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Kapitel 5
ОглавлениеMai 2006. Seit anderthalb Jahren war Selina schon in der Gewalt des Mannes. Ein Fernseher war ihre einzige Gesellschaft, wenn sie von seinen täglichen Besuchen in ihrem Zimmer absah. Ja, er hatte ihr sogar ein Zimmer in seinem Haus eingerichtet. Eigentlich war es hübsch. Doch jedes bisschen musste sie sich verdienen, wie er es nannte. Für jedes Buch und jede CD, verlangte er nach ihrer Nähe. Und dieses Verlangen tat ihr noch immer weh. Und noch mehr, es widerte sie an. Doch er schien nicht genug davon bekommen zu können. Nahezu jeden Tag kam er zu ihr hoch, nur selten hatte sie Ruhe vor seinen Händen. Und selbst, wenn er nicht zu ihr gekommen war, weinte sie sich in den Schlaf und Nacht für Nacht meinte sie, sein Keuchen an ihrem Ohr zu hören.
Sie weinte nicht mehr, wenn er bei ihr war. Egal, wie schmerzhaft oder wie sehr es sie ekelte. Das hatte er ihr rasch und äußerst schmerzhaft abgewöhnt. Auch nach ihren Eltern fragte sie nicht mehr. Sie war durch ihn zur Überzeugung gelangt, dass diese sie wirklich an ihn verkauft haben mussten, sonst hätten sie sie doch schon längst gefunden. Bei solchen Gedanken kamen ihr die Tränen, die sie jedoch tapfer herunterzuschlucken versuchte. Dem Mann bloß keine Schwäche zeigen, war zur Devise der noch nicht einmal zwölf Jahre alten Selina geworden. Und obwohl sie ihn hasste, so sehr wie ihre zerbrochene, ehemals kindliche Seele überhaupt hassen konnte, wünschte sie ihn manchmal zu sich. Einfach, um nicht immer nur alleine im Raum zu sein. Der dunkle Raum, in dem sie noch nicht einmal die Vorhänge aufziehen durfte, um wenigstens einen Blick nach draußen zu erhaschen. Er hatte das einzige Fenster zusätzlich mit Brettern zugenagelt. Selina wurde von Tag zu Tag blasser. Es war, als wäre das fröhliche Mädchen, das sich an diesem kalten Novembermorgen zur Schule aufgemacht hatte, nicht mehr da.