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D. DAS DENKEN ALS ABSOLUTUM

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12. Ein Vorspiel aus dem Alltag

Es ist immer schwer, an das Denken heranzukommen, wenn man sich unvermittelt in die Höhenluft der Abstraktionen begibt. Wir werden gut daran tun, in anderem Zusammenhang noch einmal ganz von unten anzufangen, um eine erste Erfahrung zu machen, die jedem schon vielfach begegnet ist. Wie früher den Handwerker, der eine Maschine bauen will, so lassen Sie uns jetzt eine schlichte Hausfrau heranziehen, die gewiss unverdächtig sein wird, philosophischen Spekulationen nachzulaufen. Damit fallen auch alle theoretischen Vorbelastungen, die uns verwirren könnten, hinweg.

Stellen Sie sich eine ganz solide und normale Hausfrau vor, die gerade dabei ist, am Monatsende Bilanz zu machen, um ihre Ausgaben zu überprüfen. Sie wird alle Kosten gewissenhaft addieren und die errechnete Endsumme von der Erstsumme ihres Haushaltsgeldes abziehen, um herauszufinden, was übrigbleibt. Dabei, so wollen wir annehmen, stellt sie zu ihrem großen Erstaunen fest, dass sie ihr Konto überzogen hat. Sie steht jetzt im Minus und hat Schulden. In ihrer Aufregung ruft sie den Ehemann und bittet ihn, die vorliegende Rechenoperation noch einmal sorgfältig zu wiederholen. Aber auch seine Nachprüfung nützt nicht das geringste: die Zahlen stimmen, einen Ausweg gibt es nicht. Der negative Differenzbetrag bleibt trotz weiterer Überprüfungen unerbittlich derselbe. Unsere brave Hausfrau möge sich schon vor dieser alarmierenden Tätigkeit, so wollen wir wiederum annehmen, in reichlich komplizierten Gemütszuständen befunden haben: vielleicht hatte sie großen Ärger, körperliche Schmerzen oder gesundheitliche Sorgen, vielleicht auch Depressionen, Konzentrationsschwierigkeiten oder sogar einen Trauerfall in der Familie - wie dem auch sei, nichts von all diesem hatte auch nur den geringsten Einfluss auf das Endergebnis der Rechenoperation. Die Bilanz steht auf unabhängigen Boden, nicht mediatisiert und nur sich selbst verantwortlich. Und wenn sie - nehmen wir auch das einmal an - durch die Hände aller Menschen auf dieser Erde gegangen wäre, durch sämtliche Rassen und Völker, durch alle Mentalitäten und Entwicklungsstufen, unter allen geographischen, klimatischen und hygienischen Bedingungen, das Resultat der Bilanz wäre immer und überall dasselbe, natürlich die Fähigkeit zum Rechnenkönnen vorausgesetzt. Würden wir uns die Mühe machen, diesen Sachverhalt unserer Hausfrau ins Bewusstsein zu heben, dann wäre sie wohl erstaunt darüber, dass wir ihr so etwas „Selbstverständliches“ klarmachen wollen, aber es dürfte einige Zeit kosten, ihr die Bedeutung ihres natürlichen Wissens („das weiß man doch“) zu erklären: nämlich die überraschende Tatsache, dass sie in ihrem Inneren einem objektiven Element begegnet, das gar nicht so privat ist, wie sie angenommen hatte. Im Extremfall könnte ihr naives „Ich denke“- Erlebnis in eine „Es denkt“- Erfahrung umschlagen, mit der sie kaum etwas anzufangen wüsste. Wir alle besitzen dem Denken gegenüber ein schier unverwüstliches Eigentumsgefühl, das wir gar nicht gerne aufgeben. Es will uns nicht in den Kopf, auch nicht in die Köpfe vieler Philosophen, dass so etwas Privates wie unsere täglichen Denkoperationen mit einer objektiven Realität verbunden sind, die weit über das Subjekt hinausragt und sogar die Kraft hat, uns selbst zu bestimmen. Dieser wesentliche Gedanke führt zur sog. „philosophischen Besinnung“, wenn er richtig angewandt wird. Natürlich melden sich sofort die erprobten Einwände, vor allem der simpelste, der überall ins Feld geführt wird: alle diese Überlegungen mögen für rein logische Zahlenoperationen ihre partielle Gültigkeit besitzen, aber was geschieht, wenn man sich sprachliche Formulierungen, also „Sätze“, gegenüberstellt und nach objektiven Gedankeninhalten sucht? Wir landen in einem Meer von Missverständnissen und Unklarheiten, die genau das vermissen lassen, was unsere Bilanz ausgezeichnet hatte. Wir fühlen, wie wir in der eigenen Subjektivität versinken, und reißen das scheinbar so unabhängige Denken mit in den Strudel höchstpersönlicher Seelenprozesse. Denken Sie nur an die berühmten Verführungen durch die Sprache, die uns von einer Falle in die andere lockt und uns Probleme vorspiegelt, die keine sind. So wenigsten sagen die Grunderkenntnisse der zeitgemäßen Sprachanalyse und Linguistik. Auch unsere Hausfrau, die wir nun verlassen wollen, weiß das instinktiv und wendet sich ihren realistischen Sorgen zu, die ihr auf den Nägeln brennen.

Ich habe gerade von „Sätzen“ gesprochen, die wir denken, reden und schreiben können, und zwar mit der tatsächlichen Absicht, so etwas wie die „Wahrheit“ zu sagen, aber mit dem Ergebnis, dass sie die Wahrheit entweder verschleiern oder gar nicht enthalten. Hinzukommt, dass wir nicht einmal Kriterien besitzen, nach denen wir die Wahrheit bestimmen können. Gewiss, das Erlebnis der „Objektivität“ erfährt jeder, der sich mit dem Denken beschäftigt, aber sobald er den Inhalt seiner Gedanken kritisch behandelt, verliert er sehr schnell den Boden unter den Füßen. Wenn es möglich wäre, alle Wissenschaftsgebiete nach dem Vorbild der Naturwissenschaft mit exakten mathematischen Methoden zu bearbeiten, dann könnten wir Hoffnung schöpfen und uns im Weltzusammenhang weit sicherer bewegen als bisher. Aber leider sind alle Versuche dieser Art fehlgeschlagen oder nur zum Schein erfolgreich. Die geistreichen und sinnvollen Impulse eines Leibniz oder Carnap, so etwas wie eine universelle wissenschaftliche Kunstsprache zu schaffen, sind im Sande verlaufen, obwohl diese Forderung in der Luft liegt. Das hat schwerwiegende Gründe, die wir noch kennenlernen werden. Es wäre vom heutigen Standpunkt ein Segen gewesen, wenn wir uns ganz aus den Unklarheiten der Umgangssprache zu lösen vermocht hätten. Aber das alles ist Wunschdenken. Unser Weltverständnis wird niemals die brillante Simplizität der Bilanz unserer braven Hausfrau erreichen - und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dann die Evolution des Menschen methodologisch präjudiziert wäre, d.h. nach logischem Schema ablaufen müsste. Auf der andern Seite sind aber Ausdrücke wie „Erlebnis“, „Wahrheitsgefühl“ u.a. so verschwommen, dass sie jedem ernsten Wissenschaftler suspekt sein müssen, wenn er Wert auf unverzerrte Gedankenbildung legt, auf Präzision im intersubjektiven Austausch der Ideen. Damit scheinen wir uns selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Aber ich sage das nur, um Ihnen die Problemlage klarzumachen. Natürlich werden wir keine Gefühlsphilosophie entwickeln, auch nicht in der hohen Gefühlsgeistigkeit eines Jaspers, die bewundernswert ist, aber das Wissen verneint. Wir wollen das analytische Element nicht verleugnen und uns nicht mit rein „menschlichem Niveau“ begnügen, weil wir wissen, dass die Entwicklung zur „Humanitas“ mitten durch die Wissenschaft gehen muss. Unsere weiteren Beobachtungen werden diese Auffassung belegen.

13. Die Wahrheit und ihre Kogitate.

Die folgenden Ausführungen wenden sich bewusst gegen die weitverbreiteten und zweifellos bewundernswerten Formalisierungskünste unserer Tage, nicht aus Abneigung, sondern aus der Erkenntnis ihrer Unzulänglichkeit. So geistreich und neuartig zum Beispiel die Überlegungen eines Tarski sind; an dem, was wir Wahrheit nennen, gehen seine formalistischen Betrachtungen vorbei. Auch wir meinen das „true“ und nicht das „frue“ und sind der Meinung, dass es Wege gibt, die Wahrheit so aufzufassen, dass Tarskis Formalismen überhaupt erst in das rechte Licht gerückt werden können. Die logischen Seitenkanäle führen zu keinen brauchbaren Ergebnissen.

Wenn wir das Ganze des Denkens zu erfassen suchen, und damit den Begriff der Wahrheit, stehen wir vor beträchtlichen Schwierigkeiten. Auf diese Wendung vom Denkresultat zur Denktätigkeit kommt es Rudolf Steiner an. Er schreibt:

„Ich muss einen besonderen Wert darauf legen, dass hier an dieser Stelle beachtet werde, dass ich als meinen Ausgangspunkt das Denken bezeichnet habe, und nicht Begriffe und Ideen, die erst durch das Denken gewonnen werden. Diese setzen das Denken bereits voraus... (Ich bemerke das hier ausdrücklich, weil hier meine Differenz mit Hegel liegt. Dieser setzt den Begriff als Erstes und Ursprüngliches.)“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 57f.)

In einer anderen Schrift zitiert er Sätze eines zeitgenössischen Autors, um das Problem des Denkens in seiner zentralen Bedeutung und Schwierigkeit drastisch vor Augen zu führen; sie lauten:

„Zu welcher Philosophie man sich bekenne: ob zur dogmatischen oder skeptischen, empirischen oder transzendentalen, kritischen oder eklektischen, alle ohne Ausnahme gehen von einem unbewiesenen und unbeweisbaren Satz aus, nämlich von der Notwendigkeit des Denkens. Hinter diese Notwendigkeit kommt keine Untersuchung, so tief sie auch schürfen mag, jemals zurück. Sie muss unbedingt angenommen werden und lässt sich durch nichts begründen; jeder Versuch, ihre Richtigkeit beweisen zu wollen, setzt sie immer schon voraus. Unter ihr gähnt ein bodenloser Abgrund, eine schauerliche, von keinem Lichtstrahl erhellte Finsternis. Wir wissen also nicht, woher sie kommt, noch, wohin sie geht. Ob ein gnädiger Gott oder ein böser Dämon sie in die Vernunft gelegt, beides ist ungewiss.“ (Gideon Spicker: Philosophisches Bekenntnis eines ehemaligen Kapuziners. Zit. nach Rudolf Steiner: Freiheit, Unsterblichkeit und Soziales Wesen. Dornach 1990, S. 33)

Mit diesen dramatischen Hinweisen wird das Problem, das wir untersuchen wollen, in seiner immer wieder vergessenen Weltbedeutung erkannt - deshalb das Zitat -, aber wir stellen zugleich Formulierungen fest, die eine Menge Vorurteile enthalten, die unphilosophisch sind. Greifen wir zunächst auf unsere Erkenntnis zurück, die wir vorliegen haben. Erinnern Sie sich an das Phänomen des „bestimmungslosen Denkens“, das wir als besonderen Vorgang aus dem Gesamtprozess des Denken herausgelöst haben, ohne eine reale Trennung vorzunehmen. Erinnern Sie sich auch an die wichtige Feststellung, dass alle Produktionen des Denkens, also die sog. Kogitate, sich immer und ausnahmslos auf spezifische Gegenüberstellungen beziehen, also niemals ein allgemeines Absolutum aussprechen. Auch das, was ich soeben in Worte fasse, ist natürlich ein Kogitat, das sich auf das Denken bezieht, aber nur in Form der Abgrenzung und nicht als inhaltliche Bestimmung. Darüber werden wir noch zu reden haben. Allerdings ist der Begriff des Denkens am Denken gebildet, d.h. das Denken spricht sich selbst aus, wenn auch ohne Bestimmungen. Wir verbleiben, wie Rudolf Steiner einmal sagt, „in demselben Element.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 48.) Darin stecken natürlich eine Menge Probleme, die sich erst klären, wenn wir weitere Beobachtungen machen. Lassen Sie uns schrittweise vorgehen.

a. Da ist zunächst die „Erkenntnisbefriedigung“, von der wir bereits gesprochen hatten. Um welche Art von Befriedigung handelt es sich hier? Wenn wir einen Erkenntnisvorgang zu Ende gebracht haben, dann hören wir nicht willkürlich zu denken auf, wie es uns gerade beliebt: es ist vielmehr so, dass wir aufhören müssen, weil die ideelle Motivation wegfällt. Das Denken kommt vorübergehend in sich selbst zur Ruhe, nimmt das Ergebnis wahr und hat das Gefühl, dass der Kreis geschlossen ist. Alle Begriffe und Begriffsrelationen tragen sich gegenseitig, ein Endpunkt ist erreicht, der uns zwingt, aus unserer Arbeit zurückzutreten. Rudolf Steiner hat diesen ausgeglichenen Zustand der Denkresultate „Harmonie“ genannt, womit er natürlich keinen ästhetischen, sondern einen logischen Zustand bezeichnen will. Hören wir ihn in größerem Zusammenhang:

„Wie erscheint uns unser Denken für sich betrachtet? Es ist eine Vielheit von Gedanken, die in der mannigfachsten Weise miteinander verwoben und organisch verbunden sind. Diese Vielheit macht aber, wenn wir sie nach allen Seiten hinreichend durchdrungen haben, doch wieder nur eine Einheit, eine Harmonie aus. Alle Glieder haben Bezug aufeinander, sie sind füreinander da; das eine modifiziert das andere, schränkt es ein und so weiter. Sobald sich unser Geist zwei entsprechende Gedanken vorstellt, merkt er alsogleich, dass sie eigentlich in eins miteinander verfließen. Er findet überall Zusammengehöriges in seinem Gedankenbereiche; dieser Begriff schließt sich an jenen, ein dritter erläutert oder stützt einen vierten und so fort... Alle Einzelgedanken sind Teile eines großen Ganzen, das wir unsere Begriffswelt nennen... Tritt irgendein einzelner Gedanke im Bewusstsein auf, so ruhe ich nicht eher, bis er mit meinem übrigen Denken in Einklang gebracht ist. Ein solcher Sonderbegriff, abseits von meiner übrigen geistigen Welt, ist mir ganz und gar unerträglich. Ich bin mir eben dessen bewusst, dass eine innerlich begründete Harmonie aller Gedanken besteht, dass die Gedankenwelt eine einheitliche ist. Deshalb ist uns jede solche Absonderung eine Unnatürlichkeit, eine Unwahrheit... Haben wir uns bis dahin durchgerungen, dass unsere ganze Gedankenwelt den Charakter einer vollkommenen, inneren Übereinstimmung trägt, dann wird uns durch sie jene Befriedigung, nach der unser Geist verlangt. Dann fühlen wir uns im Besitz der Wahrheit.“ (Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 7. Auflage 1979, S. 56f.)

So weit Rudolf Steiner. In diesem Text werden mehrere Motive miteinander verbunden, aber zunächst interessiert uns der Begriff der Harmonie, die unseren Erkenntniswillen befriedigt. Ist das überhaupt ein psychologischer Begriff, wie man heute wohl meinen dürfte, oder enthält er etwas, das bis in die Erkenntnistheorie reicht?

b. Was hier in scheinbar anspruchsloser umgangssprachlicher Fassung „Wahrheit“ genannt wird, stellt zweifellos diesen Bezug her, meint aber zunächst nicht viel mehr als die tägliche Erfahrung der logischen Stimmigkeit von Sätzen aller Art, von gesprochenen und auch formalisierten Begriffsrelationen, also einen gedanklichen Zusammenhang, der durch sich selbst einleuchtet, weil er keiner äußeren Stütze bedarf. Dabei ist es gleichgültig, ob subjektive Unzulänglichkeit eine Rolle spielt und Einsichten vorgaukelt, die keine sind. Dass wir falsche Sätze für wahr halten können, beweist nur, wie unverzichtbar das Erlebnis dieser Stimmigkeit ist. Ohne das Phänomen der „Einsicht“ oder des „Einleuchtens“ gäbe es keine Wissenschaft, ja wir wären nicht einmal in der Lage, unser tägliches Leben zu führen. Die logische Stimmigkeit ist die Sonne, um die alle Begriffe kreisen, auch wenn sie selbst nicht sichtbar wird. Es genügt das Licht, das sie ausstrahlt, um Wahrheit oder Irrtum hervorzubringen. Und diese rätselhafte Stimmigkeit bewegt sich, je nach den subjektiven Randbedingungen, in Graden oder Stufen - bis hinauf zum Erlebnis der absoluten Sicherheit, die wir „Evidenz“ zu nennen gewohnt sind. Die Sache selbst bleibt in allen subjektiven Variationen unverändert. Wir wollen deshalb in Zukunft den Begriff der Evidenz in diesem Sinne verwenden: Evidenz als objektive Realität des Phänomens der Stimmigkeit, um dessen reinste Erscheinungsform wir uns bemühen müssen, wenn wir erkennen wollen, gleichviel welchen Streich uns die subjektiven Unzulänglichkeiten spielen. In welche Schwierigkeiten wir geraten, wenn wir die höchstmögliche Stufe erklimmen wollen, zeigen die berühmten „Axiome“ der Mathematik, die uns einmal als ewige Wahrheiten erschienen und dann doch problematisiert werden mussten. Wir wissen hier noch nicht, wohin der Weg führt und wie weit wir ihn gehen können.

c. Ich habe gerade das Wort „rätselhaft“ für das Phänomen der Stimmigkeit gebraucht. Der Grund ist, dass wir eine ganze Reihe von Begriffen derselben Art nachweisen können, die uns in Verlegenheit bringen. Ihr „rätselhaftes“ Charakteristikum ist die eigentümliche Tatsache, dass sie keine Merkmale der raumzeitlichen Sinneswelt an sich tragen, also den Eindruck erwecken, als seien sie Offenbarungsformen einer überirdischen Welt. Wir werden viele solcher Begriffe kennenlernen, die ihrem Wesen nach den Charakter des Über-Sinnlichen tragen und so miteinander verbunden werden können, dass eine Sphäre der Idealität entsteht, in die wir uns nur schwer einleben können. Gelingt das aber dennoch, dann sind wir versucht, diese erdfernen Resultate unseres Denkens, diese scheinbar bezuglosen „Quasi-Gegenstände“ als Fiktionen, Phantasmagorien oder subjektive Irrlichter zu bezeichnen, mit denen man alles und nichts machen kann. Wir wollen diese spezielle Art der Gedankenbildung das „reine Denken“ nennen, wie das allgemein üblich ist. Sie wissen, dass es seinen bedeutsamsten Ausdruck in den Philosophien des Parmenides und des Plato fand und schließlich in der „Logik“ Hegels seinen Höhepunkt erreichte. Am subtilsten tritt es in Erscheinung, wenn sich das Denken auf sich selbst richtet und damit alle sinnlichen Elemente ausschließt. Aber hier treten nun die Schwierigkeiten auf. Wie sollte es möglich sein, dass sich das Denken selbst ergreift und erkennt? Wir wissen ja längst, dass sich der Denkprozess nicht beobachten lässt. Eine Selbstbegegnung des Denkens kann nur in der Weise stattfinden, dass sich das „bestimmungslose Denken“ mit seinen selbstproduzierten Resultaten auseinandersetzt. Nun spricht Rudolf Steiner in seinen Büchern und Vorträgen sehr häufig von der „Anschauung des Denkens“ als einer erreichbaren Fähigkeit des Menschen, die über das bloß theoretisierende „Denken über das Denken“ weit hinausreicht. Der Begriff der „Anschauung“ kann aber nicht vom Begriff der „Beobachtung“ getrennt werden - ganz zu schweigen von dem Umstand, dass heute jede Form der Anschaulichkeit erkenntnistheoretisch verdächtig ist. Hier scheint also ein Widerspruch vorzuliegen. In Wahrheit haben wir dieses Problem schon weitgehend gelöst. Wenn die objektivierte Gegenüberstellung der selbstproduzierten Begriffe eintritt, dann beschäftigt sich zwar, wie wir wissen, das bestimmungslose Denken mit seinen eigenen Geschöpfen, aber unser Ich erlebt nun gewiss nicht den vorausgegangenen Denkprozess, sondern das Zusammenwirken der Begriffe in der geschilderten Weise: es nimmt im begrifflichen Spiel und Widerspiel den evidentiellen Charakter des Denkens wahr, der niemals aus der Betrachtung des einzelnen Begriffs hervorgehen kann. Wir machen eine übersinnliche und überbegriffliche Erfahrung, ohne die wir keine einzige Begriffsverbindung oder gedankliche Synthese jemals anerkennen könnten. Das ist der entscheidende abschließende Vorgang, der überhaupt erst das Denken zum Denken macht, wie wir es immer erfahren. Wer das nicht einsehen will, wer im logischen Positivismus stecken bleibt, hat auf genaue Beobachtungen verzichtet, verliert sich in abstrakten Logifizierungen und sitzt in einer selbstfabrizierten Falle. Er versäumt es, zumeist in hochmütiger Form, die genannte Erfahrung zu machen und dem bestimmungslosen Denken zur weiteren Verarbeitung zu unterbreiten (Denkbeobachtung). Wer den von uns vorgeschlagenen Weg geht, lebt sich nach und nach in das sog. „reine Denken“ ein, also in jenes Element, in dem sich überhaupt erst der so schwierige Begriff der Wahrheit sachgemäß behandeln lässt. Unsere evidentielle Erfahrung geht über alle spezifischen Kogitate hinaus und ergreift eine Realität, von deren Gnaden jeder einzelne Gedanke erst zum Gedanken wird. Wenn ich „Realität“ sage, dann konstruiere ich natürlich keine platonistische Hypostase, kein geistiges „Ding“, das irgendwo schwebt, sondern beschreibe eine Wahrnehmung, von der wir hier noch gar nicht wissen, in welchen ontologischen Zusammenhang sie gehört. Es ist ja die empirisch-aktologische Methode, die wir benützen und mit deren Hilfe wir lediglich feststellen, dass wir bei genauem Hinblick auf eine Phänomen stoßen, das unsere gesamte Ich-Organisation realiter bestimmt, also gar nichts mit subjektiven Phantasmagorien zu tun hat, sondern im selben Sinne wirklich ist wie Gestirne, Menschen, Tiere und Steine. Über den Begriff der „Realität“ werden wir noch ausführlich zu sprechen haben. Jetzt müssen wir aber eine interessante Schlussfolgerung ziehen, die Sie wohl schon selbst in Gedanken vorweggenommen haben: „Evidenz“ und „bestimmungsloses Denken“ sind in auffälliger Weise aufeinander bezogen. Beide stehen über allen ihren Begriffen und Kogitaten. Wir werden ausfindig machen müssen, ob sich eine einsehbare Beziehung herstellen lässt, mit der wir arbeiten können. Jedenfalls berühren sich hier Erkenntnistheorie und Psychologie in unmittelbarer Weise, d.h. wir stoßen auf ein Drittes, auf das früher erwähnte sog. „Junktim“, das Rudolf Steiner als erster erkannt hat, ohne es so zu benennen. Er spricht von der „Anschauung des Denkens“ und meint genau diesen Sachverhalt. Manchmal spricht er auch von der „Wahrheitswelt“, in der wir unmittelbar leben, ohne auf metaphysische Spekulationen oder logifizierende Formalismen angewiesen zu sein. Allein das „reine Denken“, das hier seine höchste Stufe erreicht, kann uns in die Sphäre der Wahrheit führen, aber in einer Weise, die Sie zunächst nicht ganz befriedigen dürfte.

d. Nach diesen Vorbereitungen können wir uns der Absolutheit des Denkens zuwenden. Als Einstieg möge uns der folgende Text aus der „Philosophie der Freiheit“ dienen:

„Insofern der Mensch einen Gegenstand beobachtet, erscheint ihm dieser als gegeben, insofern er denkt, erscheint er sich selbst als tätig. Er betrachtet den Gegenstand als Objekt, sich selbst als das denkende Subjekt. Weil er sein Denken auf die Beobachtung richtet, hat er Bewusstsein von den Objekten; weil er sein Denken auf sich richtet, hat er Bewusstsein seiner selbst oder Selbstbewusstsein. Das menschliche Bewusstsein muss notwendig zugleich Selbstbewusstsein sein, weil es denkendes Bewusstsein ist. Denn wenn das Denken den Blick auf seine eigene Tätigkeit richtet, dann hat es seine ureigene Wesenheit, also sein Subjekt, als Objekt zum Gegenstande. Nun darf aber nicht übersehen werden, dass wir uns nur mit Hilfe des Denkens als Subjekt bestimmen und uns den Objekten entgegensetzen können. Deshalb darf das Denken niemals als eine bloß subjektive Tätigkeit aufgefasst werden. Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt. Es bildet diese beiden Begriffe ebenso wie alle anderen. Wenn wir als denkendes Subjekt also den Begriff auf ein Objekt beziehen, so dürfen wir diese Beziehung nicht als etwas bloß Subjektives auffassen. Nicht das Subjekt ist es, welches die Beziehung herbeiführt, sondern das Denken. Das Subjekt denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist; sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag. Die Tätigkeit, die der Mensch als denkendes Wesen ausübt, ist also keine bloß subjektive, sondern eine solche, die weder subjektiv noch objektiv ist, eine über diese beiden Begriffe hinausgehende. Ich darf niemals sagen, dass mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden. Das Denken ist somit ein Element, das mich über mein Selbst hinausführt und mit den Objekten verbindet. Aber es trennt mich zugleich von ihnen, indem es mich ihnen als Subjekt gegenüberstellt.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 59f.)

So weit der aufschlussreiche Text. Es soll uns also klargemacht werden, dass wir im Denken ein Element kennenlernen, das in die Sphäre des Überpersönlichen führt und uns dennoch einschließt und bestimmt. Und tatsächlich geschieht nichts ohne dieses Element: wir wüssten nichts von unserem Ich, nichts von unserem Fühlen und Wollen, wir könnten unser Leben nicht lenken und leiten, wir müssten auf alle Wissenschaft verzichten und mehr oder weniger animalisch vegetieren - es sei denn, dass unsere Instinkte vergeistigt wären und diesem Marionettendasein einen ideellen Inhalt geben könnten, der uns aber nicht bewusst würde. So zum Beispiel erleben wir zwar unser Ich in der harten Auseinandersetzung mit dem Widerstand der Welt, aber nur als allgemeines Ichgefühl, indessen das wache Ichbewusstsein nur aus dem Denken kommt: wir müssen uns erst den Begriff vom Ich bilden, bevor wir von ihm wissen können. Deshalb sind alle philosophischen Richtungen, die das Denken auf irgendeine Weise aus einem transzendentalen Ego hervorgehen lassen wollen, im vorhinein verfehlt. Es gibt kein Über-Ich, das Begriffe und Begriffsrelationen gebiert, aber es gibt vielleicht Ich-Strukturen, die vom Denken beleuchtet und aufgegriffen werden können. Uns geht es auf höherer Ebene genau so wie unserer philosophisch unbedarften Hausfrau mit ihrer unerbittlichen Bilanz: wir müssen uns fügen, ob es uns passt oder nicht. Leider sind wir von den materiologischen Tendenzen unseres Zeitgeistes so hoffnungslos überformt, dass wir gerne dem Glauben huldigen, alles das sei subjektiv, was in unsere Haut eingeschlossen ist. Viele suchen heute einen materiellen Platz, auf dem sich die Begriffe tummeln, aber es gibt keinen solchen Platz, das Denken kann nicht raumzeitlich geortet werden, es ist überall und nirgends, es bestimmt das Einzelne und das Ganze, den Menschen und die Welt - und sich selbst in negativer Abgrenzung, wie wir bereits festgestellt haben. Mit anderen Worten: wir erkennen die unendliche Universalität dieses in jeder Hinsicht überspezifischen Elementes, das sein Inkognito niemals aufhebt, aber alle Kogitate hervorbringt, mit denen wir leben können und müssen. Diese Universalität ist die erste sichere, unentrinnbare, aber auch undefinierbare Kategorie des Denkens, natürlich nicht in Kantischem Sinne, obwohl die begrifflich-sprachliche Ausdrucksweise zu dieser Auffassung verleiten kann.

e. Wir können gleich eine weitere „Kategorie“ hinzufügen, von der man annehmen müsste, dass sie sofort verstanden wird. Aber das ist leider nicht der Fall. Ich meine das evidente Phänomen der Unableitbarkeit des Denkens. Ich habe bereits erwähnt, wie sehr das materiologisch orientierte Bewusstsein der beiden letzten Jahrhunderte alles daran gesetzt hat, das Denken als Sekundärphänomen zu begreifen und aus den angeblich primären Naturprozessen abzuleiten, besonders aus den Gehirnvorgängen, um die wissenschaftlich scheinbar notwendige „Reduktion“ auf die allein erkennbare Realität, d.h. auf die physikochemischen Substanzen dieser Welt zu Ende zu bringen. Alles, was wir in halbmythischer Sprache als Geist, Seele, Trieb und Liebe und auch als Denken bezeichnen, ist nach dieser Theorie eine Spezialform materieller Zustände, deren genaue Kenntnis uns dereinst dazu veranlassen dürfte, die genannten halbmythischen Begriffe in der formalisierten Sprache der Naturwissenschaft auszudrücken. Man geht von etwas aus, das es in dieser Form überhaupt nicht gibt, wie bereits die Tatsache bezeugt, dass der Substanzbegriff ins Wanken geraten ist: das Reden von „Materie“ und „Stoff“ verliert immer mehr seinen Sinn. Dieses veraltete Denken, das den Zeitgeist bestimmt, ist so sinnreich wie der Versuch, den Uhrmacher aus der Uhr, den Kraftfahrer aus dem Automobil und die Liebe aus den Hormonen abzuleiten. Aber diese Argumentation brauchen wir im Augenblick noch nicht auszuführen. Unsere bisherigen Überlegungen weisen nach, dass die sog. „Naturprozesse“ Ergebnisse des Denkens sind, also Kogitate, in denen die Natur zu dem wird, als was wir sie vor uns haben. Das denkende Betrachten aller Vorgänge, die uns gegenübertreten, unterliegt der intermittierenden Denkbeobachtung, die es immer mit Begriff und Wahrnehmung zugleich zu tun hat. Das Denken ist die ableitende Tätigkeit selbst und kann deshalb nicht abgeleitet werden. Weder aus materiellen Stoffen, noch aus der Allmacht Gottes, wenn wir es nicht aufheben wollen. Jede Reduktion auf ein Etwas außerhalb des Denkens ist selbst ein Produkt dieses Denkens und deshalb unsinnig, ist ein mythischer Glaube, der mit Wissenschaft nichts zu tun hat. Es ist sehr schwer, gegen festgefahrene, dogmatisierte Zeitevidenzen, wie ich mich ausdrücken will, zu argumentieren, denn diese Zeitevidenzen sind nichts anderes als die jeweiligen Anschauungsformen jeweiliger Zeitalter, scheinbare Grunderkenntnisse, die unbezweifelbar sind und als evident genommen werden. Man kann sie in allen vergangenen und heutigen Kulturen nachweisen. Die heutige Zeitevidenz betrachtet die materiellen Stoffe als die einzige Realität, und zwar mit gefühlsmäßiger Selbstverständlichkeit, indessen alles, was mit „geistigen“ Phänomenen zu tun hat, nicht mehr als Wirklichkeit empfunden wird. Die Wahrheit dürfte sein, dass sich unser Realitätserlebnis im Laufe der Zeit unmerklich, fast ohne erkennbare Übergänge, aber sehr intensiv verschoben hat. Im alten Indien waren gerade die inneren (spirituellen) Erlebnisse unwiderlegbare Realität, die materiellen Erscheinungen aber bloßer Schein, „Maja“. Wir werden beide Anschauungen in Frage stellen müssen, wenn wir wissenschaftlich einwandfrei vorgehen wollen. Was der denkende Mensch allzeit in Angriff nehmen muss, besonders heute, das ist die unnachsichtige Hinterfragung und Überwindung der dogmatisierenden Zeitevidenzen. Dazu gehört auch die genaue Überprüfung des unzulässig überzogenen Ableitungsprinzips, das zweifellos seinen berechtigten Platz in der Methodik der Naturwissenschaft besitzt, vor allem im Hinblick auf die spezifischen Kogitate, aber ganz und gar nicht in der Gestalt des reflexiven Zirkels der Ableitung der ableitenden Tätigkeit selbst. Dieser unhaltbare Zirkelschluss, das sei nebenbei bemerkt, darf nicht mit der „epistemologischen Zirkularität“, die wir bereits erwähnt haben, verwechselt werden. Halten wir also fest: nur die spezifischen Kogitate sind, in noch anzugebender Weise, ableitbar, indessen das übergeordnete Denken ganz auf sich selbst beruht. Welche Rolle dabei den Gehirnprozessen zukommen kann, darüber werden wir noch reden müssen.

f. Vielleicht konnten Sie schon feststellen, dass wir mit unseren Formulierungen immer dasselbe erfahrbare Phänomen zu umkreisen versuchen, um ihm verschiedene Seiten abzugewinnen. Alles, was wir mit Einschränkung die „Kategorien“ des Denkens nennen können, also die beschriebenen Hauptbegriffe wie „Harmonie“, „Evidenz“, „Einheit“, „Universalität“, „Unableitbarkeit“, „Allgemeinheit“ und wahrscheinlich noch andere mehr, wenn wir weitersuchen würden: sie alle lassen sich in einem einzigen Kernbegriff zusammenfassen, der trotz seiner Umständlichkeit vorteilhaft sein dürfte - ich meine den Ausdruck „Selbsttragekraft des Denkens“. Alles und jedes, mit Ausnahme des Denkens, bedarf einer tragenden „Stütze“ (um ein Wort Rudolf Steiners zu gebrauchen) durch etwas, das es nicht selbst ist; kein Ding ist aus sich selbst erklärbar, und jede Erklärung entsteht aus einer anderen; aber was alle Erklärungen gemeinsam haben, das ist allein die evidentielle Selbsttragekraft des Denkens, die mit ihrer Universalität und Unableitbarkeit alles stützt, was sich nicht selbst stützen kann. Rudolf Steiner nennt dieses Grundprinzip eine „absolute Kraft“. Wir lesen bei ihm:

„In dem Denken haben wir das Element gegeben, das unsere besondere Individualität mit dem Kosmos zu einem Ganzen zusammenschließt. Indem wir empfinden und fühlen (auch wahrnehmen), sind wir einzelne, indem wir denken, sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt. Dies ist der tiefere Grund unserer Doppelnatur: Wir sehen in uns eine schlechthin absolute Kraft zum Dasein kommen, eine Kraft, die universell ist, aber wir lernen sie nicht bei ihrem Ausströmen aus dem Zentrum der Welt kennen, sondern in einem Punkte der Peripherie. Wäre das erstere der Fall, dann wüssten wir in dem Augenblicke, in dem wir zum Bewusstsein kommen, das ganze Welträtsel. Da wir aber in einem Punkte der Peripherie stehen und unser eigenes Dasein in bestimmte Grenzen eingeschlossen finden, müssen wir das außerhalb unseres eigenen Wesens gelegene Gebiet mit Hilfe des aus dem allgemeinen Weltendaseins in uns hereinragenden Denkens kennen lernen.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 91)

Damit ist allerdings schon etwas mehr gesagt, als wir bisher haben vorbringen können. Die zitierten Überlegungen mögen uns zum Wahrheitsbegriff hinüberleiten, denn was wir die Selbsttragekraft des Denkens genannt haben, gehört der „Wahrheitswelt“ an.

Damit sind wir beim reinsten Begriff des „reinen Denkens“ angekommen, bei einem Begriff, der so rätselhaft vor uns steht, dass wir nicht wissen, wie wir ihn unterbringen sollen. Keine einzige Erscheinungsform der allseitig bedingten Wirklichkeit, ob in der Innen- oder Außenwelt, gibt auch nur den geringsten Anstoß, diesen Begriff aller Begriffe zu bilden. Da wir ihn dennoch hervorbringen, muss eine Erfahrung vorliegen, die auf empirischem Wege zustande kommt und doch über alles Raumzeitliche hinausgeht - ich meine den Begriff des Absoluten, der mit dem Wahrheitsbegriff identisch ist. Die praktische Welt kennt kein Absolutum, weder in den Sinneswahrnehmungen, in den psychischen Abläufen noch in den spezifischen Kogitaten. Und wenn ein Zeitgenosse (es gibt deren viele!) entschlossen auftritt, um uns mit seinem erfundenen Absolutum in eine bessere Welt zu führen, dann ist höchste Vorsicht am Platz: er will uns betrügen, nachdem er sich vorher selbst betrogen hat. Und trotzdem leben wir unentrinnbar, immer und überall im Element des Absoluten, in der bestimmungsfreien Selbsttragekraft des universellen Denkens, in einem Etwas, das keine Hypostase ist, sondern alle qualitativen Kriterien einer Realität besitzt: es lebt und arbeitet im täglichen Denken, ohne dass wir es merken, es stammt aus der Erfahrung, ohne ein Gegenstand zu sein, es ist logisch verifizierbar, indem es alle logischen Gesetze bestimmt, es behauptet sich allein durch sich selbst und ist doch aktologisch anwendbar. Mit einem Satz: das Denken ist ein Absolutum, begreift sich als solches und hat unmittelbar konkrete Auswirkungen im praktischen Leben des Menschen. Die Verwandtschaft mit dem, was wir Wahrheit nennen, liegt auf der Hand. Wir machen eine „übersinnliche“ Erfahrung, die unsere Zeitevidenz verbieten möchte, obwohl wir ohne sie nicht denken und handeln könnten. Aber, so werden Sie sagen, wenn dem so ist, dann besteht trotzdem keine Hoffnung, jemals den Inhalt der Wahrheit zu finden. Es sieht tatsächlich so aus. Ich kann Ihnen keine inhaltlichen Kogitate der absoluten Wahrheit vermitteln, obwohl ich - im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ - kein rein formales Prinzip aufstelle, sondern von einer empirisch erfahrbaren Wirklichkeit spreche Dennoch: Ihre pessimistische Auffassung hat einen konkreten Sinn. Wir werden sehen, dass dieser Zustand selbst ein Element der Wahrheit ist, das uns wieder Hoffnung geben kann. Bis dahin müssen Sie noch viel Geduld aufbringen.

Die Philosophie des Denkens

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