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Kapitel 9

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Ermittlungen November 2003. Hermann Röllin sah sich die ruhige Straße an. Der Tag war trüb, kalter Wind wehte und kein Mensch war auf der Straße. Ein ruhiger Wohnblock, wie so viele hier in der Gegend. Er blickte die graue Fassade hoch, bis zum zweiten Stock. Hier war ein Kind verschwunden. Schon morgens vor acht, aber erst jetzt, neun Stunden später war es aufgefallen. Röllin hatte kein Problem mit Familien, in denen beide Elternteile arbeiten mussten, aber er hasste es, wenn die Kinder dadurch so vernachlässigt wurden, dass ihr Verschwinden nicht kurzfristig auffiel. Er schüttelte den Gedanken ab. Wenn er gleich mit der Mutter sprach, durfte seine Abscheu nicht die Professionalität stören. Also ging er nach oben. Seine Kollegin Franziska Talmann wartete bereits. Auf einem Stuhl in der aufgeräumten Küche saß eine hübsch gestylte Frau, Typ Karrieretussi. Sie tupfte sich so die Augen, dass die Wimperntusche nicht verschmierte.

„Guten Tag, mein Name ist Röllin und ich arbeite für die Vermisstenstelle. Wann haben Sie ihre Tochter zuletzt gesehen?“

„Gestern Abend, als sie ins Bett ging. Heute musste ich früh zur Arbeit, da hat Selina noch geschlafen.“

„Haben Sie sich davon überzeugt?“

„Ja, ich habe noch schnell in ihr Zimmer gesehen, bevor ich zusammen mit meinem Mann weggegangen bin.“

„Wo ist Ihr Mann jetzt?“

„Auf dem Weg. Ich habe ihn eben angerufen.“

„Hätte Selina einen Grund gehabt, wegzulaufen?“

„Sie ist zehn Jahre alt, noch ein Kind. Warum sollte sie von zu Hause weg wollen?“

„Gibt es Probleme in der Schule, oder streiten Sie und ihr Mann sich häufiger?“

„Nein, es ist alles in Ordnung bei uns!“ Zu schnell war diese Antwort gekommen, zu abwehrend die Körpersprache der Frau.

„Wenn Selina nicht weggelaufen ist, wer könnte ihr dann etwas angetan haben?“

Franziska zog ihn aus der Wohnung. „Sag mal Hermann, spinnst du völlig?“

„Nein, aber diese Frau hat was zu verbergen. Merkst du es nicht? Bloß das Make-up nicht verschmieren beim Weinen und immer so sitzen, dass das teure Kostüm nicht knittert.“

„Ich verstehe dich, aber das da drin ist eine Mutter, die ihr Kind vermisst, keine potenzielle Täterin.“

„Es tut mir leid, ich sehe mich in Selinas Zimmer um. Befragst du die Mutter weiter?“

„Das wird besser sein. Und versuch dich zu entspannen.“

„Entspannen!“, zischte er, doch mehr sagte er nicht. Er ging in Selinas Kinderzimmer. Es war nett eingerichtet, hellrosa Wände, graue Möbel und ein Regal voller Stofftiere. Ein weiteres mit Büchern und ein wenig verstreutes Spielzeug. Hermann Röllin nannte es Kinderordnung. Chaotisch genug, um Spaß zu haben, ordentlich genug, um die Eltern nicht zu verärgern. Alles in allem wirkte der Raum gemütlich. Das versöhnte Röllin auch ein wenig mit den Eltern. Er öffnete die Schreibtischschublade. Oben auf lag ein Büchlein. Er schlug es auf, blätterte sich durch Poesiesprüche, die es schon zu seiner Schulzeit gegeben hatte. Dann folgte ein Fotoalbum. Die Bilder von Ausflügen waren ordentlich eingeklebt. Die Seiten schon ein wenig abgegriffen, so als hätte das Kind oft in diesen Erinnerungen geschwelgt. Und als Letztes kam ein Schulheft zum Vorschein. In krakeliger Kinderschrift war hier die Geschichte eines einsamen Kindes aufgeschrieben, dessen Eltern nie Zeit für es hatten. Röllin nahm das Heft mit in die Küche. Etwas Interessanteres hatte er nicht gefunden. Nun wollte er hören, was die Eltern dazu sagten.

Max Hächler stand nun hinter dem Stuhl seiner Frau.

„Warum sind sie nicht draußen und suchen meine Tochter?“, zischte er gerade, als Röllin den Raum betrat. Wut konnte der Ermittler verstehen und auch akzeptieren. Die Lethargie der Mutter war schwerer zu ertragen. Doch er sagte nichts, sondern legte das Heft auf den Tisch.

„Ihre Tochter hat eine Geschichte über ein vernachlässigtes Kind geschrieben, könnte sie sich so gefühlt haben?“ Er gab sich Mühe, seiner Stimme einen neutralen Klang zu geben.

„Seit Selina die Schule gewechselt hat, hat meine Frau mehr Stunden gearbeitet. Vielleicht hat sie sich manchmal allein gefühlt. Aber trotzdem würde sie nicht einfach weglaufen.“

„Wir werden jetzt Selinas üblichen Schulweg abgehen und dann mit ihren Freundinnen sprechen. Können Sie uns bitte die Adressen aufschreiben?“

„Ich hole Ihnen die Klassenliste.“ Viktoria Hächler sprang auf.

„Meine Frau macht sich Vorwürfe. Sie litt nach Selinas Geburt unter starken Depressionen und ging wieder Arbeiten, weil sie die Bestätigung braucht.“ Max Hächler hatte seine Stimme zu einem Flüstern gedämpft. Röllin nickte. Nun machte das seltsame Verhalten der Frau Sinn für ihn. Sie riss sich zusammen, um nicht zu zerbrechen.

„Sollen wir Ihnen psychologische Hilfe schicken?“

„Das ist sehr freundlich, aber ich kontaktiere meine Psychologin. Das ist mir lieber.“ Anscheinend hatte die wieder eingetretene Frau Hächler mitbekommen, dass die Beamten eingeweiht wurden.

„Ganz wie Sie meinen.“

„Ich habe Ihnen die Freunde meiner Tochter markiert. Aber ich hatte in letzter Zeit das Gefühl, dass sie sich von ihren Freundinnen distanziert hat. Zumindest kamen sie seltener hierher zu Besuch, als früher. Aber vielleicht war Selina öfter bei ihnen.“ Jetzt brach die Frau wirklich in Tränen aus.

„Wenn Selina weggelaufen ist, ist es meine Schuld. Sie musste doch gedacht haben, ich hätte sie nicht mehr so lieb, weil ich noch mehr arbeiten wollte.“ Ihr Mann nahm sie in den Arm und streichelte tröstend über ihren Rücken.

„Welchen Weg ist Selina denn immer zur Schule gegangen?“

„Die Abkürzung durch das Wäldchen. Obwohl wir es ihr verboten hatten, jetzt im Dunklen dahin zu gehen.“

„Danke für Ihre Mitarbeit. Ich werde mein Bestes tun, Ihre Tochter zu finden.“

Sie verließen mit mehreren aktuellen Fotos die Wohnung.

„Solche Versprechen solltest du lassen. Irgendwann wirst du eines nicht halten können.“ Franziska zündete sich eine Zigarette an, während sie die Straße entlang in Richtung des Waldweges gingen.

„Ich weiß. Aber was hätte ich sagen sollen?“

„Die Wahrheit! Es kann sein, dass das Mädchen weggelaufen ist, aber ebenso wahrscheinlich ist es, dass sie entführt wurde.“

„Das ist mir egal, wir müssen sie finden.“

„Das denke ich doch auch, aber du weißt, dass man Eltern nichts verspricht.“

„Verpetz mich doch, Franziska!“ Wütend stampfte Röllin weiter. Seine Kollegin seufzte und folgte ihm. Der Weg war schlammig und zig verschiedene Spuren vermischten sich im Taschenlampenschein. Röllin erinnerte sich an den Regen vom Mittag. Er schüttelte den Kopf. Hier eine Spur von Selina zu finden, würde ihren Technikern nicht gelingen. Er zückte sein Handy und wählte die erste Nummer auf der Klassenliste, während Franziska Talmann mit einer Taschenlampe bewaffnet den Weg bis zu seinem Ende abging. Doch sie konnte wirklich nichts entdecken, was überhaupt darauf hindeutete, dass Selina Hächler hier entlang gekommen war.

JOHN ETTER - Stummer Schrei

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