Читать книгу Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme - John W. Grow - Страница 11

7.

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Es sollten genau 103 Treppenstufen sein. Ray zählte sie genau, während er langsam die lange steinerne Treppe, die sich vom Platz nach oben schlängelte, hochstieg.

Das kleine Dorf klebte an den Talseiten und über ihm kletterten die Oliventerrassen hoch in die Dunkelheit. Die kreuzenden Straßen bestanden aus Treppenstufen. Alle Transporte mussten zu Fuß oder mit Eseln fortgeführt werden. Einen Esel hörte er in der Ferne schreien, als er stehen blieb und sich umsah. Es war sehr still und er bekam fast das Gefühl, dass das Dorf verlassen war.

Die alte, schummrige Straßenbeleuchtung warf nur einen schwachen, gelben Schein über die Hauswände. In den Seitengassen war es dunkel. Die Fensterläden der Häuser waren geschlossen, aber hinter ihnen konnte Ray leise die Fernseher hören. Vor einem Haus tief in einer Seitenstraße konnte er eine ältere Frau in der Dunkelheit erkennen. Sie saß mit einer Schüssel auf den Knien auf einem Hocker und putzte Gemüse.

Ray ging weiter die durchgetretenen, breiten Stufen hoch. Die hundertdritte Stufe war ein Absatz. Er blieb vor einem schmalen, dreistöckigen Haus stehen. Die Fensterläden neben dem Eingang waren geschlossen und der Rest vom Haus dunkel. Ein kleines Keramikschild schräg über der Tür erklärte in Blau und Weiß, dass das Haus „Casa de Pallaras“ hieß.

Er sah sich um. Eine dünne graue Katze saß auf der Balustrade und säuberte sorgfältig ihre Genitalien. Sie war das einzige Lebewesen in der Nähe. Er hob die Hand und klopfte vorsichtig an die große, braune Holztür. Sofort drehte drinnen jemand einen Schlüssel um und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

Durch den Spalt konnte Ray eine ältere Frau erkennen.

„Gehen Sie zum Platz zurück“, sagte die Frau schnell und schloss die Tür wieder.

Er hörte, wie der Schlüssel erneut im Schloss gedreht wurde.

Es bereitete ihm Unbehagen, hier zu sein. Es ging gegen seine Prinzipien, dass jemand anderes die Umstände des Kontakts bestimmte. Er überlegte, es einfach sein zu lassen. Der einzige Grund, überhaupt herzukommen, war seine finanzielle Situation. Sein letzter Auftrag war fast ein Jahr her und sein Geld war einfach alle.

Der Platz war nicht mehr als fünfundzwanzig Meter breit und vielleicht dreißig Meter lang. Eine uralte Platane mit enormen Ästen stand in seiner Mitte. Neben dem Baum befanden sich eine Fontäne und ein Messinghahn für frisches Wasser. Der Platz war auf allen Seiten mit Häusern umgeben und man konnte nur zu Fuß hingelangen – entweder über die schmalen Gassen oder die Treppe runter, von der er gerade gekommen war.

Am einen Ende des Platzes war ein Supermarkt mit heruntergelassenen Jalousien. Gegenüber war eine Kneipe, die offenbar geöffnet hatte. Von drinnen hörte man Musik und Gemurmel.

Neben der Treppe, in der Dunkelheit außerhalb der Straßenbeleuchtung, standen zwei Holzbänke an der Hauswand. Auf einer der Bänke saß ein Mann mit Jeans, Turnschuhen und einem karierten Baumwollhemd und betrachtete Ray. Die zwei Männer sahen einander kurz an.

„Ich nehme an, dass wir beide uns verabredet haben“, sagte der Mann und erhob sich.

Als er ins Licht trat, konnte Ray erkennen, dass der Mann skandinavisch aussah, mit heller, sonnenverbrannter Haut und blonden, zurückgekämmten Haaren mit Seitenscheitel. Schultern und Hals waren kräftig, die Hüften schmal. Er sah gut trainiert aus.

Der Mann im Baumwollhemd ging auf Ray zu und streckte die Hand aus.

„Tomas Ekberg.“

Ray nahm wortlos seine Hand. Er nickte nur kurz und drehte dann auf dem Absatz um in Richtung Gasse. Tomas war überrumpelt. Einen Augenblick stand er verwirrt da, dann eilte er Ray hinterher.

„Verstehe“, sagte er aufgeregt. „Der Platz ist vielleicht nicht so gut. Zu offen.“

Sie traten in die dunkle Gasse. Ray blieb stehen und drehte sich um.

„Was wollen Sie?“, fragte er kurz.

„Ich bin nur der Bote“, sagte Tomas mit gepresster Stimme. „Mein Auftraggeber möchte, dass ich Ihnen einen Brief überreiche.“

„Ich bin mir nicht sicher, dass Sie den richtigen Mann gefunden haben.“

„Doch, davon bin ich überzeugt. Hier …“ Tomas steckte nervös seine Hand in die Tasche und holte einen Umschlag hervor, den er Ray reichte. Ray fühlte den Umschlag und konnte ohne nachzusehen an Form und Dicke erkennen, dass er ein Geldbündel enthielt.

„Ich habe noch einen Umschlag“, sagte Tomas und steckte seine Hand ins Hemd.

Ray legte ihm eine Hand auf die Schulter und er hielt inne. Er lehnte sich sehr nah zu Tomas und sagte ruhig:

„So arbeite ich nicht. Nehmen Sie es zurück.“

Er drückte den Umschlag mit dem Geld in Tomas‘ Gürtel und sah ihm in die Augen.

„Kommen Sie Donnerstag nächste Woche nach Palma“, fuhr Ray schnell fort. „Da steht eine Telefonzelle am Plaça Major, direkt vor der Pizzeria über der Treppe. Seien Sie dort, am besten in der Zelle, genau um ein Uhr.“

„Aber ich …“, setzte Tomas an.

„Sie können jetzt gehen“, sagte Ray. „Ich warte hier.“

Tomas nickte. Er sah sich unsicher um und steckte den Umschlag in die Gesäßtasche seiner Jeans.

„Verstehe. Schön, Sie zu treffen!“, sagte er mit einem schiefen Lächeln und ging langsam zurück zum Platz. Seine Hände steckten tief in den Taschen.

Ray blieb stehen, bis er Tomas in der Kneipe verschwinden sah.

Etwa eine Woche zuvor war Tomas Ekberg von Erik Hellberg einbestellt worden, der sein Chef in der Zürcher Bank war. Hellberg hatte sich nach dem Haus auf Mallorca erkundigt, von dem er wusste, dass Tomas es geerbt hatte. Er hatte gefragt, ob nur Tomas dort wohnte, ob er oft dort war und ob man jederzeit hinfahren konnte. Erst hatte Tomas geglaubt, dass Hellberg das Haus mieten wollte und über einen guten Preis nachgedacht, aber dann hatte Hellberg gefragt, ob er Lust hätte, einen Monat Urlaub bei vollem Gehalt und bezahlter Reise dort zu verbringen. Nicht nur das, er würde auch alle Unkosten ohne Nachweispflicht erstattet bekommen und dann noch zusätzliche Kompensation.

Tomas war das Kinn auf die Brust gefallen. Wie könnte er da widerstehen?

Als Gegengefallen hatte Hellberg ihn gebeten, einen einfachen, aber – und das betonte er – höchst geheimen Auftrag auszuführen. Tomas sollte einer Person zwei Umschläge geben. Die Person würde ihn auf Mallorca kontaktieren und er könnte den Treffpunkt selbst bestimmen. Wichtig war, dass es so diskret wie möglich geschah. Er würde dann eine Nachricht von dem Kontakt mitbekommen; entweder Ja oder Nein.

„Schönen Urlaub!“, hatte Hellberg ihm übertrieben heiter gewünscht. Er hatte ihm zwei Umschläge gegeben: einen weißen mit Geld und einen blauen, der mit Siegellack, aber ohne Siegel verschlossen war.

Worum es ging, hatte Tomas nicht erfahren und er hatte auch nicht gefragt. Es ging um etwas, das keinen Einblick zuließ, das war offensichtlich. Warum sollte das Treffen sonst so weit weg stattfinden? Warum sollte man sonst einen Code zur Identifizierung verwenden? Warum die ganze Geheimniskrämerei? Und vor allem: Warum würde er sonst so viel Geld dafür bekommen?

Tomas hatte darüber nachgedacht, worin Hellberg verwickelt war, aber er war zu dem Schluss gekommen, dass der Bankdirektor wahrscheinlich die Wahrheit gesagt hatte, dass er wie Tomas nur ein Mittelsmann war. Das Ganze war größer.

Natürlich dachte er darüber nach. Zu Hause hatte er darüber nachgedacht, den Umschlag zu öffnen, um seine Neugier zu stillen. Es war leicht zu sehen, dass er Geld enthielt. Von der Dicke zu urteilen eine ansehnliche Summe, egal in welcher Währung. Der Umschlag war nur zugeklebt und er hätte ihn leicht aufdampfen und wieder verschließen können. Der andere war schwieriger, da er versiegelt war – aber es war kein Siegel drauf und er hätte das neu machen können. Es wäre nicht schwierig, einen solchen blauen Umschlag zu finden. Aber er wusste nicht, ob er noch weitere Kennzeichen hatte. Deshalb hatte er es bleiben lassen.

Tomas merkte intuitiv, dass es besser war, je weniger er wusste. Es könnte gefährlich sein, zu viel zu wissen. Aber gleichzeitig fand er auf kindliche Weise, dass die Sache spannend war. Als wäre man mitten in einer Spionagegeschichte.

Tomas stieg die Treppe zum Plaça Major hoch. Es war Mittagszeit und der Platz wimmelte von Menschen. Er fand die Telefonzelle vor der Pizzeria. Er sah sich um und ging hinein. Als er auf die Uhr sah, war es eine Minute vor eins.

Er fühlte sich blöd, untätig herumzustehen und blätterte im Telefonbuch, als ob er eine Nummer suchte.

Er beschloss, fünf Minuten zu warten – dann würde er gehen. Er würde das Geld im Umschlag behalten und Hellberg mitteilen, dass der Kontakt es bekommen hatte, aber den Auftrag ablehnte. Beim Gedanken an die Summe hoffte er durchaus darauf.

Da klingelte das Telefon. Er riss den Hörer an sich.

„Ja?“

„Hören Sie genau zu“, sagte Ray. „Gehen Sie die Treppe wieder runter und weiter zum Passeig des Born. Wissen Sie, wo das ist?“

„Ja, weiß ich.“

„Kurz vorm Plaça de la Reina steht noch eine Telefonzelle auf der linken Seite. Seien Sie in genau einer Stunde dort.“

Ehe Tomas antworten konnte, legte Ray auf.

Aus dem Tabakladen auf der anderen Seite des Platzes sah er, wie der große Schwede aus der Telefonzelle trat. Als er die Treppe Richtung Avenida Unió runterging, folgte er ihm.

Der Frühling war da, die Luft war mild und die Cafés voller Leute. Tomas vertrieb sich die Wartezeit mit einem langsamen Schaufensterbummel am Promenadenweg entlang. In der Allee am Passeig des Born hatten die Platanen ausgeschlagen. Er setzte sich in eins der zahlreichen Straßencafés und bestellte eine Pepsi. Von hier aus konnte er die Telefonzelle sehen, in der das Telefon in einer Weile läuten würde. Dann würde er erneut mit dem geheimnisvollen Mann sprechen.

Ray setzte sich an einen leeren Tisch im Café gegenüber. Hinter einem Daily Bulletin beobachtete er Tomas, der 25 Meter weiter mit dem Rücken zu ihm saß. Er bestellte eine Cerveza und zündete sich eine Zigarette an.

Auf dem Weg vom Plaça Major hatte er sich beim Verfolgen vergewissert, dass niemand Tomas folgte und dass er niemanden zu kontaktieren versuchte. Ray trank einen großen Schluck aus dem beschlagenen Bierglas und fühlte sich ziemlich zufrieden. Er stellte fest, dass Tomas seine Pepsi mit einem Strohhalm trank und dachte, dass das hier wohl der amateurhafteste Kurier sein musste, mit dem er je zu tun gehabt hatte. Das musste nichts Schlechtes sein, es bedeutete nur, dass auch der Auftraggeber ein Amateur war und solche Bestellungen nicht oft aufgab. Er selbst war der einzige Profi und musste deshalb die Verantwortung für seine eigene Sicherheit und die des eventuellen Auftraggebers übernehmen.

Exakt eine Stunde, nachdem Ray auf dem Plaça Major aufgelegt hatte, betrat Tomas pflichtschuldig die andere Telefonzelle. Im selben Moment klingelte das Telefon.

„Legen Sie den Umschlag in das Telefonbuch, wo es mit C losgeht“, sagte Ray.

„Es sind zwei Umschläge“, unterbrach ihn Tomas.

„Nicht das Geld! Nur die Mitteilung. Dann gehen Sie zur Bushaltestelle die Straße runter und nehmen den erstbesten Bus.“

„Ich brauche eine Antwort von Ihnen“, protestierte Tomas und hörte, wie die Stimme im Hörer den Faden verlor. Es entstand eine kurze Pause.

„Fahren Sie mindestens drei Haltestellen und kommen Sie dann in exakt zwei Stunden zu dieser Telefonzelle zurück“, sagte Ray und legte auf.

Tomas holte aufgeregt den blauen Umschlag aus der Jackentasche, öffnete das Telefonbuch und blätterte zum Buchstaben C. Er legte den Umschlag hinein und versuchte ihn in der Bindung festzustecken.

Mit schnellen Schritten ging er zur Bushaltestelle, an der bereits ein Bus stand. Eine lange Schlange von Leuten stieg gerade ein und er hatte Sorge, dass er nicht mehr mitkommen würde. Er drückte sich als Letzter in den überfüllten Bus, obwohl die Mitfahrenden protestierten. Als der Bus die Haltebucht verließ, spähte Tomas zur Telefonzelle und glaubte einen Mann mit dunklem Anzug hineingehen zu sehen, aber die Distanz war zu groß und er erkannte Ray nicht wieder.

Ray Lambert aß ein spätes Mittagessen in einem Restaurant in der Altstadt. Er spülte einen Calamare de la plancha mit einer Flasche hellem Bier runter. Er kannte das Restaurant und wusste, dass sie eine hervorragende Crema Catalan machten. Er bestellte eine als Nachtisch. Er mochte nicht viele Süßspeisen, aber diesem Gericht konnte er nicht widerstehen.

Er saß an einem abgelegenen Tisch im Inneren des Restaurants und hatte den Umschlag sofort nach der Bestellung geöffnet. Inzwischen waren nur noch wenige Mittagsgäste da.

Im Brief hatte ein kleinerer grauer Umschlag und ein Stück Papier gelegen. Auf dem Papier stand, dass er bei Interesse am nächsten Freitag um halb elf Uhr morgens in ein kleines Café gegenüber vom Hauptbahnhof in Zürich kommen sollte, um die Bedingungen zu besprechen. Das Geld in dem Umschlag, den er verweigert hatte, war für die Reise dorthin gedacht gewesen.

Im grauen Umschlag hatte sehr direkt gestanden, dass jemand den schwedischen Staatsminister tot sehen wollte, so schnell wie möglich und egal, wie. Es stand nicht da, was er bekommen sollte, er sollte selbst seinen Preis sagen.

Als er den Text zweimal gelesen hatte, war er aufgestanden und zur Toilette gegangen. Dort hatte er die Mitteilungen zerrissen und zusammen mit dem Umschlag heruntergespült.

Ray sah auf die Uhr und stellte fest, dass er noch reichlich Zeit hatte, bis er Tomas Ekberg Bescheid sagen musste. Er bestellte einen Kaffee solo und ein Glas Mascaro als Abschluss seiner Mahlzeit.

Es lag etwas Unschuldiges über der ganzen Sache. Das verlieh ihm einen Vorteil, den er im Zusammenhang mit Profis nie bekommen konnte. Da wäre er derjenige gewesen, der ungeschützt und exponiert gezwungen war, den Auftraggebern Folge zu leisten. Mit Amateuren war es andersrum. Darum irritierte es ihn, so häufigen und nahen Kontakt mit dem Mittelsmann zu haben. Er beschloss, aufs Reisegeld zu verzichten. Wenn dieser Auftrag zustande kam und der Auftraggeber so darauf erpicht war, wie er dachte, würde Geld keine Rolle spielen. Sein Preis würde so hoch sein, dass er sich alles leisten konnte.

Das war ein Vorteil von Amateuren: Sie waren immer bereit, viel mehr zu zahlen als Profis. Sie überschätzten den Preis für ein Menschenleben grundsätzlich – es würde ihnen nicht im Traum einfallen, wie wenig es wert sein konnte.

Zur ausgemachten Zeit stand Tomas Ekberg erneut in der Telefonzelle und wartete. Er hob sofort ab, als es klingelte. Das Gespräch war kurz, es dauerte nicht mehr als fünf Sekunden:

„Hallo?“

„Sagen Sie, dass die Antwort ‚ja‘ ist.“

Der Hörer wurde aufgelegt.

Tomas war erfreut. An der Brust spürte er das Gewicht des dicken Geldumschlags.

Schon am selben Abend rief er seinen Chef in Zürich an und erzählte, dass sein Auftrag nun erledigt war und dass die Antwort des Kontakts positiv gewesen war. Er erwähnte nicht, dass Ray das Geld nicht angenommen hatte.

Erik Hellberg dankte und wünschte Tomas weiter einen schönen Urlaub. Dass der Urlaub tatsächlich ganz besonders werden würde, stellte Tomas fest, als er den Umschlag öffnete und 5000 amerikanische Dollar darin vorfand.

Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme

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