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Kapitel 2

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Juni 2013. John Etter nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und blickte sich um. Seine Tarnung war perfekt, ein Mann, der seine Mittagspause nutzte, den Sonnenschein zu genießen, bevor die Büroarbeit wieder rief. Am Nebentisch in der Bistro-Bar saß die Frau, die er beschattete. Wie schon die ganze letzte Woche über, während er sie beobachtete, tat sie nichts Auffälliges. Sie hatte eine Tasse Tee vor sich stehen und las. Wenn er den Titel richtig deutete, einen Liebesroman. An Tagen wie heute verfluchte er seinen Entschluss, sich mit einer Detektei selbstständig zu machen. Noch vor wenigen Jahren war er Kriminalkommissar gewesen. Man hatte ihm eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt und eine schnelle Karriere versprochen. Doch nun saß er hier und verbrachte seine Tage damit, untreue Ehepartner zu verfolgen und das alles nur, weil er meinte, den Anblick der Opfer nicht länger ertragen zu können. Abgesehen von seinem ehemaligen Partner und besten Freund, Bruno Bär, wusste niemand, wie sensibel der große Mann mit dem breiten Kreuz sein konnte.

Natürlich gab es ab und zu auch einen Fall zu lösen, der ihn herausforderte und je länger er Detektiv war, umso mehr suchte er die Herausforderung in schwierigeren Fällen.

Er trank noch einen Schluck Kaffee und zog das Handy aus der Tasche. Zumindest diese Frau hatte er entlasten können. Aber das hatte er ihrem Mann schon vor einigen Tagen mitteilen wollen, doch dieser hielt an seiner Behauptung fest, dass seine Frau ihn betrog. Nun, wenn sie es tat, so spielte sich alles nur in ihrer Fantasie ab, denn sie verbrachte ihre Mittagspausen immer alleine mit einem Buch und auch abends ging sie nicht aus, es sei denn, ihr Mann begleitete sie. Nun winkte sie den Kellner mit einem freundlichen Lächeln zu sich und zahlte. Ohne auf ihr Wechselgeld zu warten, obwohl sie mit einem Schein bezahlt hatte, stand sie auf. Sie schob die Sonnenbrille, die ihre langen dunklen Locken aus dem fein geschnittenen Gesicht gehalten hatte, auf die Nase und bummelte zurück zu dem Bürogebäude auf der anderen Straßenseite. Dort arbeitete sie am Empfang einer großen Anwaltskanzlei. Nun machte sich auch John zu Fuß auf den Rückweg. Er wusste ja, wann sie Feierabend hatte und wenn sie nicht gerade mit einem der Anwälte eine Affäre hatte, der sie während der Arbeitszeit frönte, würde sich für sie keine Gelegenheit zum Fremdgehen ergeben. Er konnte durch die großen Fensterscheiben in ihr Büro sehen und ihr vermuteter Chef sass ein Büro daneben. Nie gab es auch nur einen kleinsten Hinweis auf eine mögliche Affäre.

Weit war er noch nicht gekommen, als er quietschende Bremsen und einen lauten Schrei vernahm. John Etter lief in die Richtung und kam bei der großen, vierspurigen Kreuzung an, an der es schon mehrfach zu Unfällen gekommen war. Ein Mann lag am Boden, mehrere Meter entfernt stand ein Auto. Der Fahrer lehnte zitternd und blass an der Tür und stammelte leise vor sich hin. Ein unscheinbares Mädchen kniete beim Verletzten. Ihre Hände waren voller Blut, das aus seiner Kopfwunde sickerte. Eine Menschentraube bildete sich um die Szenerie und es war kurze Zeit später auch bereits das Martinshorn des herannahenden Krankenwagens und die Sirenen der Polizei zu hören.

„Bitte sag mir, wo sie ist!“, hörte John das Mädchen wimmern. Er ging zu ihr und zog sie weg, um den Sanitätern und dem Notarzt Platz zu machen. Sie wehrte sich.

„Ich muss bei ihm bleiben!“

„Warte, lass die Ärzte ihm helfen. Später kannst du mit ihm sprechen.“ Instinktiv duzte John sie. Doch das junge Mädchen schüttelte den Kopf.

„Ich muss jetzt mit ihm reden. Es ist wichtig. Nichts Wichtigeres gibt es für mich!“ John sah, wie der Notarzt den Kopf schüttelte, das Unfallopfer würde vermutlich nicht überleben.

„Bist du verletzt?“ John besah sich die schmutzige Kleidung. Blutspritzer trockneten auf dem Rock.

„Nein und jetzt lassen Sie mich zu ihm. Ich muss etwas von ihm erfahren, bevor es zu spät ist.“ Verzweifelt riss sie sich los und lief in Richtung des Krankenwagens, in den der leblos wirkende Körper gerade hineingehoben wurde. An den ruhigen Bewegungen der Sanitäter konnte man schon erkennen, dass ihm wohl nicht mehr zu helfen war. Er würde zum Sterben und zur Obduktion ins Kantonsspital gebracht.

„Es tut mir leid …“, flüsterte John. Sie schrie auf und sackte ohnmächtig zusammen.

Kurze Zeit später im Krankenzimmer des Kantonsspitals fragte sein ehemaliger Kollege ihn: „Weißt du, wer sie ist?“ Bruno Bär sah zu der noch immer Bewusstlosen in dem hellen Krankenzimmer. John schüttelte den Kopf.

„Nein! Hatte sie keine Papiere bei sich?“

„Sonst hätte ich nicht gefragt. Das Unfallopfer hatte auch keinen Ausweis dabei. Wir überprüfen seine und auch ihre Fingerabdrücke, mal sehen, was dabei herauskommt. Aber vielleicht wird sie ja vorher wach und kann unsere Fragen beantworten.“

„Und was ist mit dem Fahrer des Wagens?“

„Er ist für uns ein Unbekannter. Noch nicht einmal einen Strafzettel wegen Falschparkens hat er in seinem Leben bekommen. Ich gehe also erst einmal von einem Unfall aus.“

„Sag mir Bescheid, wenn sich etwas ergibt, Bruno! Ich werde hier bleiben und warten, ob das Mädchen etwas sagen kann.“

„Oder sagen will. Es klang ja sehr mysteriös, was sie deiner Aussage nach von sich gegeben hat.“ Bruno nickte seinem besten Freund noch einmal zu, bevor er das Krankenzimmer wieder verließ. John Etter setzte sich auf den Stuhl, den er sich neben das Bett im Einzelzimmer gestellt hatte. Mysteriös hatte er die Worte des Mädchens nicht gefunden. Eher beklemmend, denn er ahnte schon, dass sich etwas hinter all dem verbarg. Er sah in das eingefallene Gesicht. Dunkle Schatten lagen unter den Augen und irgendwie wirkte die Haut seltsam, so als hätte sie nicht viel Kontakt mit Sonnenlicht.

Leise vibrierte sein Handy.

„Ja, Susanne?“ John flüsterte und stand auf.

„Ich bin noch im Krankenhaus und ich werde wohl auch hier bleiben, bis das Mädchen wieder bei Bewusstsein ist.“ Wieder lauschte er schweigend.

„Nein, ich weiß noch nicht, wer sie ist und ja, es interessiert mich. Du weißt ja, ich bin von Natur aus neugierig.“ Er lachte.

„Ja ich melde mich, wenn ich mehr weiß. Und nein, Frau Walser werde ich nicht weiter beschatten. Die Frau hat definitiv keine Affäre. Sagst du es ihrem Mann und machst einen Schlussbericht mit Abschlussrechnung?“

Nachdem Susanne zugestimmt hatte, bedankte er sich und packte das Handy wieder in die Innentasche seiner Lederjacke. Nun betrat er den Raum wieder. Das junge Mädchen lag nun wach im Bett und starrte an die Decke.

„Wohin haben Sie mich gebracht? Und wo ist er?“

„Du bist im Krankenhaus. Und er lebt nicht mehr. Es tut mir leid!“

„Nein, das darf nicht sein“, schrie sie auf.

„Leider hat er den Unfall nicht überlebt. Willst du mir nicht erzählen, wer du bist?“

„Ich bin Niemand“, flüsterte sie und schloss die Augen.

„Kein Mensch ist Niemand. Man ist immer jemand. Ich bin John, John Etter. Verrate mir doch deinen Namen.“ Sanft und ruhig sprach er auf sie ein.

„Ich bin Niemand“, wiederholte sie jedoch nur.

„Gut! Verrätst du mir dann wenigstens, wer der Mann war, den du so dringend sprechen wolltest? Er hatte keinen Ausweis bei sich.“

„Er war jemand, doch wer genau, kann ich nicht beantworten!“

„Und warum nicht?“ Obwohl dieses Gespräch alles andere als ergiebig war, verlor John nicht die Geduld.

„Ich kann nicht oder darf nicht. Vielleicht will ich auch nicht. Suchen Sie sich doch einfach die Antwort aus, die Sie am ehesten hören wollen.“

„Ich würde am liebsten eine ehrliche Antwort hören. Deinen Namen, seinen Namen, seine Adresse und auch den Grund, was so wichtig gewesen wäre, dass du mit ihm sprechen wolltest. Vielleicht kann ich dir helfen.“

„Helfen kann man mir schon lange nicht mehr. Und ich wollte mit ihm sprechen, ich habe nur eine Antwort gebraucht, die ich jetzt nicht mehr bekomme. Seine Adresse, die kenne ich nicht, seinen Namen hat er mir nie verraten und meiner wurde mir vor Jahren genommen.“

John Etter ahnte Schlimmes, schließlich wurden oft junge Mädchen entführt. Manche tauchten wieder auf, lebend aber verstört, so wie dieses hier. Andere fand man tot und man ahnte nur, dass dieser eine Erlösung gewesen sein musste und wieder andere blieben verschwunden. Viele waren auch nur ein paar Tage weg und tauchten fröhlich wieder auf. Dieses Mädchen aber nicht. Sie schien schwere Zeiten hinter sich zu haben.

„Und wie wurdest du genannt, bevor man dir deinen Namen genommen hat?“

„Selina“, flüsterte sie beinahe tonlos.

„Gut Selina, kannst du mir die anderen Fragen vielleicht auch beantworten?“ Sie schüttelte den Kopf. Dann klopfte es und eine junge Krankenschwester betrat das Zimmer.

„So, Sie sind wach, dann kann ich Sie direkt mit zu einigen Untersuchungen nehmen.“

„Ich will nicht! Ich will gehen“, widersprach Selina.

„Tut mir leid, aber Sie können nicht gehen, bevor sie nicht gründlich untersucht wurden!“ Obwohl die Schwester klein und zierlich war, hatte sie eine höchst energische Stimme. Sie zog Selina vom Bett und platzierte sie in einen Rollstuhl. John erhob sich ebenfalls.

„Ich komme später noch einmal wieder. Bitte denk darüber nach, ob du meine Fragen beantworten kannst. Ich glaube, dass ich dir wirklich helfen kann.“ Mit diesen Worten legte er eine seiner Visitenkarten auf den Nachttisch.

„Sie können mir nicht helfen, so sehr ich es mir auch wünsche. Nur der Tote hätte es gekonnt.“ Tränen rannen über die Wangen und ließen die hellen Augen glitzern.

„Ich bin Privatdetektiv und arbeite eng mit der Polizei zusammen. Mir fällt bestimmt etwas ein, womit ich dir helfen kann!“

Wieder schüttelte sie den Kopf, doch dieses Mal sagte sie nichts mehr. John Etter beobachtete noch, wie der Rollstuhl den langen Gang hinunter geschoben wurde, dann verließ er das Krankenhaus.

Nachdem er in seinen Wagen gestiegen war, nahm er sein Handy. Die Nummer von Kommissar Bruno Bär stand an einer der ersten Stellen seiner Anrufliste.

„Hallo, ich wollte dir sagen, dass unsere Unbekannte wach ist. Sie heißt Selina und ich vermute, dass der Kerl, der überfahren wurde, sie längere Zeit gefangen gehalten hatte. Alles, was sie andeutet, spricht dafür.“ John hörte, wie Bruno tief durchatmete, bevor er antwortete.

„Wir kennen doch so was. Ein kleiner Spaziergang, nachdem sie jahrelang brav gehorcht hatte. Und ich glaube, dass er sie mit noch etwas in der Hand hat. Du kennst solche Fälle ebenso gut wie ich, Bär! Es wird dauern, bis sie mir oder einem von uns genug vertraut, um mir ihr Leid zu klagen.“ Während er Brunos Antwort lauschte, kramte er im Handschuhfach nach seinen Zigaretten.

„Natürlich werde ich mich weiter um diese Selina kümmern. Das ist auf jeden Fall spannender, als hübsche Empfangsdamen beim lesen zu beobachten, weil der Mann an einer latenten Paranoia leidet und meint, dass sein braves Frauchen ihn betrügt. Also, ich halte dich über Selina auf dem Laufenden und du sagst Bescheid, wenn sich bei dem Toten und dem Unfallfahrer etwas Neues ergibt. Ich nehme an, dass ihr gleich noch jemanden bei Selina vorbeischickt, falls sie euch mehr sagt, wäre ich froh, es zu erfahren.“

Nach einem kurzen Abschiedsgruß legte John auf und startete seinen Wagen. Er wollte nur noch nach Hause. Vielleicht ein Bier trinken und etwas entspannen. Wobei er wusste, dass er nicht würde entspannen können, sondern sich Worte für das nächste Gespräch mit Selina zurechtlegen würde. So war er immer schon gewesen und dieser grundlegende Aspekt seines Charakters, würde sich vermutlich auch nicht ändern.

Zu Hause wartete bereits seine Partnerin Alina auf ihn und bemerkte sofort die Anspannung in John. Sie hatte ebenfalls schlechte Nachrichten für ihn.

Ihr Bruder hatte in der Produktionsstätte in Hongkong ein wahres Tohuwabohu hinterlassen und sie müsste dies wieder in Ordnung bringen.

John kannte diese Geschichte nur zu gut und stellte sich auf einige Wochen ohne Besuche von Alina ein. Eine letzte Nacht blieb ihnen noch, bevor Alina ihn für mehrere Wochen verlassen musste.

Die Liebe war noch neu. Jahre hatte er niemanden mehr in sein Leben gelassen. Nicole war vor Jahren eine ernsthafte Beziehung, und nachdem diese Beziehung in die Brüche ging, gab es nur noch einen One-Night-Stand mit einer Kollegin – Andrea.

Die Sache mit seinen Eltern ließen den Partnerwunsch in den Hintergrund treten und nachdem sie gestorben waren, fand er keine Zeit dazu. Bis Alina anlässlich eines speziellen Falles in sein Leben trat.1

1 John Etter – Verschollen in den Höllgrotten

JOHN ETTER - Stummer Schrei

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