Читать книгу Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme - John W. Grow - Страница 7
3.
ОглавлениеEr hatte viele Namen – aber keiner war der richtige.
Vor einem knappen halben Jahr war er in Südafrika Dennis Clayton gewesen. Ein Jahr früher hatte er in Italien Marcello Capotti geheißen. Richard Miller, Paul Fischer, David Silbermann, François Munot … so viele Namen wie Aufträge.
Sein offizieller Name war Ray Lambert, auch gefühlsmäßig. Den benutzte er nie im Zusammenhang mit Aufträgen. Dieser Name war seine Zuflucht und musste sauber bleiben. Nur äußerst wenige Personen kannten ihn unter diesem Namen und wussten, womit er sein Geld verdiente.
Aber hinter all dem gab es noch einen Namen, den niemand außer ihm kannte. Seine echte Identität, sein erster Name, der seit 23 Jahren auf einem Grabstein in Angola verwitterte, von der Welt vergessen. Der Name, den niemand mehr aussprach. Der echte Name.
Er wurde 1931 als Oliver Bendini in Montreal in Kanada geboren. Seine Eltern hießen Emma und Simon Bendini. Sein Vater war ein angesehener und erfolgreicher Anwalt. Sein Vater fand freilich, dass er noch erfolgreicher gewesen wäre, hätte er keinen italienischen Hintergrund gehabt. Ständig stellte er verbittert fest, dass die richtig reichen Mandanten sich an anglo-sächsische Anwälte wendeten. Trotzdem ermutigte er seinen einzigen Sohn, dieselbe Laufbahn einzuschlagen. Er ermutigte ihn nicht nur, er verlangte es von ihm.
Seine Schulzeit verbrachte Oliver komplett im Internat. Keine andere Ausbildung war gut genug für Simon Bendinis Sohn. Nach der bestandenen Prüfung sollte Oliver umgehend in der trotz allem sehr gut aufgestellten Firma seines Vaters anfangen. Zuerst hatte er kategorisch abgelehnt, wurde dann aber von seiner Mutter überredet. Ihr konnte er nicht widerstehen.
Olivers Vater fand, dass man ganz unten anfangen sollte, wie er es selbst getan hatte. Dann sollte man sich Schritt für Schritt zu der Position hocharbeiten, die man verdiente. Der Vater prägte seinem Sohn gründlich ein, nie etwas als selbstverständlich hinzunehmen, vor allem nicht die Zukunft der Firma. Nur, wenn sein Sohn sich auf die Hinterbeine stellte und seine Arbeitsaufträge mit angemessenem Respekt und Bescheidenheit ausführte, konnte er damit rechnen, in die Gemeinschaft des Büros aufgenommen zu werden. Es würde nicht ohne harte Arbeit funktionieren, falls er das glauben sollte.
Olivers Vater ließ ihn Routinearbeiten ausführen, die Oliver langweilten. Die anderen Angestellten im Büro grinsten heimlich und waren zufrieden, dass der Sohn des Chefs keine Sonderbehandlung bekam.
Aber Oliver musste sich nicht lange in diesem aufgezwungenen Beruf bemühen. An einem frühen Novembermorgen 1955 veränderte sich das Leben der Familie Bendini.
Oliver hasste seinen Vater nicht. Dafür kannte er ihn gar nicht gut genug. Aber er liebt seine Mutter.
Olivers Mutter war Lehrerin. An diesem Morgen fuhr sie wie immer mit ihrem gelben Volkswagen zur Schule. Wie immer war sie spät dran und wie immer fuhr sie viel zu schnell. Ein paar hundert Meter vom Haus entfernt näherte sich seine Mutter der großen Kreuzung, wo der Weg die Hauptstraße zum Stadtzentrum kreuzte. Sehr rechtzeitig sah sie den großen, schweren Laster, der von links kam, und fuhr langsamer. Doch als sie auf die Bremse trat, um den Laster vorbeifahren zu lassen, bemerkte sie, wie glatt es war. In der vorherigen Nacht war der Eismeerwind über Nordkanada geweht und hatte alle Straßen in Glatteis verwandelt. Das Auto fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, trotz blockierter Reifen, genau auf die Kreuzung zu. Und rutschte unter den Lastwagen.
Der Laster fuhr nach dem Zusammenstoß ebenfalls noch hundertfünfzig Meter weiter auf der spiegelglatten Straße, ehe der Fahrer ihn zum Halten bringen konnte. Der kleine Volkswagen Käfer war unter dem riesigen Truck zusammengedrückt und mitgeschleift worden. Es dauerte eine Stunde, ihn herauszuschneiden und den toten Körper von Olivers Mutter zu bergen.
Erst nach ihrem Tod wurde Oliver wirklich bewusst, wie viel seine Mutter seinem Vater bedeutet hatte. Sein Vater brach komplett zusammen und ertränkte seine Sorgen im Alkohol. Als die Nachricht von ihrem Unfall kam, weinte er zwölf Stunden lang und betrank sich dann hemmungslos. Am nächsten Tag trank er weiter. Und am nächsten. Und am nächsten. Er wurde nie wieder nüchtern.
Mit der Anwaltskanzlei ging es bergab. Simon Bendini war kaum dort, und wenn er doch auftauchte, war er betrunken. Die besten Mitarbeiter kündigten und die Mandanten blieben schnell weg.
Oliver ging nicht mehr zur Arbeit und niemand sagte etwas dazu.
Sechs Monate dauerte der Verfall, dann ging die zuvor so renommierte Kanzlei in Konkurs. Am Abend der Konkursanmeldung erschoss sich Simon Bendini durch den Mund mit einer Pistole. Oliver fand ihn einige Tage später im Wohnzimmer des Hauses.
Oliver floh vor allem, was mit Jura und der Vergangenheit zu tun hatte. Er hatte keinerlei Verwandte. Nichts hielt ihn zurück und er zog von Montreal nach Québec, wo er dem Militär beitrat.
Oliver mochte das Militärleben. Voller verzweifelter Energie vollzog er das harte physische Training. Seine Vorgesetzten waren beeindruckt und legten ihm eindringlich die Offiziersausbildung nahe. Das passte ihm hervorragend. Seine Begabung und sein Enthusiasmus führten ihn zu glorreichen Erfolgen. Nach sechs Monaten war er Hauptmann.
Aber seine Unruhe und seine Abenteuerlust trieben ihn weiter. Mit dreißig Jahren sah er diese Phase seines Lebens als abgeschlossen an und verließ das Militär. Er verkaufte die wenigen Dinge, die er noch besaß, und verließ Kanada für immer.
Oliver ließ jedoch nicht das militärische Leben hinter sich, denn das war neben Jura die einzige Ausbildung, die er hatte. Ein Leben als Jurist oder Kaufmann interessierte ihn nicht. Stattdessen fuhr er nach Afrika, wo er sich als Söldner in Angola anheuern ließ. Dort war ein regelrechter Freiheitskrieg ausgebrochen und die portugiesische Kolonialmacht versuchte mit allen Mitteln, den Aufstand zu ersticken. Oliver wurde als Hauptmann eingestellt und bekam die Befehlshoheit über eine größtenteils internationale Kompanie der portugiesischen Armee.
In Afrika wurde er zum Mörder.
Und zu Ray Lambert.
Als Oliver nach Angola kam, war er noch nie im Krieg gewesen und hatte noch nie einen Menschen getötet, obwohl er sechs Jahre lang Berufssoldat gewesen war. Aber in Afrika verlor er seine Unschuld. Als Soldat war Oliver furchtlos und legte oft eine Waghalsigkeit an den Tag, die an Todesverachtung grenzte. Er stand all dem Leiden um sich herum vollkommen eiskalt und indifferent gegenüber. Das führte dazu, dass ein Major in seinem Bataillon auf ihn aufmerksam wurde.
Oliver wurde eines Tages mit zwei anderen Befehlshabern – einem englischen Fähnrich und einem deutschen Sergeant aus der gleichen Kompanie – zu Major de Macedos Expedition beordert. Als sie sein Büro betraten, schickte der Major sofort seinen Adjutanten raus. Er wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte und wandte sich an die drei Männer.
„Ich möchte klarstellen, dass nichts, das in diesem Raum gesagt wird, weitergesagt wird. Verstanden?“
Er machte eine kurze Pause und sah sie an. Sie nickten.
Der Major nahm eine Zigarette aus dem Aschenbecher auf seinem Tisch. Plötzlich streckte er überraschend die Zigarettenschachtel zu den Männern und bot ihnen eine Zigarette an. Diese informelle Geste überrumpelte sie.
„Es geht um etwas, das außerhalb des normalen Diensts liegt“, fuhr er mit seiner Erklärung fort und zündete ihre Zigaretten an. „Darum kann ich Ihre Mitarbeit nicht anordnen, aber Sie werden es nicht bereuen. Ich habe Sie gut studiert und bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie sehr gut dafür geeignet sind.“
Es ging darum, einen Mord an einem korrupten, hohen Bediensteten in der portugiesischen Verwaltung auszuführen. Ein Bediensteter, der ein politisches Risiko darstellte.
Aber es würde sich zeigen, dass der Grund kein politischer war.
Der Major wusste, dass Dr. António Campos, wie der Mann hieß, zu Hause ein kleines Vermögen verwahrte. Geld, an das er nicht mit sauberen Händen gekommen war.
Es war regelrecht ein rücksichtsloser Raubmord, den Major de Macedo geplant hatte und bei dem er sie dabeihaben wollte. Aber das sagte er nicht so direkt. Aber sie waren lang genug dabei, um es zu verstehen, doch auch sie sagten nichts, nicht einmal untereinander. Der Major würde beim Coup selbst dabei sein und die Belohnung würde reichlich sein. Vielleicht zehntausend Dollar pro Person. Auch daran waren sie gewöhnt. Wenn es bei einem Auftrag etwas zu plündern gab, taten sie es, aber es waren nie derartig hohe Summen.
Für Geld zu töten war den drei Söldnern nicht fremd. Und es war nicht schwer, sie zu überreden.
Das Haus stand auf einem Hügel am Rande des hippen Teils von Luanda. Es stand allein am Ende einer schwach beleuchteten Allee, in der sämtliche Häuser von ummauerten Gärten umgeben waren. Die ganze Gegend war geprägt von belaubtem, künstlich bewässerten Grün, im krassen Gegensatz zu den übrigen Teilen der Stadt und der ausgetrockneten Umgebung.
Das Haus war bewacht. Eine Wache stand am Tor, die andere patrouillierte auf dem Gelände. Der Major glaubte, dass sich im Haus eine dritte Wache befinden könnte.
Die Männer hatten den vom Regiment geliehenen Militärjeep in einer anderen Straße fünfhundert Meter entfernt geparkt. Während Major de Macedo im Auto wartete, verschwanden die drei Söldner Richtung Villa in der Dunkelheit. Oliver schlich sich hinter die Balustrade an der Auffahrt und näherte sich in ihrem Schutz dem Tor. Die Wache stand an einen Steinpfosten gelehnt im Tor unter einer Lampe. Es war viel zu hell. Oliver wartete ab. Nach einer Weile ging die Wache aus der Einfahrt raus und Oliver duckte sich ans Geländer. Er hörte Schritte in der Nähe. Es knirschte im Kies, dann wurde es still. Er lag still da und hörte, wie ein Streichholz angestrichen wurde, dann roch er Zigarettenrauch. Vorsichtig linste er über die Kante und sah gegen die Laterne die Silhouette des Mannes, der ein paar Meter von ihm entfernt rauchte. Er befand sich außerhalb des Lampenscheins im Dunkeln. Oliver spürte das Adrenalin durch seinen Körper pumpen – wie krabbelnde Ameisen an den Armen entlang bis zu den Fingerspitzen. Er wartete, bis die Wache ihm den Rücken zudrehte.
Im selben Augenblick sprang er über das Geländer, sprintete zu dem Mann und hielt ihm von hinten mit der linken Hand den Mund zu. Gleichzeitig hieb er ihm mit der anderen Hand das Bajonett schräg nach oben in den Brustkorb. Der Mann sank augenblicklich zusammen und Oliver zog ihn unter das Geländer. Oliver bemühte sich um eine ruhige Atmung. Das Blut rauschte durch seinen Körper und das vibrierende Geräusch an den Ohren und Schläfen war ohrenbetäubend. Wie in einem Stummfilm sah er seine zwei Kameraden über die Balustrade in den Garten rennen. Sein Kopf war leer. Reflexartig verließ er das Geländer und rannte hinter ihnen her.
Im Garten teilten sie sich auf und näherten sich dem Haus leise aus verschiedenen Richtungen. An der Garage entdeckte der englische Fähnrich eine Bewegung vor der weißen Mauer: Wache Nummer zwei saß in einem Gartenstuhl, die Hände überm Bauch gefaltet, die Füße gemütlich auf einen Tisch gelegt. Neben ihm lag sein Gewehr im Gras.
Diese Wache wachte nie wieder auf.
Der Fähnrich erwürgte den Mann schnell und effektvoll mit einer Klaviersaite. Er hob den leblosen Körper in die Büsche. Ein schwaches Rascheln der Zweige war der einzige Laut, der von der ganzen Operation zu hören war.
Die Tür zur Küche war unverschlossen. Die Männer drangen in die Villa ein. Im Haus war keine weitere Wache, sodass sie ungehindert durchs schlafende Haus die Treppe hoch zu Dr. Campos Schlafzimmer gelangten.
Der Bedienstete wachte davon aus, dass der Deutsche ihm grob eine Hand auf den Mund legte und ihm eine Pistole zwischen die Augen drückte. Der Schreck stand ihm in den Augen, aber er sah ein, dass es idiotisch wäre, herumzuschreien. Der Deutsche setzte ihn auf und sagte leise auf Portugiesisch:
„Zeig uns, wo das Geld ist.“
„Nicht schießen“, bat Dr. Campos. Er schwitzte stark und versuchte sich unter dem Pistolenlauf herauszuwinden, den der Sergeant fest gegen seine Wange drückte. Leise und ohne Widerstand wies er ihnen den Weg ins Arbeitszimmer. Dort ging er zum Schreibtisch und beugte sich vor, um eine Schublade aufzuziehen.
„Lass das!“ Der Fähnrich ging schnell einen Schritt vor und schubste ihn unsanft zurück.
„Aber da liegt der Schlüssel“, sagte Dr. Campos.
Der Fähnrich öffnete die Schreibtischschublade. Tatsächlich lag dort der Tresorschlüssel – aber daneben lag ein Revolver. Triumphierend hielt er die Waffe hoch und grinste Dr. Campos höhnisch an.
„An den hatten Sie natürlich nicht gedacht, oder?“
Der Sergeant drückte den zitternden Mann in einen Stuhl. Er hob die Pistole, bis sie auf seinen Brustkorb zeigte, genau auf Dr. Campos pochendes Herz. Oliver begriff, dass der Sergeant ihn erschießen wollte. Er griff nach seinem Arm:
„Warte. Noch haben wir das Geld nicht.“
Seine Sorge war berechtigt. Der Tresor barg fast nur Aktien und ein paar Brieftaschen, ein Schmucketui und eine Geldkasse. In ihr lag zwar Bargeld, Escudos in einem Gesamtwert von etwa 5000 Dollar, aber das war weit unter der erwarteten Summe.
„Wo ist der Rest?“, fragte Oliver.
„Das ist alles“, antwortete Dr. Campos. „Warum sollte es noch mehr geben?“
Die Soldaten sahen einander an. Sie hatten nicht mehr viel Zeit und der Major hatte nichts von mehreren Verstecken gesagt. Alle drei hatten sie Erfahrung damit, Informationen aus Feinden zu bekommen, aber die Zeit ließ keine raffinierten Foltermethoden zu.
Oliver ging zur Toilette und holte ein Handtuch, während die beiden anderen den Bediensteten am Stuhl festbanden. Oliver drückte das Handtuch grob in den Schlund des verschreckten Mannes. Er zog seine schwere Armeepistole, die mit einem Schalldämpfer versehen war, und lud durch. Die Augen des Mannes weiteten sich und er versuchte, etwas zu sagen. Aber durch das Handtuch drang nur ein leises Wiehern.
Oliver setzte die Pistole auf Dr. Campus Kniescheibe und drückte ab. Die Knieschiebe wurde vollständig zerstört und das Schlafanzugbein wurde von Blut durchtränkt. Der Mann versuchte zu schreien, aber der Stoff im Mund hinderte ihn daran. Oliver schlug ihn mit der offenen Hand ins Gesicht. Endlich beruhigte er sich. Als er nur noch leise wimmerte, entfernte Oliver ihm das Handtuch. Er griff dem Mann in die Haare und drückte seinen Kopf gegen die Stuhllehne.
„Hinterm Schrank“, stöhnte Dr. Campos fast unhörbar. Oliver bemerkte, dass er vom Schock zitterte. Der Mann war kurz davor, sein Bewusstsein zu verlieren.
Der Sergeant und der Fähnrich halfen dabei, den großen Archivschrank von der Wand abzurücken. Auf der Rückseite war eine flache Dose festgeschraubt. Sie hatte kein Schloss. Als der Fähnrich den Deckel abnahm, regneten amerikanische Dollarnoten und englische Pfund in Bündeln auf den Boden.
Im selben Augenblick schoss Oliver eine Kugel durch Dr. Campos‘ Kopf. Er tat es fast aus Reflex und war selbst vom blutigen Ergebnis überrascht.
Irgendwo im Haus hörten sie einen Mann rufen. Dann hörte man schnelle Schritte die Treppe hocheilen. Die Tür glitt auf und der einzige Diener im Haus, ein junger Schwarzer, betrat das Zimmer. Er blieb ziellos stehen und starrte verwirrt auf seinen toten Arbeitgeber. Er sah Oliver und den Sergeant, die daneben standen, aber nicht den Fähnrich, ehe der ihm die Klaviersaite über den Kopf geworfen und ihn erdrosselt hatte.
Major de Macedo wartete nicht im Auto. Der Jeep war leer, als sie zurückkamen. Sobald sie sich ins Auto setzten, fiel der erste Schuss. Der Fähnrich wurde sofort getroffen und fiel in sich zusammen. Der Sergeant riss ihn vom Steuer weg, kletterte über den Körper und setzte sich auf den Fahrersitz. Er spürte ein Stechen in der Seite und fluchte auf Deutsch, bekam aber den Motor an. Mit kreischenden Rädern fuhr er vom Maschinengewehrfeuer weg, das dröhnend in die Panzerung einschlug. Oliver duckte sich auf der Rückbank. Während das Auto immer schneller davonfuhr, feuerte er ein paar zufällige Schüsse auf die Soldaten ab, die hinter ihnen herliefen.
Sie begriffen, dass der Major sie reingelegt hatte. Oliver war überzeugt, dass de Macedo selbst die Einheit leitete, die sie überfallen hatte. Natürlich wollte er ans Geld, das jetzt in einer Tasche auf dem Jeepboden lag.
Oliver und der Sergeant hatten einen kleinen Vorsprung. Die Militärpolizei hatte niemals damit gerechnet, dass sie den Überfall überleben würden. Die Polizisten verloren wertvolle Zeit, als sie zu ihren Fahrzeugen zurücklaufen mussten. Ehe sie die Jagd aufnehmen konnten, war der Jeep bereits zur Hauptstraße gelangt, die aus der Stadt in Richtung Savanne führte.
Es war unmöglich, zur Militärbasis zurückzukehren. Sie fuhren in die entgegengesetzte Richtung. Wenn sie es aus der Stadt herausschafften, bestand die Chance, sich verstecken zu können.
Die Straßenbeleuchtung hörte auf und die afrikanische Nacht umschloss sie mit einer kompakten Dunkelheit. Zu dieser Zeit war kaum Verkehr und Oliver spähte nach hinten. Er rechnete in jedem Augenblick damit, dass die Scheinwerfer der Verfolger aufleuchteten.
Der Sergeant war von einer Kugel in die Seite getroffen worden und blutete stark, aber das Adrenalin hielt ihn aufrecht. Mit zusammengebissenen Zähnen fuhr er das Auto so schnell er konnte. Aber je mehr die Spannung nachließ, desto schneller verließen ihn die Kräfte.
„Du musst übernehmen“, sagte er zu Oliver.
Er fuhr langsamer und steuerte an den Seitenstreifen, aber ehe er das Auto anhalten konnte, verlor er das Bewusstsein und es kam von der Straße ab. Der Jeep fuhr in einen Graben und überschlug sich.
Nachdem er im Auto herumgeworfen worden war, hatte Oliver nur ein paar Schrammen und Schmerzen im linken Bein. Als er herauskroch, konnte er nur noch feststellen, dass seine beiden Kameraden tot waren. Der Sergeant war nicht an seiner Schusswunde, sondern am Genickbruch durch den Unfall gestorben. Oliver nahm die Tasche mit dem Geld vom Rücksitz und roch Benzin. Der Tank war beschädigt und Benzin rann ins Gras.
Oliver spähte in die Dunkelheit und sah in der Ferne sich nähernde Scheinwerfer. Fast automatisch suchte er in der Hosentasche nach Streichhölzern. Er holte die Schachtel hervor und trat ein paar Schritte vom Auto weg. Dann zündete er ein Streichholz an und warf es ins Autowrack. Das Feuer flammte sofort auf und er rannte zu einem Wäldchen. Als er den ersten Baum erreichte, explodierte das Auto hinter ihm und er spürte die heiße Druckwelle am ganzen Körper.
Er blieb stehen und sah sich um. Das Auto stand komplett in Flammen. Brennende Teile fielen auf das umgebende Gras, das sich ebenfalls entzünden würde. Die näherkommenden Autos auf der Straße waren noch einen Kilometer weit weg, aber es bestand kein Zweifel, dass sie die Explosion gesehen haben mussten.
Mit der Tasche, in der sich 43000 Dollar befanden, verschwand Oliver in der Dunkelheit.
Als die Militärpolizei am Unglücksort ankam, nahm Major de Macedo an, dass alle drei in den Flammen umgekommen waren und dass das Geld mit ihnen verbrannt war. Resigniert kehrte er nach Hause zurück. Aber am nächsten Tag erfuhr er, dass man nur zwei zerfetzte, verkohlte Leichen in den Autoresten gefunden hatte. Sofort vermutete er, dass der dritte Mann mit dem Geld verschwunden war. Er wusste nur nicht, welcher es war. Die Identifizierung der Leichen war schwierig und unsicher, aber schließlich sah es so aus, als ob Oliver Bendini fehlte.
Doch es kam nie zu einer Suchmeldung: Einen Tag später bekam de Macedo die Mitteilung, dass ein uniformierter Weißer etwa einen Kilometer vom Unfallort tot aufgefunden worden war. Die Leiche war von wilden Tieren zerfetzt worden, aber das Aussehen stimmte mit Bendinis Kennzeichen überein und seine Papiere steckten in der Uniformtasche. Geld wurde jedoch nicht gefunden.
Major de Macedo ließ die Leiche zur Kaserne bringen und auf dem dortigen Soldatenfriedhof beerdigen. Oliver Bendini wurde aus den Solddateien entfernt und man teilte den kanadischen Behörden mit, dass er bei einem Autounfall gestorben war.
Zwei Wochen später checkte er in einem Hotel in Tanger ein. Er trug sich als Ray Lambert ein, dessen Identität er übernommen hatte und mit dessen Pass er sich auswies.
Oliver hatte den jungen Büroangestellten acht Monate zuvor in einer Hafenkneipe kennengelernt. Die beiden Männer hatten sich zufällig getroffen und bemerkt, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten.
Als Oliver das erste Mal in der Kneipe war, hatte der Bartender ihn für den anderen gehalten und ihn Ray genannt. Als der echte Ray Lambert kurz darauf durch die Tür trat, klärte sich das Missverständnis auf und Ray lud Oliver auf ein Getränk ein. Sie lachten über die Verwechslung und stellten fest, dass sie sich tatsächlich ziemlich ähnlich sahen.
Es gab noch mehr Gemeinsamkeiten. Sie waren etwa gleich alt und genau wie Oliver hatte Ray keine Angehörigen. Er war Engländer, obwohl er in Afrika geboren worden war und den Kontinent nie verlassen hatte. Aber sein Vater war Engländer und war als junger Mann in die Kolonien gereist, um dort als Bediensteter Karriere zu machen – was gut funktionieren konnte, wenn man die richtigen Kontakte hatte und nicht aus der falschen sozialen Klasse kam. Sein Vater hatte eine Portugiesin geheiratet und war auf dem schwarzen Kontinent geblieben und hatte fast dreißig Jahre in der tropischen Hitze verbracht, wobei er ständig davon träumte, eines Tages mit der Familie ins kalte und regnerische Yorkshire zurückzukehren und sich dort ein Haus mit Garten zu kaufen. Aber die Mutter war an Malaria gestorben und sein Vater war in eine Straßenbaustelle gerast, ohne sein Heimatland je wiedergesehen zu haben.
Ray war ihr einziger Sohn und war nach Angola gezogen, um als Büroangestellter bei einer englischen Handelsfirma in Luanda zu arbeiten. Wegen der angespannten politischen Lage würde die Firma, in der er fünf Jahre gearbeitet hatte, nun ihr Büro in dem Land schließen. Ray dachte darüber nach, endlich die Reise in das Land anzutreten, das er noch nie gesehen hatte, das aber dennoch sein Land war.
Er wohnte ganz in der Nähe der Kneipe im Hafenviertel, wo Oliver ihn getroffen hatte. Sie hatten sich häufiger getroffen, wenn Oliver Ausgang hatte, und Ray hatte ihm die Stadt gezeigt. Manchmal hatten sie ein Bordell besucht, wo man Ray kannte und er eine Art Rabatt bekam. Aber man konnte nicht sagen, dass sie enge Freunde waren. Beiden fiel es schwer, ins Leben zu finden. Beide waren introvertiert. Auch darin waren sie sich ähnlich.
Zu Ray Lambert flüchtete Oliver nach dem Raub.
Diesen Mord zählte er als seinen ersten. Er hatte schon zuvor viele umgebracht, aber das war im Kampf oder um Rache zu üben. Immer im Zusammenhang mit seinem Dienst. Es waren Schwarze gewesen, mit denen ihn nichts verband. Die einzigen Weißen, die er getötet hatte, waren Dr. Campos und seine Torwache, aber die zählte er auch nicht. Die Morde waren nicht auf die gleiche Weise kalkuliert wie dieser.
Die Geschehnisse hatten ihn zu dem gemacht, der er war. Wie ein Geburtsprozess, dachte er sich. Eine Reinkarnation. Er hatte Oliver Bendini ermordet und war zu Ray Lambert geworden.
Er hatte ihn erschossen und ihm seine Uniform angezogen. In seine Taschen hatte er ihm seinen alten, verschlissenen Führerschein und seinen Ausweis gesteckt.
Ray Lambert hatte einen kleinen Fiat. Mit der Leiche unter einer Decke auf dem Rücksitz war er in der folgenden Nacht zur Unfallstelle zurückgefahren. Anderthalb Kilometer entfernt, in der Nähe einer Farm, hatte er die Leiche in einen Graben geworfen und war zurückgefahren.
Früh am nächsten Morgen verließ er Luanda mit zwei Reisetaschen voller Klamotten, die ihm tatsächlich perfekt passten.
Im Büro von Barnville & Clayton Shipping Co. stellte man fest, dass Ray eine Woche früher aufgehört hatte, als man angenommen hatte. Da die Hälfte des Personals die Firma bereits verlassen hatte, gab es Probleme mit der Inventur, aber sein nächster Chef, Mr Samuelson, kreidete es ihm nicht an. Lambert war jung und alle hatten ihren Teil beigetragen. Hätte er selbst einen besseren Job gefunden oder die Möglichkeit gehabt, früher zu gehen, hätte Mr Samuelson dasselbe getan. Es gab nichts Deprimierenderes, als hinter sich aufräumen zu müssen.
Niemand würde in Angola nach Ray Lambert fragen und niemand wartete irgendwo anders auf ihn.