Читать книгу JOHN ETTER - Stummer Schrei - John Etter - Страница 10
Kapitel 7
ОглавлениеWährend John auf dem Parkplatz stand und eine Zigarette rauchte, suchte er Ninas Nummer aus dem Speicher. Sie meldete sich sofort. Rasch erklärte er ihr, worum er sie bitten wollte. Ohne zu zögern, versprach sie ihm, Selina zu besuchen.
„Und dann möchte ich dich um noch etwas bitten. Könnten wir uns gleich beim Möbelcenter treffen?“ Hier klang seine Stimme nicht mehr so sicher wie zuvor. Ninas glockenhelles Lachen erklang, doch sie versprach in einer Stunde da zu sein, ohne große Fragen zu stellen, obwohl sie neugierig sein musste. Diese Unkompliziertheit schätzte John an der Frau seines besten Freundes. Er deutete an, ihre Hilfe zu brauchen, und sie war da. Der nächste Anruf galt Susanne.
„Hallo meine Lieblingssekretärin, hast du schon ein paar Infos für mich?“ Lachend verneinte sie, fragte ihn aber, was der Grund für seine gute Laune war.
„Wir haben Lea gefunden und so wie es aussieht, ist sie unversehrt.“ Er hörte ein erleichtertes Seufzen. Ihm ging es genauso.
„Gut Susanne, ruf mich an, sobald du was hast. Ansonsten, ich melde mich später bei dir.“
Bevor er den letzten Anruf tätigte, atmete er noch einmal tief durch. Er meinte, Bruno spotten zu hören, dass er sich problemlos in jede Schlägerei eingemischt hatte, jetzt aber Angst vor einem simplen Anruf hatte. Wobei, vor dem Anruf an sich hatte er keine Angst. Er hatte schon einige Male mit dem Jugendamt zu tun gehabt. Vielmehr hatte er Bedenken, dass man es ablehnen könnte, dass er sich um Lea kümmerte, wenn man überlegte, Selina das Kind zu nehmen. Nun wurde am anderen Ende abgenommen. Eine warme Frauenstimme meldete sich. John stellte sich vor und beschrieb den Sachverhalt. Sie ließ ihn sprechen und war selbst dann noch still, nachdem er schon schwieg.
„Entschuldigung, aber sind Sie noch dran?“
Sie bejahte, erklärte aber auch, dass sie einen Moment brauchen würde, um das eben gehörte zu verarbeiten. John wunderte sich, die Jugendamtsmitarbeiter, die er bislang kennengelernt hatte, waren nicht so sensibel. Nach einigen Augenblicken, die John genutzt hatte, um sich noch eine Zigarette anzuzünden, versprach sie ihm, so bald wie möglich vorbei zu kommen, um eine Lösung für Selina und ihre Tochter Lea zu finden.
„Ich hätte den Vorschlag, dass die beiden vorerst bei mir wohnen können. Ich lebe alleine in einem großen Haus.“ Sein Herz raste, während er auf die Antwort wartete. Die Worte waren mit Bedacht gewählt.
„Ich habe vor, auf jeden Fall zwei Gästezimmer für die beiden herzurichten. Ich habe Selina auch schon gefragt, ob sie einverstanden wäre und sie ist es.“
Die junge Frau am anderen Ende seufzte leise, versprach ihm aber, am nächsten Tag bei ihm vorbei zu kommen, um sich die Räumlichkeiten anzusehen und die Möglichkeiten zu besprechen. John bedankte sich, legte auf und machte sich auf den Weg zum Möbelcenter. Er freute sich schon darauf, eines der kargen Gästezimmer, die nie genutzt wurden, in ein hübsches Kinderzimmer zu verwandeln.
Obwohl er pünktlich war, wartete Nina Bär, eine etwas mollige Frau von Mitte dreißig mit einem schwarz gefärbten Pferdeschwanz, bereits auf ihn. Sie umarmte ihn und drückte ihm einen herzlichen Kuss auf die Wange, wofür sie sich ganz schön strecken musste, obwohl er sich ein Stück zu ihr hinabbeugte. Er sog ihr süßliches Parfum ein. Manchmal beneidete er seinen besten Freund um diese fröhliche, unkomplizierte Frau, die zudem auch noch sehr warmherzig war. Aber seit Kurzem war er ja mit Alina verbandelt. Endlich mal, wie Bär meinte. Es war für ihn immer noch neu, fühlte sich aber richtig an. Kurz ging ihm der Gedanke durch den Kopf, was Alina wohl dazu sagen würde. Aber für ihn war es wichtig, dass Selina und Lea es gut haben würden. Alina würde es verstehen.
„Na, willst du dich neu einrichten und brauchst eine Dekoexpertin?“ Jetzt war Nina nicht länger bereit, ihre Neugierde zu zügeln.
„Ich werde Selina und Lea bei mir aufnehmen, wenn die Sachbearbeiterin vom Jugendamt nicht noch etwas findet, was dagegen spricht.“
„Das ist lieb von dir. Bei dir kommen die beiden zur Ruhe. Aber so kenne ich dich ja. Der gut aussehende Riese, der zwar einschüchternd wirkt, aber ein großes Herz hat.“
„Ach Nina, lass mal! Es ist mir halt ein Bedürfnis zu helfen. Und Selina ist ein zu lösendes Rätsel“, winkte John ab.
„Und warum sollte ich jetzt mitkommen? Tragen helfe ich dir nicht und zum Renovieren und Möbelaufbauen bin ich auch nicht geschaffen.“
„Du sollst mich nur beraten. Ich will, dass sich die beiden bei mir wohl fühlen. Ein Kinderzimmer bekäme ich bestimmt eingerichtet, aber ein Zimmer für eine junge Frau … “, hier stockte er.
„Na dann komm! Ich hoffe, du hast genug Geld mit. Hübsche Möbel sind teuer.“
„Reicht das?“ Er zückte seine Kreditkarte. Nina nickte. Sie war eine der wenigen, die wussten, wie gut er finanziell gestellt war. Seine Detektei lief, dank vieler unabhängiger Ermittler, die er einsetzten konnte, besser, als es von außen aussah und er war schon von Haus aus mit ansehnlich Geld gesegnet. Sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn durch die Gänge.
Sie hatten so viel Spaß, dass John sie noch bat, ihm beim Aussuchen einiger Kleidungsstücke für die beiden zu helfen, während er die Möbelteile in einem gemieteten Transporter verstaute.
„Meinst du nicht, dass es besser wäre, zumindest Selina ihre Sachen selber aussuchen zu lassen? Nur schon der Größe wegen?“
„Schon, aber momentan trägt sie ein Krankenhausnachthemd und die Sachen, die sie beim Unfall anhatte, waren voller Blutspritzer. Außerdem glaube ich, dass ihr neue Sachen ganz guttun würden.“
„Das schon, wie wäre es mit ein paar bequemen Jogginghosen und T-Shirts, die sie auch jetzt im Krankenhaus noch tragen könnte und später geht ihr zusammen auf Shoppingtour.“
„Wahrscheinlich wäre es ihr lieber, wenn eine Frau sie begleitet.“
„Dann werde ich das gerne machen. Ich werde sie ja jetzt von Staatswegen betreuen müssen, beziehungsweise in diesem Fall dürfen“.
„Wir stehen hier und schmieden Pläne, was alles passieren kann, dabei weiß ich noch nicht, ob sie überhaupt zu mir kommen wird.“
„Wenn nicht, braucht sie erst recht jemanden, der für sie da ist. Du kennst doch die Zustände in den Einrichtungen.“
„Natürlich werde ich für sie da sein, wenn sie mich brauchen. Aber ich stelle es mir auch wirklich schön vor, endlich wieder Leben im Haus zu haben.“
„Ich gönne es dir, aber mach dir keine Illusionen, es könnte chaotisch werden“, flüsterte Nina weich. Auch sein Seelenleben kannte sie als eine der Wenigen. Warum hätte der große Mann auch damit hausieren gehen sollen, dass er die Einsamkeit seines leeren Hauses manchmal nur schwer ertrug. Was nutzten ihm Haus und Geld, wo er keinen Menschen hatte, mit dem er es teilen konnte? Und ob diese Alina die Frau sein würde, die ihn für lange Zeit erhalten bleiben würde, stand in den Sternen. Sie wünschte es ihm auf alle Fälle.
„Na komm, ich lade dich auf einen Kaffee ein.“ John verstaute die Tüten mit der Kleidung im Kofferraum seines Wagens. Nina schüttelte den Kopf und nahm ihm seinen Schlüssel ab, so wie sie es zuvor schon besprochen hatten.
„Fahren wir zu dir. Wenn du morgen Besuch vom Jugendamt bekommst, musst du noch einiges tun. Ich zitiere Bruno zu dir. Wände streichen und Möbel schleppen werden ihm nach dieser Hausdurchsuchung ganz guttun.“ Sie zwinkerte ihm zu. John schloss sie in seine starken Arme.
„Du bist eine wunderbare Frau, und wenn du je genug von Bruno hast, würde ich mich um deine Gunst bemühen.“ Obwohl sein Ton scherzhaft klang, meinte er es bis zu einem gewissen Punkt ernst. Wenn sie nicht die Frau seines Freundes, und auch selber eine gute Freundin, wäre, hätte er bereits sein Glück bei einem Flirt versucht. Aber jetzt war Alina seine Zukunft – hoffte er auf alle Fälle.
„Du bist ein toller Kerl, John. Aber ich bin nicht die Frau, die du brauchst. Du brauchst eine Frau wie Alina.“ Nina war nicht auf seinen Ton eingegangen, sondern bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick.
Als John bei sich zu Hause ankam, stand ein ihm wohlbekannter Wagen bereits vor der Tür. Bruno lehnte daran und hatte auch schon die Ärmel seines Hemdes hochgerollt. Wortlos nickte John seinem Freund zu und gemeinsam räumten sie zuerst die beiden Gästezimmer aus. Die wenigen Möbel schleppten sie hinunter in den Keller. Rasch waren sie damit fertig, sodass sie sich ans Malen machen konnte. Das Zimmer, das John für Lea vorgesehen hatte, wurde mit einer bunten Tapete mit Tiermotiven versehen. Nina stellte sich in der Zeit in die Küche, um den beiden einige Leckereien zu kochen. Sie lächelte in sich hinein. Es gefiel ihr, wie John reagierte. Nun hoffte sie nur noch, dass Selina diesen Aufwand wert war. Es tat ihr weh, dass gerade er, der freundlich, sensibel und dennoch humorvoll war, zu einem Leben in Einsamkeit verdammt war, seit seine ehemalige Partnerin Nicole ihn verlassen hatte.
Sie selber hatte diese Frau nie gemocht. Und dass sie John vor Jahren, als es ihm nicht gut gegangen war, verlassen hatte, hatte sie ihr bis heute nicht verzeihen können. Nina Bär erinnerte sich noch gut an die Zeit, als John zurück in sein Elternhaus gezogen war und seinen Beruf aufgegeben hatte, um seiner Mutter bei der Pflege des Vaters zu helfen. Eine fremde Person hätte der nach einem Schlaganfall schwierige Mann nicht akzeptiert, obwohl Geld für Pflegepersonal vorhanden war. Nach dem Tod des Mannes hatte auch Marianne Etter nicht mehr lange gelebt. Innerhalb weniger Wochen hatte John vor zwei Jahren beide Elternteile, mit denen er sich immer gut verstanden hatte, verloren. Seit damals kam auch niemand mehr an ihn heran. Oft genug hatte sie ihm vorgeschlagen, sich auszusprechen. Er hatte es immer wieder abgelehnt, nur erwähnt, dass er sich manchmal alleine fühlte in dem Haus, das er geerbt hatte. Doch die passende Frau, um seine verletzte Seele zu heilen, hatte er noch nicht finden können. Dabei wünschte er sich eine Familie. Das wusste Nina nur zu gut. Sie sah die Sehnsucht in seinen Augen, wenn er mit ihrem und Brunos Sohn spielte.
Vielleicht war eine verletzte junge Frau mit Kind, genau die richtige Ablenkung für ihn. Nina wünschte es ihm von Herzen. Sie schüttelte die Gedanken ab und rief die beiden zum Essen.
„Und, wie weit seid ihr schon?“
„Wir sind schon dabei, die Möbel in Leas Zimmer aufzubauen. Wenn wir damit fertig sind, müsste die Farbe in Selinas Zimmer trocken sein, sodass wir den Teppich legen können.“ Ihr Mann antwortete, während John vor sich hinstarrte. Nina ignorierte es, sie kannte dieses Verhalten von ihm schon gut genug.
„Das klingt doch toll.“
„Ja, aber es gibt bis morgen noch genug zu tun“, brummelte John jetzt.
„Na komm, es muss nicht perfekt sein, das wird die Sachbearbeiterin wohl nicht verlangen. Und wir werden die perfekten Unterstützer für das Vorhaben sein. Du wirst es nicht alleine durchführen müssen.“
„Je besser es ist, umso größer sind meine Chancen, Bruno. Nina, würdest du dann gleich Leas Zimmer ein bisschen hübsch dekorieren, die Bücher einräumen und so?“
„Klar! Ich komme morgen früh auch gerne noch mal vorbei und helfe dir bei den letzten Handgriffen.“ Sie streckte die Hand aus und legte sie auf den Arm ihres guten Freundes.
„Das klingt genau nach dem, was ich brauchen werde. Wenn ihr aber nach Hause müsst, wegen dem Kleinen, kann ich das verstehen.“
„Mark ist bei seiner Großmutter. Die freut sich, wenn er bei ihr schlafen darf, weil wir das nicht so oft machen“, erklärte Nina mit einem Lächeln.
„Hab ich euch eigentlich schon mal gesagt, was ihr für tolle Freunde seid?“
„Hör jetzt mal mit diesem Sentimentalgedusel auf, John. Dafür sind Freunde doch da. Und jetzt los, ich will vor Mitternacht fertig werden.“
Kurz vor Mitternacht verabschiedete sich das Ehepaar Bär. Während Nina ihn umarmte, klopfte Bruno ihm auf den Rücken. John ging jetzt noch einmal durch alle Räume. Der Geruch nach frischer Farbe zog nun durchs gesamte Haus. Er versuchte es mit den Blicken einer Fremden zu sehen. Hier und da könnte man mit Sicherheit Verbesserungen durchführen. Doch vielleicht würde Selina das machen. Sie sollte sich hier ja auch wohl fühlen. John gähnte. Er stellte sich noch schnell den Wecker auf halb sechs, denn ein paar Kleinigkeiten wollte er noch verbessern, bevor er der Sachbearbeiterin des Jugendamtes die Räume zeigte, dann legte er sich hin. Und obwohl er nervös war, konnte er heute schnell einschlafen. Die Arbeiten in den Räumen hatten ihm eine angenehme Bettschwere verschafft.
John war noch vor dem Weckerklingeln wach. Heute fiel ihm auch das Aufstehen nicht schwer. Er kochte sich Kaffee. Noch immer hing der Farbgeruch in den Räumen, daher riss er alle Fenster auf und sog die frische Morgenluft tief in die Lunge ein. Seine Laune war noch immer überraschend gut. Nun ging er in das Zimmer, das nur noch auf Leas Einzug wartete. Nina hatte an alles gedacht. Sogar ein Kuschelteddy saß auf dem Bett. John streichelte über das Stofftier. Er entschied sich dafür, es nachher mit ins Krankenhaus zu nehmen. Genau wie einige Bücher. Er erinnerte sich daran, dass auch in dem Verlies der beiden ein großes Bücherregal stand. Nun klingelte es an der Tür. Es war noch nicht einmal acht Uhr und trotzdem stand Nina vor ihm. Gut gelaunt wie immer, mit einer Tüte noch warmen Brötchen.
„Ich dachte mir, dass du mal wieder nur Kaffee gefrühstückt hast.“
„Du kennst mich, ich esse morgens nichts.“
„Daran wirst du dich aber gewöhnen müssen, wenn du jetzt ein Kind im Haus hast. Oder fast zwei. Selina wurde ihre Kindheit ja gestohlen und ich weiß noch nicht, wie sie wirklich ist.“ Aus Ninas Stimme konnte John heraushören, dass sie gar nicht daran dachte, dass Selina und Lea nicht bei ihm einziehen durfte.
„Ich wünschte, dass die Entscheidung bereits gefallen wäre.“
„Na komm, wir werden jetzt erst einmal was essen.“ Nina zog ihn mit sich in die Küche.
Nach dem Essen räumte sie noch das Geschirr in die Spülmaschine, die John nur selten benutzte. Meistens spülte er das wenige Geschirr, das er brauchte von Hand.
„Und, was sollen wir noch machen?“
„Wenn ich so darüber nachdenke, sind wir fertig. Es wäre aber toll, wenn du mir noch ein wenig Gesellschaft leisten würdest.“
„So nervös?“
„Ja! Am liebsten würde ich ja noch einmal anrufen und nachfragen, wann denn die Begutachtung stattfinden soll.“
„Ich kann dich gut verstehen, doch leider bringt es nicht viel, wenn du die Sachbearbeiterin deine Ungeduld spüren lässt. Und das mit dem nicht genau abgemachten Besuchstermin ist bereits der erste Test, ob du im Umgang mit Kindern flexibel genug bist.“
„Das ist mir klar, Nina. Aber ich will so bald wie möglich auch wieder zu Selina und ihrer Tochter.“
„Sie übt ja eine beinahe magische Anziehung auf dich aus.“ Wunderte sie sich. Noch nie zuvor hatte sie John so erlebt.
„Irgendwie ja. Ich vernachlässige sogar meine Arbeit. Aber ich kann mich auch auf nichts Weiteres konzentrieren, als auf Selina und Lea. Und im Büro hat Susanne sowieso alles im Griff.“
„Oh ja, das bestimmt. Ohne Susanne hättest du einige Probleme mehr am Hals. Die ist wirklich eine Perle. Ich wünsche dir auf alle Fälle alles Glück dieser Erde, mein Freund. Nur überstürze nichts. Selina ist über Jahre zu den Dingen gezwungen worden, die eigentlich schön sein sollten und du bis auch wieder ein Mann …“
„Ich werde ihr Zeit lassen. Und du bist die beste Hilfe, die zur Unterstützung auch noch da ist.“
„Das ist eine gute Einstellung, denn jetzt braucht sie einen Freund.“
Es klingelte. Eine junge Frau, nicht viel älter als Selina stand vor der Tür. Sie hielt ein Klemmbrett in der Hand.
„Guten Morgen! Anita Weber vom Jugendamt.“ Sie streckte ihm eine schmale Hand entgegen, deren Druck überraschend fest war.
„John Etter und das ist Nina Bär!“
„Ich bin die Psychologin, die sich um Selina und Lea kümmern wird.“
„Oh, für das Kind würden wir einen Psychologen bestellen. Wir haben da unsere eigenen Vorstellungen, von wem die Behandlung erfolgen soll.“ In Natura klang ihre Stimme nicht so sympathisch wie am Telefon.
„Ich bin auf Traumatherapie spezialisiert!“, mischte sich Nina mit einem hochnäsigen Ton, den John noch nicht kannte, ein.
„Ich dachte, das Kind wirkte unversehrt.“
„Wirken ja, doch es wird wohl nicht spurlos an Lea vorbeigegangen sein, dass sie immer eingesperrt war.“
„Wir werden sehen, was bestimmt wird“, lenkte Anita Weber ein.
„Jetzt will ich das Haus begutachten.“
„Ich fahre zu Selina. Wir sehen uns später, John!“ Nina zwinkerte ihm zu.
„Ja und falls du vor mir mit Bruno telefonierst, grüß ihn von mir.“
„Mach ich!“ Nach einem kurzen Blick zu Anita Weber verließ Nina das Haus.
„Am Telefon sagten Sie, dass Sie alleine leben.“
„Nina ist die Frau meines ehemaligen Partners bei der Polizei, Bruno Bär. Der ist im Übrigen der ermittelnde Beamte in dem Fall.“
„Es bleibt also alles in der Familie?“, fragte sie spitz. John atmete tief durch, das Gespräch schien schwieriger zu werden, als er dachte.
„Warum auch nicht? Ich habe mir Tipps bei Nina geholt, wie ich am besten mit Selina umgehe, wenn ich mit ihr spreche. Daher war sie schon in dem Fall drin. Warum soll sie sich dann nicht direkt um Selina und auch ihre Tochter Lea kümmern? Zumal sie einen fast gleichaltrigen Sohn hat, der für Lea zum Spielkameraden werden könnte.“ Wieder seufzte die Jugendamtsmitarbeiterin, wie schon am Tag zuvor am Telefon.
„Sie scheinen ja schon Pläne gemacht zu haben.“
„Wieder muss ich fragen, warum ich das nicht soll. Sowohl Selina als auch Lea brauchen Sozialkontakte.“
„Gut, da muss ich Ihnen recht geben.“ Während des Gespräches waren sie durch das Erdgeschoss gelaufen. Immer wieder hatte sich die Beamtin Notizen gemacht.
„Jetzt die oberen Räume!“ John ließ ihr auf der Treppe den Vortritt. Die erste Tür, die sie öffnete, führte in sein Arbeitszimmer. Hier war auch der einzige Raum des Hauses, in dem eine gewisse Unordnung herrschte. Und auch das schien sie zu notieren. John schluckte, am liebsten hätte er einen Blick auf die Aufzeichnungen geworfen. Die nächste Tür verbarg sein Schlafzimmer.
„Für wen ist dieser Raum gedacht?“
„Das ist mein Schlafzimmer, und bevor Sie meinen, sich hier genauer umsehen zu wollen, muss ich Ihnen sagen, dass wohl weder Selina, noch Lea diesen Raum je betreten werden.“ John konnte eine leichte Schärfe nicht verbergen.
„Sehen Sie mich bitte nicht als Feindin, Herr Etter. Ich arbeite noch nicht lange beim Jugendamt und dieser Fall ist sehr verstörend, da möchte ich nichts falsch machen.“
„Auch ich möchte im Bezug auf Selina und Lea nichts falsch machen.“
„Sie waren bei der Polizei, haben Sie noch Waffen hier?“ Wechselte sie abrupt das Thema.
„Ja, in einem Tresor in meinem Arbeitszimmer, der sowohl durch einen Schlüssel, als auch ein Zahlenschloss verriegelt ist.“
„Gut! Dann würde ich gerne die Räumlichkeiten sehen, die Sie für Selina und Lea herrichten wollen.“ Wieder hatte sie sich Notizen gemacht. John führte sie in den Raum, den er erst am vergangenen Abend in einem netten apricot gestrichen hatte. Dazu gab es luftige Gardinen und einen Schrank aus hellem Holz, der zu dem Himmelbett passte.
„Sie sagten doch, dass Sie die Gästezimmer herrichten wollen, aber jetzt …“, Anita Webers Stimme stockte. John lächelte.
„Ich habe es direkt gestern erledigt. Dies wäre Selinas Zimmer, wenn sie bei mir einziehen dürften. Und nun zu Leas Zimmer. Das liegt direkt gegenüber.“ Auch hier konnte er die Überraschung im Blick der Beamtin sehen.
„Gut, dann habe ich noch eine Frage.“
„Fragen Sie!“
„Sie sagten, dass Sie Privatdetektiv sind. Wie finanzieren Sie dieses Haus?“
„Ich habe es geerbt. Dazu kommt, dass ich immer sparsam gelebt habe und so Rücklagen schaffen konnte. Ich kann also gut eine Mutter mit einem Kind ernähren. Darauf zielte Ihre Frage doch ab, oder?“ Anita Weber schluckte.
„Nein, ich wunderte mich nur. Und ich frage mich, warum Sie aus dem Polizeidienst ausgeschieden sind.“ John seufzte. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet.
„Zuerst, um meiner Mutter bei der Pflege meines kranken Vaters zu helfen. Nach dem Tod der beiden wollte ich etwas anderes machen. Doch es zog mich zurück zur Ermittlungsarbeit.“
„Danke für Ihre Offenheit. Im Übrigen war bereits eine Entscheidung getroffen, bevor ich zum Hausbesuch kam. Mein Chef kennt Sie von früher und er ist der Meinung, dass Sie mit Ihrer ruhigen, besonnenen Art dazu beitragen können, das Trauma von Selina zu lösen. Wissen Sie inzwischen eigentlich, wie sie mit vollem Namen heißt?“ John schüttelte verwundert den Kopf.
„Noch nicht, aber meine Sekretärin arbeitet daran. Aber darf ich Sie auch etwas fragen?“
„Warum nicht.“ Nun schwang ein Lachen in ihrer Stimme mit, das John schon besser gefiel.
„Was haben Sie die ganze Zeit aufgeschrieben, wenn dieser Besuch nicht zur Begutachtung des Hauses und meiner Person diente?“
„Oh, ich habe mir schon Notizen über Sie gemacht. Es hätte ja sein können, dass der Eindruck, den Sie während Ihrer Arbeit hinterlassen hatten, falsch war. Aber ich muss sagen, dass ich angenehm überrascht bin. Wir werden uns bestimmt später noch bei Selina sehen, denn auch mit ihr muss ich sprechen und später wohl auch das Kind begutachten.“
Sie sprachen noch über seine neue Partnerschaft mit Alina, die später auch noch befragt werden würde. Dann verabschiedete sie sich. John setzte sich an den Küchentisch, nachdem er sie hinausbegleitet hatte. Erleichterung machte sich in ihm breit.