgesprochen hat: „Die Wahrheit hat ihren Grund in sich.“ (Rudolf Steiner: Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie. Dornach 2. Auflage 2001, S. 164) Und diesen Tatbestand erfahren wir im Evidenzerlebnis unmittelbar und in dauernder Präsenz, auch dann, wenn uns subjektive Faktoren diese Erfahrung verdunkeln oder verzerren. Wir können sie entwickeln, wenn wir den guten Willen dazu haben. Sie bestimmt die geistige Struktur aller Menschen und bringt das zustande, was wir „Kommunikation“ und „Verstehen“ nennen, so verschieden auch die Mentalitäten der Individuen und Völker sein mögen.

Nun kann man für diesen Zusammenhang eine Formulierung gebrauchen, die ihre logischen Tücken hat und dennoch verwendbar ist: ich meine den merkwürdigen Begriff der „Selbstbegründung“, mit dem man auszudrücken pflegt, was sich als unableitbar erweist. Ich wüsste keine Bezeichnung, die das Unsagbare besser umschreibt, auch nicht der Begriff der „Letztbegründung“, der mehr den bloß formalen Abschluss eines reflexiven Prozesses festhält und weniger die alles bestimmende und tragende Qualität der Evidenz umschließt. Wir wollen bei dem symbolischen Ausdruck „Selbstbegründung“ bleiben, um den Finger genau auf die Tatsache zu legen, dass die Wahrheit ihren „Grund in sich selbst“ hat. Diesen Zustand kann man auch mit einer bekannten Formel das „Ansich“ der Wahrheit nennen, oder, wenn Sie so wollen, ihr „Wesen“. Auf dieses „Ansich“ ist alles bezogen, was wir denken, oder wir müssen zu denken aufhören. Es ist das strukturlose „Absolutum“, das alle bedingten Strukturen sichtbar macht, und damit unser bekannter Freund: das „bestimmungslose Denken“. Es tritt uns niemals, wie wir wissen, als spezifisches Kogitat gegenüber und wird dennoch als evidentielle Gegenüberstellung innerlich erfahren, sonst könnten wir den Begriff des Absoluten überhaupt nicht bilden. Er kommt nicht dadurch zustande, dass wir in der Mathematik mit dem Unendlichen (in sehr verschiedener und problematischer Weise) umgehen, sondern allein durch die Anschauung des Selbstbegründungscharakters der Wahrheit, den der Begriff des Unendlichen keineswegs einschließt. Daraus können wir schließen, dass unsere spezifischen Kogitate immer einseitig sind und deshalb die bekannten Aporien auswerfen, die uns so viel Kopfzerbrechen bereiten, und das ganz besonders im reinen Denken der Logik. Nur die Wahrheit ist aporienlos, deshalb erscheint sie uns als die größte Aporie. Aber da sie, im Gegensatz zu dem Unendlichen, als konkretes Phänomen erlebt und angeschaut wird, ist sie realer Bestandteil der menschlichen Existenz, eine Wirklichkeit, die wir geistig erfahren, wenn wir wollen, und die wir niemals eliminieren können. Selbst der Irrtum lebt aus der Wahrheit. Und wer es sich leisten möchte, den Wahrheitsbegriff zur nominalistischen „Fiktion“ zu erklären, der verwandelt sich selbst in eine Fiktion, ohne dass er es merkt.

Damit sind wir einen Schritt weitergekommen. Die Wahrheit ist doch etwas mehr als nur die „Leere“, von der wir gesprochen haben: sie gibt sich als „Selbstbegründungselement“, das den sinnlosen regressus ad infinitum der Warum-Frage aufhebt, ohne uns zu bestimmen. Sie ist ein „Freiraum“, aber einer, der nur das Wahrheitsdenken annimmt und deshalb jede willkürliche Besetzung verbietet, obwohl wir auch willkürlich verfahren können, wenn sich unser Ich nicht auf die realen Verhältnisse einlässt. Wir müssen immer in Richtung „Selbstbegründung“ denken, oder wir gehen in die Irre. Über diese Wahlmöglichkeit, d.h. über den aktologischen Zusammenhang von Ich und Wahrheit, also über die Freiheit, werden wir einiges zu sagen haben, wenn wir über das menschliche Handeln aus Erkenntnis sprechen können.

Vielleicht werfen Sie mir jetzt vor, dass ich gerade dabei bin, mich in einen Widerspruch zu verwickeln, indem ich aus dem angeblich strukturlosen Element des Denkens eine Struktur von fundamentaler Bedeutung herausschäle, nämlich eine Wahrheitsstruktur, die es nach unseren Prämissen nicht geben darf. Dieser Einwand ist sehr ernst zu nehmen, auch wenn er an den tatsächlichen Zusammenhängen nichts ändert. Wir wollen später diese Frage untersuchen. Für jetzt muss Ihnen der Hinweis genügen, dass unser Denken über allen seinen Begriffen steht, sogar über den Begriffen „Wahrheit“, „Denken“ und „Selbstbegründung“. Wenn dem nicht so wäre, müssten wir das Absolute begrifflich erfassen können. Das aber ist nicht möglich. Wir gehen zwar mit ihm um, wir er-greifen es, aber wir be-greifen es nicht, weil es selbst das Element des Begreifens ist - jedoch mit der „Absicht“, sich nach und nach in der Evidenz aufzuheben.

16. Zwei Beispiele: die „causa sui“ und das „lumen gloriae“

Für diejenigen unter Ihnen, die mit der Geschichte der Philosophie nicht vertraut sind, lassen Sie mich in gebotener Kürze zwei historische Beispiele vorlegen, die Sie in die ganze Bedeutung unserer Überlegungen einführen können und die den Nachweis erbringen mögen, dass alles Denken schon immer um das Selbstbegründungselement des Absoluten kreist, unbeschadet der verschiedenen sprachlichen und religiösen Formen der Einkleidung. Wir wollen zwei ausgezeichnete Philosophen der Vergangenheit nach ihrer Stellung zum Prinzip des Absoluten befragen, und zwar zuerst Spinoza und dann Thomas von Aquin.

Wer die „Ethica“ Spinozas studiert, fühlt einen Hauch von Ewigkeit, dem sich noch kaum ein Leser hat entziehen können. Sie vermittelt den Eindruck, als würde man unmittelbar die Erhabenheit des Weltgrundes wahrnehmen. Es gibt wohl keinen Philosophen, der seine Gedanken mit solch würdevollem Ernst vorgetragen hat, und wiederum keinen, der es unternommen hätte, den Begriff „Gott“ mit mathematischer Präzision zu erfassen (Ordine Geometrico Demonstrata) wie Spinoza. Er beginnt definitorisch mit den Grundbegriffen seines Systems, um, wie er meint, eine unwiderlegliche Ausgangsposition für seine Ableitungen zu erhalten. Sehen wir uns einige Formulierungen einmal genauer an. Da finden wir als den ersten Satz eine Definition, die es uns schwer macht, einen logischen Sinn darin zu finden:

„Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.“ (Spinoza: Werke. Ethik. Erster Teil. Von Gott. Definitionen Nr. 1. Hrsg. von Konrad Blumenstock. Darmstadt 1980, Bd. II, S.87)

So die Interpretation dessen, was jahrhundertelang als „causa sui“ bezeichnet worden ist. Wie nun der Sprung von der „Ursache seiner selbst“ zur realen „Existenz“ möglich wird, erklärt sich aus dem mittelalterlichen Seinsbegriff, den ich Ihnen hier nicht vorführen will, weil er für uns keine logische Gültigkeit mehr besitzt. Allerdings muss das mit einer gewissen Einschränkung gesagt werden. Nun ist diese „causa sui“ wesenhaft identisch mit dem, was Spinoza „Substanz“ nennt, ein Begriff, den er so definiert, dass wir an unser Problem schon näher herankommen:

„Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird (Per substantiam intelligo id, quod in se est, per se concipitur); d.h. das, dessen Begriff nicht den Begriff eines anderen Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden“ (Spinoza, a.a.O. Nr. 3)

Und über Gott lesen wir:

„Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Seiende, d.h. die Substanz (Per Deum intelligo ens absolute infinitum, hoc est, substantiam...)“. (Spinoza, a.a.O. Nr. 6)

Damit ergibt sich der aufschlussreiche Zusammenhang: die Begriffe „causa sui“, „Substanz“ und „Gott“ sind nur sprachlich verschieden, aber ontologisch meinen sie das Urwesen der Welt, das wir Gott nennen, weil es sein eigener Verursacher (Schöpfer), seine „causa sui“ ist, und das wir als „Substanz“ bezeichnen müssen, weil es ganz auf sich selbst beruht (Deus sive substantia) - und wir dürfen noch weitergehen, ohne Spinoza Unrecht zu tun: unter „causa sui“ muss man ein Doppeltes verstehen, nämlich den Selbstschöpfer und den Selbstbegründer, also das unableitbare Wesen, das in seiner Bestimmungslosigkeit die Qualität des „Unendlichen“ hat, wie man damals noch sagte. Und alle diese Kategorien gehören zum Wesen des überpersönlichen All-Einen, der durch die „Verursachung“ seiner selbst, die unableitbar ist, die endlosen ableitbaren Ursachenketten hervorbringt, die wir im Erkennen mit mathematischer Genauigkeit zu entfalten haben. Das „ens a se“ geht in das beschränkte „ens ab alio“ über, das uns als „Endlichkeit“ gegenübertritt. Damit wird Spinoza zum radikalen Philosophen der Kausalität, der wir uns unterwerfen müssen, weil sie der verendlichte Weg des unendlichen Gottes ist. Auch der menschliche Verstand muss trotz seines Stufenweges zur Erkenntnis als begrenztes Element des göttlichen Geistes betrachtet werden, als eins der unendlich vielen „Attribute“ Gottes, und eins der wenigen, an denen wir teilhaben. In dieser Betrachtungsweise, nach der die Welt von oben nach unten abgeleitet wird, ist natürlich kein Platz für die Freiheit. Wir besitzen ja nur einen „Teil des unendlichen Verstandes Gottes“, und zwar den eingeschränkten, verendlichten Teil, der nur Wirkung, aber nicht Ursache ist.

Diese wenigen Andeutungen mögen für unsere Zwecke genügen. Es ist üblich geworden, derlei Gedankengänge als Scheinprobleme aufzufassen oder als „mythisches“ Denken, das der Entmythisierung bedarf, um den rationalen Gehalt festzustellen. Das ist nicht völlig falsch, aber auch nicht ganz richtig. Wenn wir die mythische Einkleidung abstreifen, dann bleibt etwas übrig, das uns sehr bekannt vorkommt:

Spinoza umkreist mit rational nicht immer gerechtfertigten Mitteln dasselbe Problem, mit dem wir uns hier beschäftigen, und er kommt zu einem Ergebnis, das uns nicht besonders befremden dürfte. Setzen wir an die Stelle des Gottesbegriffes den Begriff der Wahrheit, und das entspricht der Auffassung Spinozas, dann zeigt sich der Zusammenhang zwischen beiden: die Selbsttragekraft des Denkens erscheint in der „Ethik“ als „ens a se“ und „ens per se“, und die alles umspannende Universalität des Denkens finden wir in dem Begriff „Unendlichkeit“ wieder, und in beiden die Unableitbarkeit und Bestimmungslosigkeit der Wahrheit. Spinoza hat nicht phantasiert, aber in einer religiös verbrämten Sprache geschrieben, die das wesentliche Problem verdunkelt, und Schlüsse gezogen, die nicht aus der Sache begründet werden können. Seine Spekulationen sind unannehmbar, aber sein philosophischer Instinkt brachte ihn genau an die Probleme heran, um die wir uns immer bemühen müssen. Schon Aristoteles legte den Grundstein für das Wahrheitsdenken, und das Mittelalter theologisierte das aristotelische Denken in zweifellos mythisierender Weise. So entstand die scholastische Mixtur, die uns heute unbefriedigt lässt. Und doch zieht sich durch das gesamte Zeitalter der Philosophie wie ein roter Faden die immer wieder von neuem erlebte Gewissheit: die Wahrheit hat ihren Grund in sich. Aber an die Stelle der Spekulation muss die sorgfältige Beobachtung treten, die sich in sachlichen Begriffen realisiert.

Gehen wir einige Jahrhunderte zurück, dann treffen wir auf die wunderbare Gestalt des Thomas von Aquin, der dem Mittelalter seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt hat. Seine vielseitige, äußerst subtile Begriffsbildung und universelle, ausgewogene Systematik finden nichts Vergleichbares in der gesamten Geschichte der Philosophie. Aus der Fülle dieses Denkens wollen wir nur einen einzigen Begriff herausnehmen, der mit unserem Thema in direkter Verbindung steht. Aber zunächst eine Vorbemerkung. Thomas stand wie alle zeitgenössischen Denker vor der berühmt gewordenen Frage, wie sich die Wahrheiten des menschlichen Denkens mit den Wahrheiten der göttlichen Offenbarung vertragen. Gibt es eine Versöhnung dieser anscheinend so feindlichen Brüder, oder muss man mit dem großen Scholastiker W. v. Occam einen radikalen Trennungsstrich ziehen: nämlich auf der einen Seite die nichtssagenden „voces“, die Namen, Laute und Wörter, die angeblich keinen realen Wahrheitsgehalt besitzen, auf der anderen Seite das göttliche Offenbarungswissen, das alle Vernunft übersteigt? Eine solche Lösung befriedigt natürlich nicht, sie zerschneidet das Problem wie Alexander den gordischen Knoten: zwei Teile bleiben übrig, von denen jeder auf seine Art das Denken entwertet. Die Glaubenswahrheit entzieht sich unserem Denken, und unser Denken erfasst nicht einmal die irdischen Realitäten, in denen wir leben. Was übrigbleibt, ist der reine Glaube. W. v. Occam begründet damit den sog. „Nominalismus“, der heute unser Bewusstsein in einer Weise bestimmt, die W. v. Occam wahrscheinlich das Fürchten gelehrt hätte: es gibt nicht nur keine realen „Ideen“ mehr („Realismus“), auch die Offenbarung ist mittlerweile zum sinnentleerten Wortkram entmachtet worden, zu einer Sammlung von „Scheinproblemen“, die philosophisch nicht mehr ernst zu nehmen sind. Der „Realist“ Thomas geht den Weg der Synthese, und zwar im überlieferten Geiste einer spirituellen Seinsordnung, nach der im menschlichen Verstande bereits ein natürliches Wahrheitslicht angelegt ist, ein sog. „lumen naturale“, mit dessen Hilfe wir die irdischen Wahrheiten, den Abglanz der Ideen Gottes, erfassen können. Und für die Erfassung der überirdischen Wahrheit des Unendlichen wird uns eine göttliche Hilfe zuteil, die uns auf eine höhere Stufe hebt und uns erlaubt, die Offenbarung als die Wahrheit Gottes zu erkennen. Ein himmlischer Funke muss einschlagen, damit wir den Gottesbegriff überhaupt denken können, ein Gnadengeschenk von oben, das ein Unendliches im Endlichen erfahrbar macht. Dieses Gnadengeschenk Gottes, das uns zur untersten Stufe der Hierarchie der Engelswelt erhebt, so weit es die Erkenntnis betrifft, ist ein übermenschliches veritatives Element, dem wir unsere begrenzte Einsicht in die Wahrheit der Offenbarung verdanken, es ist das sog. „lumen gloriae“, das „Glorienlicht“, das Gott und seine Hierarchien in uns eingesenkt haben, um die transzendentale Wahrheitswelt überhaupt denken zu können, ohne die menschliche Kreatürlichkeit aufzuheben. Auch die Engel verfügen über abgestufte veritative Erkenntnisweisen, je nach dem Rang, den sie einnehmen: je näher „Gottvater“, desto vollkommener das geistige Auge, das „lumen gloriae“, aber immer derart, dass die Geschöpflichkeit der Engel eine unübersteigbare Grenze setzt. Nur Gott allein lebt in der absoluten Erkenntnis seiner selbst.

Sie werden mir jetzt entgegenhalten, dass solche Spekulationen heute, im Zeitalter der kritischen Philosophie, unannehmbar sind. Natürlich haben Sie recht. Und doch sollten wir vorsichtig sein. Es ergeht uns mit Thomas ganz ähnlich wie mit Spinoza. Was uns beide vom „göttlichen Verstand“ berichten, entpuppt sich als die theologische Umschreibung unseres eigenen, allerdings immer noch vorläufigen Wahrheitsbegriffs. Wir wandern tatsächlich durch ein gestuftes und stufbares Reich von differenzierbaren Wahrheitsebenen, und zwar immer in der Richtung nach „oben“, zum „göttlichen“ Urgrund dessen, was wir „Selbstbegründung“ genannt haben, d.h. zur „causa sui“, zur „Substanz“ und zum „Unendlichen“. Unsere spezifischen Kogitate tragen sich im Einzelfall selbst, aber nicht in ihrer Gesamtheit, sie sind immer auf der Suche nach universeller Harmonie, nach absoluter Selbsttragekraft, nach unbefragbarer Evidenz, nach „Gott“, weil Gott die Wahrheit ist. Und dennoch wissen wir genau, dass die Wahrheit über allen Kogitaten steht, also im gegenwärtigen Zustand des Menschen unerreichbar bleibt. Unser nicht verdinglichtes „Glorienlicht“ ist das „bestimmungslose Denken“, die „Evidenz“ als evidentieller Weg und das unmittelbare Erlebnis eines „Absoluten“, das wir als konkrete übersinnliche Erfahrung besitzen und anwenden. Wir müssen damit methodisch arbeiten, um Mensch bleiben zu können. Allerdings heben wir damit alle theologischen Umschreibungen des Wahrheitsproblems auf.

Aber da ist noch ein anderes Moment, das wir nicht außer acht lassen wollen. Es bleibt immer erhebend zu beobachten, wie früher mit einem heiligen Ernst um die Wahrheit gerungen wurde, weit tiefer und menschlicher, als das gemeinhin heute der Fall ist. Wir sind der Wahrheit gegenüber, um es sarkastisch zu sagen, schon zu philosophischen Snobs geworden, die sich bestenfalls mit den Formalisierungen logischer Beziehungen zufriedengeben, wenigstens in den führenden Zirkeln, und damit der Wahrheit zu genügen glauben. Aber diese Entwicklung war notwendig. Wenn es dem Gläubigen unmöglich scheint, ohne Gott zu Gott zu kommen, so könnte es doch sinnvoll sein, im Verlust der Wahrheit die Wahrheit wieder zu entdecken.

Und vielleicht gibt es auch einen Weg, den erwähnten Ernst in der Wahrheitssuche auf seine ursprünglichen Quellen zurückzuführen, damit wir sie wieder zum Fließen bringen können. Allerdings wird nichts mehr ohne den „Freiraum“ der menschlichen Freiheit gehen.

Die Philosophie des Denkens

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